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Es ist gegen drei Uhr Morgens. Das Wetter hat sich nicht gebessert; noch immer regnet es, und noch immer peitscht der Märzsturm den Regen.
Lena v. Mühlheim, welche keinen Schlaf finden kann, lauscht auf das Toben der Natur, das ihr heute merkwürdig auf die Nerven geht.
Da rollt ein Wagen durch die sonst um diese Zeit so stillen Straßen Hietzings. So rasch fahren nur Herrschaftsequipagen oder die Wiener Fiaker.
Lena nimmt also an, daß die Bewohner irgend einer Nachbarvilla von einer Soiree oder einem Balle heimkehren, und es bietet ihr eine willkommene Zerstreuung, darauf zu achten, welchen Weg wohl der Wagen nehmen wird, der so rasch daher kommt. Da er in ihre Straße eingebogen ist, muß er auch am Hause vorüberkommen, ist es doch das erste, welches auf seinem Wege liegt, denn der untere Teil der Straße wird nur von Gärten gebildet.
Der Wagen hat plötzlich angehalten. Warum fährt er denn nicht weiter?
Lena richtet sich im Bette auf und lauscht angestrengt.
Eine – zwei Minuten vergehen.
Lena erhebt sich, schlüpft in die Hausschuhe und in den weichen, warmen Schlafrock und tritt zum Fenster.
Sie sieht vor dem Gitter einen Wagen stehen. Es ist auch bereits jemand bis zum Tor hergetreten. Er versucht soeben, ob er nicht das Pförtchen öffnen kann, welches sich neben dem großen eisernen Gittertor befindet. Aber das Pförtchen ist gut verschlossen. Dem nächtlichen Besucher bleibt nichts übrig, als zu läuten, wenn er in die Villa kommen will. Er drückt denn auch auf den neben dem Pförtchen angebrachten Taster.
Ganz sachte hat er es getan. Er will also, daß nicht jeder im Hause ihn höre, und weiß augenscheinlich nicht, daß das Läutewerk in der Dienerstube angebracht ist, und daß das elektrische Klingeln also so wie so nur dort deutlich vernehmbar ist.
Lena strengt ihre Augen an. Sie möchte den Mann erkennen, der da in einem Fiaker kam und der zu so ungewöhnlicher Stunde ins Haus will. Die Dunkelheit ist jedoch noch zu dicht, die Augen der jungen Dame können sie nicht durchdringen.
Die Nacht an und für sich wirkt schon auf nervöse Leute aufregend, das hat Lena ganz besonders deutlich in eben dieser Nacht an sich erfahren. Jetzt ist ihre Aufregung zur Bangigkeit geworden, zur atembeklemmenden Bangigkeit.
Was kann denn dieser Fremde hier wollen? Ein Fremder ist es, natürlich ist es ein solcher, oder wenigstens ist es einer, der nicht ins Haus gehört. Was aber hat ein Fremder zu solcher Stunde zu melden – zu bringen? Natürlich nur eine schlechte Nachricht. Zu solcher Zeit bringt man nur schlechte Nachrichten.
Was also ist geschehen?
Das fragt sich das junge Mädchen, und sie denkt dabei – es ist so natürlich – an ihren Verlobten, denkt, wie sie es eigentlich schon den ganzen Abend und die ganze Nacht getan hat, daran, wie verstimmt er gewesen, wie viele Mühe er sich hatte geben müssen, um wenigstens allen anderen gegenüber das Frohgefühl herauszukehren, das ihn heute naturgemäß hätte erfüllen müssen, und das ja auch tatsächlich in ihm war, das aber von irgend einem peinlichen Eindruck getrübt wurde.
Lenas Beklommenheit war zur quälenden Angst geworden. Sie starrte, die kalten Hände auf ihr laut pochendes Herz gepreßt, noch immer auf den Mann hinunter.
Er war jetzt nicht mehr allein.
Wilhelm, der jüngere der beiden Hausdiener, stand jetzt innerhalb des Gitters und redete mit ihm.
Lena sah noch, wie Wilhelm das Pförtchen öffnete und den Fremden einließ, dann mußte sie sich setzen, denn ihre Kniee zitterten. Ihr war, als sei das Unglück ins Hans gekommen.
Nach einer kleinen Weile verließ sie ihr Schlafzimmer und schlich sich in den Wintergarten hinab. Sie konnte annehmen, daß Wilhelm den nächtlichen Besucher in den kleinen Salon führen werde, der an den Wintergarten stieß.
Ihre Annahme war richtig. Eben hatte sie die Tür, durch welche sie eingetreten war, hinter sich zugezogen, als draußen eine Flamme des Gaslüsters entzündet wurde.
»Bitte, warten Sie hier. Ich werde den Herrn Kommerzienrat wecken,« sagte der Diener und verließ den Salon.
Lena hatte vorgehabt, mit dem Fremden zu reden, sie besaß jetzt aber weder den Mut noch die Kraft dazu. Hinter einer Palmengruppe auf ein Sofa sinkend, starrte sie mit ängstlichen Augen auf den Herrn, der langsam da draußen hin und her ging. Er trug eine Uniform. Er war ein Polizeibeamter.
Der Kommerzienrat war eingetreten. Er sah noch verschlafen und auch ein wenig aufgeregt aus.
»Womit kann ich dienen?« war seine hastige Frage.
Der andere grüßte stumm und dem Herrn des Hauses einen Stuhl zurechtschiebend und sich selber setzend, antwortete er: »Mit einer Auskunft, Herr Kommerzienrat. Ich bin der Polizeikommissar Greiner. Ich komme aus meinem Amtsbezirk Döbling, fast direkt aus der Wohnung Doktor Königs, Ihres künftigen Schwiegersohnes.«
»Was!« Herr v. Mühlheim war jetzt nicht mehr schläfrig.
»Erschrecken Sie nicht vorzeitig, Herr Kommerzienrat,« beruhigte ihn der Beamte.
»Also – was ist's mit König?«
»Es wurde in seine Wohnung eingebrochen –«
»Und er – er wurde dabei –« Mühlheim stockte.
»Er ist also Ihrer Meinung nach zu Hause gewesen?« fragte der Kommissär, merklich ernster werdend.
»Das fragen Sie mich?« Mühlheim holte erleichtert Atem. »Also ist ihm nichts geschehen? Nun ja, er ist gegen elf Uhr von hier weggefahren.«
»Und konnte somit vor zwölf Uhr in seiner Wohnung sein. Dann stimmt ja alles.«
»Was stimmt? Weiß man, daß gerade um zwölf Uhr bei ihm eingebrochen wurde?«
»Das muß man annehmen.«
Mühlheim atmete erleichtert auf. »Da kann er noch nicht zu Hause gewesen sein, denn er ist von hier aus nach seiner Redaktion gefahren.«
»Ah! Sie wissen das bestimmt?«
»Bestimmt! Er sagte wenigstens, daß er es tun werde.«
»Scheint es aber doch nicht getan zu haben,« sagte der andere langsam.
»Woraus schließen Sie das?«
»Bald nach zwölf Uhr wurde die Rettungsgesellschaft von ihm angerufen, und zwar von seiner Wohnung aus.«
»Die Rettungsgesellschaft –« wiederholte, die Fassung verlierend, der Kommerzienrat. »Weshalb denn?«
»Er telephonierte wörtlich: ›Einbrecher, angefallen, verwundet, schnell –‹ Der Krankenwagen und ich mit meinen Leuten trafen, es war keine halbe Stunde später, in Königs Wohnung ein, finden unzweifelhafte Beweise eines Einbruchs und ein blutiges Schallrohr beim Telephon – aber König fanden wir nicht. – Aber was war das?« Mit dieser Frage unterbrach der Beamte seine rasche Schilderung und stand auf.
Im Nebenraum war irgend ein Gegenstand zu Boden gefallen und zerbrochen.
Auch Herr v. Mühlheim hatte sich erhoben. Mit zitternden Händen langte er nach einem der Leuchter, die auf dem Kaminsimse standen
Greiner aber mußte die Kerze anzünden, und er war der erste, welcher die halb offenstehende Glastür des Wintergartens aufstieß und den weiten Raum betrat.
Hinter einer Palmengruppe neben einem zersplitterten Blumentopf schimmerte etwas Weißes.
Eine Minute später hielt Herr v. Mühlheim die ohnmächtige Lena im Arm.
»Meine Tochter, Königs Braut –« sagte er mit bleichen Lippen.
Nachdem man das unglückliche Mädchen in ihr Zimmer gebracht hatte, wo ihre Schwester und die treue Lisi, selber ganz verstört von der nun auch ihnen vermittelten Nachricht, sich liebevoll um sie bemühten, wurde Wilhelm zur nahen Polizeistation gesandt, von der aus man telephonisch bei der Redaktion anfragte, ob Doktor König in dieser Nacht nach elf Uhr dort gewesen sei.
Der Nachtredakteur beantwortete diese Frage mit Nein. Doktor König sei nur am Morgen des vergangenen Tages auf einige Minuten in der Redaktion erschienen, habe versprochen, das Manuskript des Artikels, welcher sich auf die heute stattgehabte Eröffnung der Kunstausstellung beziehe, rechtzeitig abzuliefern, habe aber sein Versprechen nicht gehalten; man wisse nichts von ihm und sei dieser, seiner ersten Unpünktlichkeit halber dem Publikum gegenüber in großer Verlegenheit.
Nachdem sich diese, vom Polizeiamt Hietzing schriftlich wiedergegebene Erklärung in Greiners Händen befand, blieb kein Zweifel mehr übrig, daß König einem Verbrechen zum Opfer gefallen war – einem Verbrechen, dessen Phasen ziemlich klar vor den geistigen Augen derer lagen, die von dem Falle überhaupt Kenntnis hatten, und wobei nur das spurlose Verschwinden Königs rätselhaft blieb.
Die häßliche Morgendämmerung war einem lichtarmen Tage gewichen.
In der Villa Mühlheim herrschte eine peinvolle Stimmung. Die Dienerschaft tuschelte miteinander, Lisi, ganz verweint, huschte, bald dies, bald jenes für ihre bedauernswerte junge Herrin besorgend, durch das sonst so trauliche Haus. Sogar Erich Mühlheim war ganz verstört und drückte sich, das Herz voll Mitleid, in der Nähe von Lenas Schlafzimmer herum, indem er sich, wenn Edwine oder Lisi zum Vorschein kamen, zu allen möglichen Diensten anbot. Ach! Man konnte ihn zu nichts brauchen, zu nichts anderem wenigstens, als dazu, auch mit zu leiden.
Aber als Edwine es ihm endlich erlaubte, Lena zu sehen, hatte das doch sein Gutes. Die Arme konnte, seit sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war, keine Ruhe finden. Wiewohl sie, in der jeder Nerv fieberte, so schwach war, daß sie sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte, irrte sie doch unaufhörlich durch das Zimmer, ergriff ganz zwecklos bald diesen, bald jenen Gegenstand, um ihn, wohl auch ohne Bewußtsein ihres Tuns, wieder hinzulegen, starrte mit unnatürlich glänzenden Augen vor sich hin und wurde wiederholt vom Fieber geschüttelt.
So fand Erich die, welche sonst die Verkörperung schönsten seelischen Ebenmaßes war. Eine Weile stand der ganz erschütterte Bursche still an der Tür; er wagte angesichts solchen Leides kaum zu atmen und preßte sich, um nicht laut aufschreien zu müssen, die Nägel ins Fleisch; endlich aber hielt er nimmer an sich, eilte auf Lena zu, umschlang sie und fing bitterlich zu weinen an.
Da war es, als ob sie aus ihrer peinvollen Betäubung erwache, als ob es ihr erst jetzt ganz klar werde, was da geschehen war. Erich sanft von sich schiebend, schaute sie eine Weile auf sein tränenüberströmtes junges Gesicht, und dann füllten sich auch ihre Augen mit Tränen. Und als Erich laut aufschrie: »O, könnte ich dir helfen, meine liebe, liebe Schwester!« da legte sie ihre Arme auf seine Schultern und weinte laut und bitterlich.
»Gott sei Dank!« sagte Lisi, die mit Edwine Zeugin dieser schmerzlichen Szene war.
Bald danach traf der von Erichs Lehrer geholte Hausarzt ein. Als er wieder ging, ließ er die Beruhigung zurück, daß der furchtbare Schrecken, in welchen das zarte Mädchen versetzt worden war, höchst wahrscheinlich keine ernsteren Folgen für ihre körperliche Gesundheit haben werde, riet jedoch ernstlich zu einem sofort vorzunehmenden Ortswechsel.
Herr v. Mühlheim trat in das Bureau des ihm befreundeten Chefs des Sicherheitsinstituts. Derselbe, Herr v. Eichen hieß er, sah wie so ein urgemütlicher, gesetzter Wiener Bürger aus. Er war jedoch von altem Adel und ein hochgebildeter Mann. Äußerlich jedoch merkte man, wie gesagt, nichts davon, daß Herr v. Eichen fraglos hoffähig war. In gewissen Kreisen kannte man ihn als urfideles Haus, während die Angehörigen anderer Kreise alle Ursache hatten, seine amtlichen Eigenschaften vollauf zu würdigen, und wieder andere Kreise Grund besaßen, seinen Scharfblick zu fürchten. Herr v. Eichen wurde deshalb einerseits ebensosehr gefürchtet und gehaßt, als er anderseits geliebt und geachtet wurde.
Er war indessen keineswegs ein Feind der Verbrecher – er war nur ein Feind der Gemeinheit, der Niederträchtigkeit. Wer ein Vergehen oder gar ein Verbrechen begangen hat, der muß ja nicht immer gemein und niederträchtig sein.
Aus eben demselben Grunde war Herr v. Eichen auch keineswegs immer ein Freund derer, welche sozusagen unbescholten dahin leben, denn sein langes und inhaltreiches Dasein hatte ihm nur zu oft den Beweis erbracht, daß in einem noch so unbescholtenen Leben zuweilen recht viel Gemeinheit Platz findet.
Daß er jedoch ein Freund aller war, die sich in Not befanden, und daß sein Herz tiefer Teilnahme fähig sei, bewies er in dieser Stunde wieder.
Als Mühlheim so sichtlich schwer bekümmert bei ihm eintrat, eilte er ihm rasch entgegen und rief, ihm beide Hände reichend: »Was ist denn geschehen, das Sie in dieser Verfassung und in dieser frühen Stunde zu mir treibt? Du lieber Gott! Sie sehen ja ganz elend aus!«
Er hatte seinen wirklich recht übel aussehenden Besucher schon in den tiefen Lehnstuhl gedrückt, welcher neben seinem Schreibtisch stand, und schaute nun, selber recht bekümmert, auf Herrn v. Mühlheim nieder.
Etliche Minuten später wußte er, um was es sich handle. Auch er kannte und schätzte König, und deshalb ging ihm dieser Fall nach zwei Richtungen hin nahe. Er griff nach den Einläufen, welche im Laufe der verflossenen Nacht von den Kommissariaten der verschiedenen Bezirke an das Sicherheitsamt geleitet worden waren, die man ihm, wie allmorgendlich, auf den Tisch gelegt hatte, und welche er nur deshalb noch nicht durchgesehen hatte, weil er knapp vor Mühlheim erst ins Bureau gekommen war.
Er fand sehr bald die Anzeige des Döblinger Kommissariates, las sie dem Kommerzienrat vor und schellte alsdann.
»Herr Kommissär Mohr!« rief er dem eintretenden Diener zu.
Zwei Minuten später trat der Gerufene ein. Herr v. Eichen stellte die Herren einander vor und ließ sich alsdann von dem Kommissär über dessen amtliche Ausfahrt nach Döbling berichten. Es war nämlich auch schon eine Kommission seitens des Sicherheitsamtes an dem Tatort gewesen.
Kommissär Mohr konnte aber nichts Neues berichten.
Als er gegangen war, wischte Mühlheim sich die feucht gewordene Stirn und sagte: »Natürlich stelle ich der Behörde jede beliebige Summe zur Verfügung.«
Herr v. Eichen nickte. »Gut, gut. Können wir vielleicht brauchen,« sagte er, sich gleich seinem Besucher erhebend. »Natürlich werden wir auch uns selber nicht schonen. Falls sich dieses seltsame Verschwinden Königs nicht heute noch aufklären sollte, werden wir vermutlich unsere tüchtigsten Detektivs brauchen – und einen« es zuckte dabei in des alten Herrn Augen auf – »einen habe ich bereits. Jetzt aber sagen Sie mir noch: weiß Fräulein Lena schon von dieser Sache?«
Der Kommerzienrat seufzte schwer. »Sie hat den Bericht des Kommissärs mit angehört.«
»O! – Und –«
»Und wir fanden sie wie tot im Nebenraume, wo sie gelauscht hatte. Als sie wieder zum Bewußtsein kam, war ihr Zustand noch fürchterlicher. Sie gebärdete sich wie eine Irre. Sie hat ihn sehr geliebt. Ich fürchte alles Schreckliche für mein Kind. O, ich habe Unglück mit meinen Töchtern –«
»Ja, ja, auch mit Edwine – sie sieht nicht gut aus. Ich habe sie letzthin bei Thurmanns getroffen.« In Herrn v. Eichens Gesicht zeigte sich eine gewisse Spannung bei diesen Worten, und merkwürdigerweise hatte es in seinen Augen dabei wieder aufgeblitzt. Jetzt aber glätteten sich seine Züge, und fast nur so nebenher fragte er weiter: »Die Arme kann wohl diesen Gröden noch immer nicht vergessen?«
»Natürlich nicht. Wenn sich so ein Weiberherz einmal etwas einbildet –« Der Kommerzienrat lachte grimmig auf.
Herr v. Eichen lächelte auch. Es war ein liebes, weiches Lächeln, und seine noch immer schönen Augen lächelten mit, während er sagte: »Na, wissen Sie, lieber Mühlheim, den Gröden kenn' ich auch und kann's begreifen, daß man den nicht so leicht vergißt. Hätten Sie ihm doch lieber Ihr Haus geöffnet, statt auf die Schilderung Ihrer Schwester hin, die – nichts für ungut – eine verschrobene alte Jungfer ist, seine Vorstellung abzulehnen. Ich bin sicher, der Mann hätte auch Ihr Herz gewonnen, und Sie hätten jetzt wenigstens ein glückliches Kind. – Na, das ist vorbei, und um wieder auf unseren Gegenstand zu kommen – wir wollen diese vielleicht schwierig werdende Untersuchung also einem recht schneidigen Menschen anvertrauen, da ich mir ja denken kann, daß Ihnen sehr viel daran liegt, den Fall recht bald aufgeklärt zu sehen.«
»Es liegt mir ungeheuer viel daran,« fiel Mühlheim dem Beamten in die Rede. »Spüre ich es doch selber, daß diese Unklarheit, wo König ist, und ob er wirklich das Opfer eines Verbrechens geworden, viel schrecklicher ist als selbst die traurigste Gewißheit. Lena muß das noch tausendmal tiefer empfinden. Ich begreife, daß sie dem Wahnsinn nahe ist. Also – bitte, tun Sie, was Sie können, um uns bald Klarheit zu verschaffen.«
Mühlheim preßte fast in seiner Erregung Herrn v. Eichens Hand.
»Fahren Sie jetzt nach Hause?« fragte dieser.
Mühlheim nickte. »Ich könnte den Tatort nicht sehen,« sagte er schaudernd.
»Gut. Bleiben Sie daheim. Ich werde Ihnen Nachricht senden.«
Damit schieden die beiden Männer. Der Kommerzienrat bestieg seine Equipage, Herr v. Eichen aber war damit beschäftigt, den Mann, den er für diesen schwierigen Fall ins Auge gefaßt hatte, in die bis jetzt bekannten Einzelheiten des Döblinger Falles einzuweihen.
Das war sehr bald geschehen, wonach selbiger Mann eiligst nach Döbling fuhr.
Herr v. Eichen aber las den diesbezüglichen Einlauf des Tages noch einmal, und er war trotz alles Abgehärtetseins immerhin ein wenig aufgeregt über den Döblinger Polizeibericht, den er soeben mit seinem Untergebenen durchgenommen, und als er das Aktenstück aus der Hand gelegt hatte, gab er sich eine gute Weile tiefem Nachdenken hin.
Endlich fuhr er sich langsam über die Stirne und tat einen tiefen Atemzug, dann ging er daran, die übrigen vor ihm liegenden Akten zu erledigen, traf Verfügungen und empfing etliche amtliche Besuche. Aber wenn er auch all seinen Verpflichtungen aufs genaueste nachkam, ganz so gemütsruhig wie sonst war er dennoch nicht. Gar oft tat er einen Blick auf die Uhr, und wenn im Vorgemach draußen Schritte laut wurden, wandte sein Gesicht sich unwillkürlich zur Tür.
Der Fall König beschäftigte ihn eben doch am lebhaftesten, und seine Gedanken wanderten gar oft zwischen Döbling und Hietzing hin und her.
Gegen Mittag kam sein Abgesandter zurück. »Nun?« rief er ihm entgegen.
»Die Sach' liegt noch genau so wie heut nacht,« lautete die Antwort des Detektivs. »Übrigens bring' ich ein Nachtragsprotokoll, 's ist aber gar nichts Wichtig's drin.«
Es war so. Frau Winter, Königs Bedienerin, hatte noch einige Angaben über seine Lebensgewohnheiten und über die Besuche, die er zuweilen empfangen hatte, gemacht, sowie auch angegeben, daß er allerlei Kleinigkeiten von seiner Reise mitgebracht hatte, von denen auch einige entwendet worden sein mußten. Die Frau war nämlich, wie schon gesagt, aufgefordert worden, noch einmal und zwar recht genau festzustellen, was etwa von den Effekten Königs noch fehle, und da hatte sie im Beisein des Kommissärs in der ganzen Wohnung des Verschwundenen Nachschau gehalten.
»Und was ist Ihre Meinung bezüglich dieses Falles?« fragte Herr v. Eichen den tatsächlich sehr tüchtigen Polizisten, der schon so manche schwierige Sache mit großer Gewandtheit durchgeführt hatte.
Des Mannes Augen leuchteten auf. Sein kräftiger Leib streckte sich, und tiefaufatmend antwortete er in seinem unverfälschten Wiener Dialekt: »Herr Oberpolizeirat, so was war schon lang net da. Wann i den Fall krieg'n tät'!«
Die helle Hoffnung funkelte aus seinen Augen.
Herr v. Eichen war aufgestanden. Er legte seine Hand auf des Mannes Schulter und sagte freundlich: »Es tut mir leid, lieber Klesing. Aber für diesen Fall hab' ich schon einen anderen bestimmt. Freilich, wenn der die Sache nicht übernimmt, weil – nun weil er anderes zu tun vorzieht, dann können wir ja weiter darüber reden. Vielleicht auch nimmt er Sie als Helfer an. So – und jetzt sagen Sie dem Herr Doktor, der jetzt im Bureau arbeitet, daß ich ihn zu sprechen wünsche.«
Der Detektiv ging. Er konnte seine Verdrossenheit nur schlecht verbergen. Die Möglichkeit, daß einer, dem solch ein Fall überwiesen wurde, etwas anderes zu tun vorziehen könne, schien für ihn offenbar nicht zu existieren.
Als Herr v. Eichen wieder allein war, ließ er sich in seinen Sessel nieder und schaute mit dem weichen Blick eines Menschen vor sich hin, der in eine weite Ferne blickt, in deren Helligkeit er Liebes sieht.
»Wenn sich so ein Weiberherz einmal etwas einbildet,« murmelte er lächelnd. »Ah –! Es ist so schön, so wunderschön, solch ein Weiberherz, das nie mehr von dem läßt, den es lieben muß. Solch ein Herz war auch deines, meine Maria, und solch ein reines, starkes, treues Herz hat auch Edwine. Es ist wahrlich etwas Schönes um ein Herz, das nur einmal lieben kann.«
Das murmelte der alte, in der Liebe also nicht ganz unerfahrene Hagestolz vor sich hin, und als er ganz im stillen weiterdachte, wurde sein Lächeln schalkhaft – merkwürdig schalkhaft, und er nickte ein paarmal so, als ob er von irgend etwas ganz besonders befriedigt sei, vor sich hin.
Der Eintritt des Berufenen unterbrach ihn in seinem Sinnen.
Er nickte dem nach artiger und auch wieder ein wenig vertraulicher Begrüßung Näherkommenden freundlich zu und wies auf den Sessel, den am Morgen Herr v. Mühlheim innegehabt hatte.
»Herr Oberpolizeirat, mir wird ganz feierlich zu Mute. So bin ich also nicht dienstlich hierher berufen worden?« fragte der stattliche junge Mann lächelnd.
Herr v. Eichen antwortete plötzlich ernst geworden: »Lieber Doktor, hören Sie erst zu – – –«
Und der Angeredete, ein sehr hübscher und sichtlich auch feiner Mensch, hörte dem alten Herrn zu und wurde immer aufmerksamer und immer nachdenklicher. Einmal hob er den Kopf jäh empor, und da sah er sehr stolz und abweisend aus, aber der alte Polizeirat und der junge Doktor juris waren keineswegs in Meinungsverschiedenheiten; sie schieden, nachdem sie reichlich eine Stunde lang beisammen gewesen, in recht freundschaftlicher und angeregter Weise voneinander. –
Gegen Mittag wurde Herrn v. Mühlheim der Oberpolizeirat v. Eichen gemeldet.
»Sie kommen selbst?« Mit diesen Worten und einem angstvollen Blick wurde der alte Herr von dem Kommerzienrat empfangen.
»Sie meinen wohl, weil es besonders Wichtiges zu melden gibt – aber da irren Sie. Wir wissen zur Zeit noch gar nichts über den Verbleib Königs. Aber wir werden etwas darüber erfahren, wenn Sie den Helfer annehmen wollen, den ich Ihnen überweisen will.«
So redete Herr v. Eichen und machte es sich in einer Sofaecke bequem.
»Gewiß nehme ich ihn an; aber daß Sie deshalb sich selbst hierher bemüht haben –«
Herr v. Mühlheim hielt zerstreut inne. Ein Wagen war vorgefahren, und das Gittertor wurde soeben geöffnet. Der Kommerzienrat seufzte schmerzlich.
Herr v. Eichen fragte teilnehmend, was es denn wieder Schmerzliches gäbe, und erfuhr, daß der soeben zurückkehrende Wagen seine beiden Töchter und Erich zur Bahn gebracht habe, weil der Hausarzt dazu geraten hatte, Lena für eine Weile wenigstens zu entfernen.
»Wohin haben Sie denn das arme Kind geschickt?« fragte Mühlheims Besucher.
»Zu meiner Schwester.«
»Nach Baden?«
»Nach Baden.«
»Und Fräulein Edwine ist mitgefahren?«
»Natürlich. Ich schickte auch Erich und seinen Erzieher mit. Lena wird es übrigens draußen nicht lange aushalten. Diese Unruhe, diese Aufregung, die nicht einmal ein sicheres Ziel haben – die lassen sie nirgends Ruhe finden, die können sie um den Verstand bringen.«
»Begreiflich,« meinte ehrlich und mitfühlend Herr v. Eichen, »und deshalb, lieber Mühlheim, muß man ihr wenigstens zur Gewißheit verhelfen und – wäre es die traurigste.«
»König kann ja noch immer leben,« sagte Mühlheim nervös.
»Eines ist sicher: es hat noch niemand seine Leiche gesehen.«
Der Kommerzienrat sank wieder in sich zusammen, sein Besucher aber fuhr – immer gleichmäßig ruhig redend – fort: »Finden wird man König ja schließlich doch – und der, dem das meiner Überzeugung nach am schnellsten gelingen wird, den sollen Sie heute noch sehen.«
»Wo?«
»Hier.«
»Sie werden ihn hierher schicken?«
»Natürlich. Von wo soll er denn bei seinen Nachforschungen ausgehen als von hier, wo König – so weit wir bis jetzt darüber unterrichtet sind – zum letzten Male gesehen worden ist!«
»Richtig! Also – bitte, schicken Sie ihn so bald wie möglich.«
»Er wird sogar hier wohnen müssen.«
»Hier wohnen? – Ja – ja, auch das, da Sie es für notwendig halten.«
»Als was soll er denn in Ihrem Hause eingeführt werden?«
»Eingeführt? Vorgestellt meinen Sie wohl?« Mühlheim schaute verwundert auf. Er war aber nicht nur verwundert, er war auch merkbar verstimmt. Es paßte ihm offenbar nicht, einen Polizeiagenten im Hause zu haben.
Herr v. Eichen beachtete diese Mißstimmung nicht.
»Natürlich muß er hier verkehren,« sagte er gelassen, »und zwar muß er als Ihr Gast, als Ihr intimer Gast hier weilen können, denn nur als solcher kann er sich hier vollständig frei bewegen, nur als solcher kann er unbeobachtet und ungehindert die Spur aufsuchen, die – ich wiederhole es – ja doch von hier aus verloren gegangen ist.«
»Wird es nicht recht unwahrscheinlich sein, daß ich gerade jetzt einen Gast in mein Haus aufnehme?« fragte verdrießlich Herr v. Mühlheim.
Sein Besucher zuckte die Achseln. »Nicht die Spur. Sie geben den jungen Mann, der sehr gute Manieren hat, als den Sohn eines Ihrer Jugendfreunde aus, der weit her kommt und, in Wien völlig fremd, auf Ihre Gastfreundschaft angewiesen ist. Mein Mann wird den nötigen Takt haben, diese Rolle nicht zu mißbrauchen, und das nötige Geschick, sie durchzuführen.«
»Aber – wo nehme ich nur gleich einen Jugendfreund her? Es lebt ja keiner mehr, und keiner hatte einen Sohn.«
»Um so besser. So können keine theatralischen Mißverständnisse entstehen. Der Mann, den ich Ihnen sende, ist einer der fähigsten Köpfe, die ich kenne, verbindet mit feinen Manieren bezüglich dieses Falles auch noch den Vorzug, der französischen Sprache vollkommen mächtig zu sein. Lassen Sie ihn also als Franzosen gelten, sagen wir als Monsieur Durand, der aus Nancy kommt, und dessen Vater, ein wohlhabender Seidenhändler, einst mit Ihnen befreundet gewesen ist.«
»Gut, gut – also Herr Durand aus Nancy, und sein Vater war Seidenhändler. Das kann man sich ja merken.«
»Sagen wir Eugen Durand.«
»Also Eugen Durand aus Nancy. Na – mag er also kommen.« Der Kommerzienrat lehnte sich, merkbar sehr ermüdet ob all der gehabten Aufregungen, in seinen Sessel zurück.
Herrn v. Eichen hatte der ein wenig hochmütige Ton, in welchem Mühlheim zuletzt geredet hatte, nicht gefallen. Er erhob sich ein bißchen steif und langte nach seinem Hut.
Der Herr des Hauses seufzte: »Sie gehen schon? Natürlich. Wer wird auch unnötig lang in einem Hanse bleiben, darin das Unglück eingekehrt ist?«
»Keine unnötige Bitterkeit, lieber Mühlheim,« entgegnete der Oberpolizeirat kühl und setzte ebenso kühl hinzu: »Auch mache ich Sie darauf aufmerksam, daß dieser Eugen Durand keiner unserer Agenten ist. Er ist ein angesehener Kriminalist. Ich sage das nur, damit Sie, lieber Freund, Ihr Benehmen danach einrichten.«
Einige Minuten später bestieg Herr v. Eichen wieder seinen Wagen. Er schmunzelte dabei.
Es war gegen drei Uhr, als er die Villa Mühlheim verließ.
Eine Stunde später fuhr daselbst ein Fiaker vor. Es entstieg ihm ein etwa vierunddreißigjähriger eleganter Herr, der, als Wilhelm zum Pförtchen kam, nach Herrn v. Mühlheim fragte und diesem seine Karte schickte.
Der Kommerzienrat war allein, als der Diener ihm die Karte überreichte.
»Eugen Durand – Nancy,« stand da gedruckt, und darunter war mit Bleistift geschrieben: »Georg Durands Sohn.«
Mühlheim hatte sich rasch von seinem Sitze erhoben.
Er sah verdrießlich und neugierig zugleich aus. Er war auch tatsächlich beides. »Der Sohn meines Jugendfreundes,« brummte er, noch immer auf das Kärtchen blickend, »und gerade heute muß er kommen! – Führen Sie den Herrn zu mir,« fuhr er dann, zu Wilhelm gewendet, fort.
Eine Minute später verneigte sich der sehr stattliche junge Mann, der soeben vor die Villa gefahren war, artig, jedoch nicht ein bißchen unterwürfig, vor dem Herrn des Hauses, der ihn mit scharfem Blick maß.
Aber zusehends ward dieser Blick milder, und als Eugen Durand aus Nancy die Tür hinter sich ins Schloß gedrückt hatte und, seine blitzenden blauen Augen mit ernstem Ausdruck auf Mühlheim richtend, mit einer auffallend angenehmen Stimme und voller Ruhe sagte: »Herr Kommerzienrat – ich stelle mich Ihnen hiermit zur Verfügung,« da ging Mühlheim ihm rasch entgegen und streckte ihm die Hand hin.
»Ich heiße Sie,« sagte er warm, »wiewohl unter traurigen Umständen, willkommen, Herr –«
»Durand,« vollendete der andere lächelnd. »Durand. Mein wirklicher Name hat ja mit dieser Untersuchungssache nichts zu tun. Eines jedoch ist notwendig, Herr Kommerzienrat: Sie müssen mich Ihren Hausgenossen und Besuchern als irgend etwas vorstellen, und da bemerke ich gleich, daß ich weder als Künstler noch als Geschäftskundiger meinen Mann stellen könnte, denn ich übte niemals irgend eine Kunst in nennenswerter Weise aus, noch habe ich tieferes Verständnis für den Handel.«
»So könnten Sie vielleicht für einen Gymnasialprofessor gelten, welcher krankheitshalber auf Urlaub ist,« meinte Mühlheim. »Da werden Sie in meinem Hause nicht in Verlegenheit kommen, weil die Herren dieser Kategorie zufällig jetzt bei uns nicht verkehren.«
»Gut, ich bin also der Gymnasialprofessor Eugen Durand. Und nun, bitte, lassen Sie mir ein Zimmer anweisen und noch eines: heute nacht werde ich auswärts sein.«
»Darf ich wissen, was Sie vorhaben?«
Durand erhob sich. »Ich will mir nur Königs Wohnung ansehen.«
Auch Mühlheim stand auf. Er drückte auf einen Taster. »In einer halben Stunde dinieren wir,« sagte er, »da werden Sie sogleich einige meiner Hausgenossen kennen lernen.«
Durand verbeugte sich. »Auf eines möchte ich Sie noch aufmerksam machen, Herr Kommerzienrat,« sagte er, »unsere Erfolge fußen häufig auf Kleinigkeiten, auf ganz geringen Kleinigkeiten zuweilen, und ferner haben wir Kriminalisten grundsätzlich zu niemand Vertrauen, aber – wir fordern volles Vertrauen von jenen, die sich an uns wenden.«
»Also fordern Sie, Herr Durand, solches von mir?«
Dem gezwungenen Lächeln Mühlheims antwortete ein recht natürliches, das den Mund seines Besuchers umspielte. »Ja – ich erwarte, daß Sie mir alles sagen, was sich bestimmt oder wahrscheinlich oder auch nur möglicherweise auf das Verschwinden Königs bezieht oder beziehen kann. Und ich bitte Sie, dagegen über alles, was Sie selbst durch mich Diesbezügliches erfahren, zu schweigen – gegen jedermann zu schweigen.«
»Also gut – niemand wird durch mich davon erfahren, selbst nicht meine nächsten Angehörigen.«
»Und nun bitte ich Sie, mir einige Fragen zu beantworten.«
»Fragen Sie.«
»Kennen Sie jemand, der König haßt?«
»Niemand.«
»Bedeutende Menschen haben doch immer Feinde.«
Mühlheim zuckte die Achseln.
»Hatte König irgend eine Leidenschaft, die ihn in Verwicklungen hat bringen können?«
»Mir ist nichts davon bekannt.«
»Er ist, wie verlautet, wohlhabend. Konnte sein Sterben jemand Nutzen bringen?«
»Er hat keine Verwandten.«
»Sie werden die Güte haben, mir Namen und Adresse aller, die an jenem Abend Ihre Gäste waren, zu notieren.«
Mühlheim verneigte sich zustimmend.
»Und Sie werden sich darüber zu orientieren suchen, ob Ihre Hausgenossen nicht etwa einen Fremden oder jemand, der nicht zur Gesellschaft gehörte, zur kritischen Zeit in oder nahe dem Hause bemerkt haben.«
»Ich werde auch das tun.«
»Ihre Fräulein Töchter, Ihr Sohn und sein Erzieher sind nicht daheim,« fuhr Durand nach einer kleinen Pause fort.
»Das wissen Sie auch schon?« unterbrach ihn Mühlheim nervös lächelnd.
Durand nickte und erhob sich. »Da sind wir ziemlich ungeniert, weil ja, wie ich auch weiß, Anna Krause, eines Ihrer Dienstmädchen, knapp vor meiner Ankunft das Haus verlassen hat, und Ihr Gärtner mit seinem Gehilfen nach der hohen Warte gefahren ist, um aus den Rothschildschen Gärten Traubenableger zu holen.«
Mühlheim schüttelte verwundert den Kopf.
»Und da somit nur Wilhelm, Ihre Köchin und das Aushilfsmädchen Lori zu Hause sind –«
»Sie kennen schon alle meine Dienstleute?«
»Ich habe nicht die Ehre,« sagte Durand lächelnd.
»Natürlich – natürlich,« fiel der Kommerzienrat ein wenig verwirrt ein, »aber wer hat Sie über meinen Hausstand so genau unterrichtet?«
»Das Meldeamt. Ich weiß doch schon seit halb ein Uhr, daß ich würde hier zu tun haben, da habe ich mich also ein bißchen über Ihren Hausstand, Herr Kommerzienrat, orientiert.«
»Aber wer sagte Ihnen, daß –«
»Daß Ihr Haus dermalen so still sei und wer die Villa verlassen habe? Ich habe verfügt, daß sie genau beobachtet wird. An der Straßenecke unten hat mir ein Mann Bericht erstattet.«
Mühlheim schüttelte wieder den Kopf. »Das ist mir ein bißchen unheimlich,« sagte er.
»Ich möchte Sie und –« Durand hielt ein, eine leise Röte war über sein Gesicht gehuscht, aber er war schon wieder gefaßt, und nun vollendete er den begonnenen Satz rasch: »Ich möchte Sie ebenso schnell als möglich von allem Unheimlichen befreien, daher meine Maßregeln.«
»Haben Sie deren noch mehrere getroffen?« fragte Mühlheim schwach lächelnd.
»Selbstverständlich – allein es wird Ihnen keine davon lästig fallen. – Jetzt aber möchte ich Sie bitten, mich die Räume sehen zu lassen, in denen König an jenem Abend geweilt hat.«
Mühlheim stand auf. »Meinen Sie, daß er eine Spur zurückgelassen hat?«
Die Frage klang ziemlich spöttisch. Herr Durand war jedoch offenbar nicht empfindlich. Er hob nur ein wenig die Schultern und langte nach seinem Hut. Mühlheim führte ihn durch mehrere Zimmer. Sie weilten nirgends lang, aber Durands scharfes Auge und scharfer Geist hatten dennoch einen klaren Eindruck von den Räumen erhalten.
Jetzt standen die beiden Herren im Wintergarten.
»Hier hat König von seiner Braut Abschied genommen,« sagte Mühlheim und deutete auf eine Fensternische, die von den Wedeln hoher Palmen umgeben war. Er seufzte bei seinen Worten, und auch sein junger Begleiter tat einen tiefen Atemzug.
»Von hier aus also verließ er das Haus?« fragte er dann.
»Von hier aus. Jene Tür führt nach dem Korridor, wohin auch die Tür vom Speisezimmer mündet. Edwine, meine ältere Tochter – aber wozu sage ich Ihnen das, Sie wissen es ja natürlich doch schon längst, daß meine ältere Tochter Edwine heißt.«
»Ich weiß es in der Tat, Herr Kommerzienrat,« gab Durand, ein bißchen merkwürdig lächelnd, zu.
Mühlheim fuhr fort: »Edwine also und ich verabschiedeten uns gerade auf der Schwelle des Speisezimmers von unseren weiblichen Gästen, und auch etliche Herren befanden sich noch im Korridor, da trat König auch heraus. Er tat sehr eilig, und er sah erregt, aber nicht glücklich erregt aus. Er hatte sich schon früher von Edwinen und mir verabschiedet, dennoch wunderte ich mich und auch, wie ich hinterher erfuhr, Edwine wunderte sich darüber, daß König, der doch sonst sehr höflich war, uns nur flüchtig zuwinkend sich mit geradezu unschicklicher Hast zwischen den Damen durchdrängte und forteilte. Wir wußten ja alle, daß sein Beruf ihn zwang, nach seiner Redaktion zu eilen, aber solches Davonlaufen war denn doch nicht notwendig.«
»Lief er vielleicht jemand nach? Ihre Gäste entfernten sich ja, wie ich aus Ihrer Schilderung zu entnehmen habe, ziemlich zu gleicher Zeit.«
»Ja. Es war ein allgemeiner und ein geradezu plötzlicher Aufbruch.«
»Das pflegt sonst bei solchen Gesellschaften nicht der Fall zu sein.«
»Nein. Wenn es irgendwo gemütlich ist, pflegt das allerdings nicht der Fall zu sein. Aber beim Verlobungsfeste meiner armen Lena herrschte zuletzt eine gewisse Spannung.«
»Deren Ursache nicht bekannt und zu beseitigen war?«
»Nein – weder bekannt noch zu beseitigen. Sie lag sozusagen in der Luft. Und es könnte wohl auch heute noch keiner der Teilnehmer des Festes sagen, wer oder was die Quelle dieser wahrscheinlich allen fühlbaren Spannung war. Allen fühlbar – das schließe ich eben aus dem so plötzlichen und, wie gesagt, allgemeinen Aufbruch unserer Gäste. Es war wohl schon der Schatten des Ereignisses, das erst kommen sollte.«
»Erinnern Sie sich denn noch, wer mit König zugleich das Haus verlassen hat?« unterbrach Durand das Sinnen, in welches der Kommerzienrat verfallen zu wollen schien.
Dieser zuckte die Schultern. »Es waren etwa sechs oder sieben Herren, welche sich damals schon auf der Treppe oder im Hausflur unten befanden. Oder vielleicht hatten sie auch schon den Garten erreicht.«
»Nun – jedenfalls wird es festzustellen sein, ob König mit ihnen zugleich das Haus und den Garten verlassen hat,« meinte Durand und trat mit Mühlheim auf den Korridor hinaus.
Sie machten dann den Weg, den König hatte zurücklegen müssen, um das Haustor zu erreichen.
Dreimal wendete sich die Stiege, ehe sie in den ziemlich weiten Flur mündete, der auch jetzt mit hochstämmigen, immergrünen buschigen Sträuchern, die man in Kübel gepflanzt hatte, geziert war.
Durands Augen wanderten durch den ziemlich hellen, reich mit Stuck ornamentierten Raum, in welchen etliche Türen mündeten. Eine derselben befand sich im Hintergrunde des Stiegenhauses. Sie war von den daselbst aufgestellten Pflanzen fast verdeckt. Durand erkundigte sich danach, wohin sie führe, und erfuhr, daß man durch sie in den Garten gelange.
Er trat näher und sah, daß der Schlüssel innen steckte. Sie war abgesperrt.
»Ich möchte auch Ihren Garten sehen,« sagte Durand plötzlich, und schon öffnete er die Tür. Das Licht fiel fast blendend herein. Daraus merkte man erst, daß dieser Teil des Stiegenhauses denn doch ziemlich düster war.
»Ein bißchen Luft nach der langen Reise wird mir gut tun,« sagte Durand laut, denn soeben wurden Tritte vom oberen Gang her vernehmbar. Es mußte Wilhelm sein, der herunterkam. Er brauchte es natürlich nicht zu wissen, daß hier eine Hausinspektion stattfand.
Die beiden Herren traten in den Garten hinaus. Er sah trotz seiner jetzt naturgemäßen Kahlheit ungemein freundlich aus, denn das helle Sonnenlicht lag auf den bleichgrünen Wiesen und den Stämmen der hohen Bäume.
Durands Blicke wanderten sehr angeregt über das schöne Bild. »Das ist ja ein Park,« sagte er, »und zwar ein ganz prächtig angelegter Park.«
»Ja,« bestätigte Herr v. Mühlheim, »mein Garten und mein Haus sind ganz ungewöhnlich gut angelegt; wir fühlen uns denn auch – oder besser gesagt, fühlten uns – bis vor kurzem äußerst behaglich darin, und offen gesagt – auch Ihre Annahme, es könne hier ein Verbrechen geschehen sein, kann mir mein Heim nicht verleiden.«
»Sie können es sich also offenbar gar nicht vorstellen, daß hier in Ihrem Hause eine dunkle Tat begangen werden könnte,« bemerkte Herr Durand lächelnd. Im Weitergehen verdüsterten sich jedoch seine Züge rasch, und hart, ganz hart klang seine Stimme, als er fortfuhr: »Wenn's doch nur ein Plätzchen auf Erden gäbe, wo ein Verbrechen unmöglich wäre! Aber es gibt keines. Wo ein Mensch seinen Fuß hinsetzen kann, wohin eines Menschen Hand reicht, da ist auch ein Verbrechen möglich.«
»Sie sind noch so jung und denken schon so schlecht von den Menschen?«
»Nicht schlechter, als sie es verdienen, und auch wieder nicht so schlecht, als es für Sie, Herr v. Mühlheim, den Anschein haben mag. Meine Erfahrung hat es mich eben gelehrt, daß der Mensch schwach ist gegenüber den Versuchungen und Leidenschaften, gar gegenüber den letzteren; die können ihn im Handumdrehen zum Verbrecher machen, zum bemitleidenswerten Verbrecher – so fühle ich oft, während ich nur wenig Mitleid mit jenen habe, die uns nach langen und berechnet ausgeführten Gemeinheiten in die Hände fallen und die die eigentlichen Bestien der Gesellschaft sind.«
Der Kommerzienrat hatte diesem »Herrn Durand« aufmerksam zugehört, er war auch vollkommen einverstanden mit ihm und äußerte sich diesbezüglich ziemlich lebhaft, während er seinen interessanten Gast durch die schönsten Partien des Gartens führte.
»Die Tür, durch welche wir ins Freie traten, ist wohl immer verschlossen?« fragte Durand mitten in eine Bemerkung des Kommerzienrates hinein.
Dieser entgegnete: »Warum interessiert Sie das?«
»Ich möchte es eben für alle Fälle wissen.«
»Ah, ich verstehe. Sie halten an dem Gedanken fest, daß König hier zum letzten Male gesehen worden ist.«
»Ich halte an nichts fest. Sobald sich mir jedoch etwas Mögliches zeigt, lasse ich es nicht mehr aus den Augen, bis ich das Gewisse vor mir habe.«
Mühlheim war es offenbar peinlich, daß Durand annahm, es könne König in seiner Villa etwas zugestoßen sein. Er schwieg daher verstimmt und schlug, als wolle er die Promenade abkürzen, ein schnelleres Tempo im Gehen ein.
Sie gingen ins Haus zurück und wieder in Mühlheims Zimmer.
Plötzlich blieb dieser stehen.
»Wie Sie nur auf diese Idee kommen können!« sagte er in ironischem Tone. »Hat denn nicht König selber, nachdem er von hier fortgegangen ist, in seiner Wohnung durchs Telephon Hilfe herbeigerufen?«
Durand lächelte. »Wir zwei waren nicht dabei, als in jenes Telephon gesprochen wurde,« entgegnete er. Es war ihm sichtlich angenehm, daß Wilhelm in diesem Augenblick eintrat und an seinen Herrn eine Frage richtete. So war das Gespräch unterbrochen, und da Durand keine Lust hatte, es weiterzuführen, machte er die Bemerkung, daß er seine Toilette noch ein wenig in Ordnung bringen wolle, ehe man zu Tisch gehe.
Mühlheim verstand ihn. »Führen Sie Herrn Durand in das blaue Gastzimmer und stellen Sie sich ihm ganz zur Verfügung,« befahl er Wilhelm, und seine Rolle ausgezeichnet spielend, reichte er Durand beide Hände und sagte lebhaft: »Es tut mir leid, daß der Sohn meines liebsten Freundes in solch trauriger Zeit mein Haus kennen lernt. Trotzdem, lieber Eugen, sind Sie mir willkommen, und ich wünsche, daß Sie sich hier in jeder Weise – –«
»Wie daheim fühlen,« hatte Herr v. Mühlheim vermutlich sagen wollen, aber er sagte es nicht. Sein Blick war auf die Tür gerichtet, die ein wenig hastige, geöffnet worden war.
Auf der Schwelle stand ein hübscher, blonder, mit auffallender Eleganz gekleideter Mann, der sehr aufgeregt aussah.
»Ah, Herr Colmar! Sie – Sie wissen es wohl auch schon?« fragte, dem neuen Besucher entgegengehend, der Herr des Hauses.
»Vor einer halben Stunde las ich es in einem der Abendblätter in meinem Kaffeehause,« antwortete Herr Colmar, Mühlheim die Hand drückend. »Es ist wirklich entsetzlich. Und gestern ging er noch in so angeregter Stimmung von hier weg.« Der junge Herr konnte das ja in der Tat überaus seltsame Ereignis offenbar auch nicht begreifen. »Wie befinden sich denn Ihre armen Damen?« forschte er voll Teilnahme und seufzte tief auf, als Herr v. Mühlheim nur die Achseln zuckte.
Durand hatte sich ein wenig zurückgezogen; er wollte natürlich nicht stören.
»Haben Sie denn schon die Abendblätter gelesen?« fragte Colmar und reichte Herrn v. Mühlheim einen ganzen Pack Zeitungen. »Ich habe Sie im Vorbeigehen da unten gekauft,« bemerkte er, während der Kommerzienrat die Blätter ein wenig nervös entgegennahm, um sie sofort auf seinen Schreibtisch zu legen.
»Später, später will ich sie lesen,« sagte er dabei.
»Neues können sie ja noch nicht gebracht haben. Man weiß ja noch gar nichts.«
Colmar stellte seinen Hut auf den nächsten Sessel und streckte dem Kommerzienrat beide Hände entgegen, während er mit großer Wärme sagte: »Das Entsetzliche hat mich sogleich herausgetrieben. Sie wissen ja, welch innigen Anteil ich an allem nehme, das Sie und Ihre Familie betrifft. Fräulein Ed– Fräulein Lena nimmt natürlich diese traurige Sache sehr schwer?«
Als Colmar unwillkürlich zuerst Edwinens Namen auf die Lippen bekam, statt, wie es naturgemäß gewesen wäre, die weit mehr betroffene Lena zuerst zu nennen, schauten Durands Augen plötzlich sehr scharf auf den jungen Hausfreund der Mühlheimschen Familie.
In diesem Augenblick erinnerte sich der Kommerzienrat seiner gesellschaftlichen Pflicht, und er stellte die beiden Herren einander vor. Es geschah allerdings ein wenig hastig und zerstreut, und hastig und auch wie zerstreut verbeugten sich die Herren voreinander, aber dennoch suchten und fanden sich ihre Blicke für einige Momente, und mindestens aus denen Durands schaute eher Schärfe als Wohlwollen.
Gleich danach folgte Durand dem Diener, der ihn nach dem ihm angewiesenen Zimmer führte.
Etwa eine Viertelstunde später wußten es die anderen Dienstleute des Hauses schon, daß der hübsche brünette Herr wahrscheinlich für längere Zeit Gast im Hause sein werde, und daß Mühlheim befohlen habe, ihm, der seines liebsten Jugendfreundes Sohn sei, in jeder Weise dienlich zu sein. Um eben die Zeit, in welcher Wilhelm für Verbreitung dieser Kunde sorgte, ging Durand aus seinem Zimmer wieder nach dem Arbeitszimmer Herrn v. Mühlheims. Er meinte diesen noch dort zu finden. Allein es befand sich niemand mehr in diesem Raum.
Niemand mehr, nein, aber etwas befand sich darin, das Herrn Durand interessierte, das Paket Abendblätter, welches Colmar mitgebracht hatte.
Daß diese ihn interessierten, bewies Durand dadurch, daß er sie sofort aufmerksam zu durchblättern begann.
Wenn er gemeint haben sollte, daß sie ihm noch unbekannte Einzelheiten über den Fall König enthielten, wäre er enttäuscht worden, denn sie brachten nichts als den kurzen Bericht über alles schon in der letzten Nacht bekannt Gewesene.
Dennoch richtete Durand, als er eine der Zeitungen entfaltet hatte, sich plötzlich jäh auf und dachte dann eine gute Weile über irgend etwas nach. Und ehe er das Gemach verließ, um in das Speisezimmer hinüberzugehen, das, wie Wilhelm ihm gesagt hatte, nur durch einen kleinen Salon von des Kommerzienrats Arbeitszimmer getrennt war, hatte Durand noch in seiner Brieftasche zu tun. –
Die erste Mahlzeit, welche Durand im Hause Mühlheims hielt, war naturgemäß nichts weniger als gemütlich. Es nahmen nur Herren daran teil. Der Kommerzienrat hatte dem Sohne seines Jugendfreundes den Platz an seiner rechten Seite angewiesen. Durand gegenüber saßen Colmar und Braun, der Präzeptor Erichs, welcher noch am Abend aus Baden zurückgekommen war.
Als man den Tisch verließ, erklärte Durand, daß er für die Zeit seines Wiener Aufenthaltes die ihm angebotene Gastfreundschaft annehme und daß er jetzt nach der inneren Stadt fahren wolle, um sein Gepäck aus dem Hotel, in welchem er abgestiegen, zu holen.
Bald danach verließ er die Villa. Als Wilhelm ihm das Gartenpförtchen öffnete, erkundigte Durand sich bei dem Diener, welchen Weg er einschlagen müsse, um zur Pferdebahn zu kommen, und auch danach, wo die nächste Tabaktrafik sei.
Durand fand denn auch beides sehr schnell. Kein Wunder. Er kannte Hietzing längst wie seine Tasche, denn er war zufällig in diesem eleganten Villenviertel geboren worden. –
Es war schon dunkel, als er mittels eines Fiakers und mit seinem Koffer wieder in Hietzing anlangte.
Jetzt erst machte er es sich in seinem hübschen Zimmer bequem. Dann ließ er durch Wilhelm bei Herrn v. Mühlheim anfragen, ob es diesem unangenehm sei, wenn er heute noch ausgehen und erst spät Nachts heimkommen werde.
Nein, das war Herrn v. Mühlheim nicht unangenehm, der war sogar froh, daß Durand seine Gesellschaft nicht beanspruchte.
Die Dienstleute aber, die durch Wilhelm von Durands Absicht erfuhren, tauschten allerlei mißbilligende Bemerkungen darüber aus. Als aber Durand gegen halb neun Uhr das Hans verließ, besänftigten sich die Gemüter der Mühlheimschen dienstbaren Geister wieder, denn – blieb es auch Tatsache, daß er nicht gerade feinfühlig handle – so war es doch auch eine soeben bewiesene Tatsache, daß dieser Herr Durand aus Nancy mit Trinkgeldern sehr freigebig war.