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Zehntes Kapitel.

Durand zog seinen Winterrock an, nahm den Hut und schickte sich an, das Haus zu verlassen. Man hatte ihm sowie auch Colmar ein Zimmer im zweiten Stockwerke angewiesen. Es lag gegen den Garten zu, und auch das Fenster des Korridors, den er jetzt betrat, hatte die Aussicht auf den in der Tat jetzt prächtig aussehenden Park. Durand hielt sich ein wenig bei diesem Fenster auf. Er tat, als ob er in den Garten hinunterschaue, und er sah ja auch wirklich hinab, aber er beachtete die winterliche Schönheit nicht, welche sich da vor ihm hin breitete. Von seinen Sinnen war jetzt nur sein Gehör so recht beschäftigt.

Im unteren Stockwerke redete Edwine mit einer Dienerin. Er hoffte, jene noch sprechen zu können, ehe er ging. Er hatte sie seit dem gestrigen Abendessen nicht mehr gesehen. Ach, Herrn v. Eichens Arrangement hatte ihm bislang noch nicht zu einem ausgiebigen Zusammensein mit der Geliebten verholfen!

Jetzt aber, jetzt neigte sich das da unten geführte Gespräch dem Ende zu. Durand ging schnell die Treppe hinunter. Er summte – die Dienerin, die das auch hörte, fand es recht unpassend – ein Liedchen vor sich hin. Edwine, die wußte, was das zu bedeuten habe, urteilte schon milder darüber. Jedenfalls sandte sie das Mädchen fort und beeilte sich so wenig, wieder in ihr Zimmer zurückzukehren, daß Durand sie noch im Korridor traf.

Sie reichten einander die Hände und sahen so strahlend dabei aus, als ob alles eitel Glück und Sonnenschein wäre.

»Du gehst? Du bleibst nicht bei Tisch?« fragte Edwine.

»Leider muß ich fort. Wo warst du denn? Während ich mit deinem Vater sprach, hoffte ich immer, du würdest eintreten. Hast wohl gar nicht gewußt, daß ich im Hause war?«

»Doch. Ich hab's gewußt. Lena und ich standen am Fenster, als du kamst. Aber kann ich sie denn allein lassen?«

»Wo ist Colmar?«

»Mir scheint gar, du bist eifersüchtig?«

»Leistet er euch oft Gesellschaft?«

»Ich sorge schon dafür, daß es nicht zu oft geschieht. Kannst mir's glauben, es ist mir recht peinlich, daß Papa ihn ins Haus lud.«

»Malt er denn wirklich, oder kam er einzig deinethalben?«

»O nein, Herr Untersuchungsrichter!« scherzte Edwine. »Einzig und allein um meinetwillen kam er sicherlich nicht. Er skizziert viel und bringt manche Stunde im Garten zu. Das muß man ihm lassen,« setzte sie, wieder ernster geworden, hinzu, »Ehrgeiz besitzt er, und ernst nimmt er's mit seiner Kunst.«

»Mir scheint, du schwärmst wenigstens in dieser Beziehung für ihn,« sagte Durand unruhig.

Er bekam keine Antwort darauf. Edwine bedeutete ihm Schweigen und wies nach dem oberen Stockwerke. Von dort kam jemand herunter.

»Also amüsieren Sie sich recht gut,« sagte Edwine und reichte Durand die Hand.

Nur das hörte und nur das sah der, welcher die Stiege herunterkam.

Es war Colmar, der die beiden ein wenig steif begrüßte.

»O, Sie sehen aber gar nicht gut aus,« sagte Durand zu ihm.

Es verhielt sich tatsächlich so. Colmar war ein wenig bleich, und seine Augen glänzten, als habe er Fieber.

»Erkältet habe ich mich. Es ist hoffentlich ohne Bedeutung,« entgegnete er und wollte mit einer Verbeugung an den beiden vorübergehen.

»Sie haben sich ja auch die Hand verletzt,« rief Edwine. »Wie ist denn das geschehen?«

Colmar erhob ein wenig die rechte Hand. Auf ihrer inneren Fläche klebte ein Heftpflaster. Es war ein fleischfarbenes Heftpflaster. Man merkte es kaum.

»Ah, das ist auch nichts Besonderes, mein gnädiges Fräulein,« sagte er lächelnd. »Als ich gestern meines Umzuges wegen in meinem Farbenkasten kramte, habe ich mich geritzt. Morgen ist alles wieder gut.«

Er hatte eine wirklich liebenswürdige Art, über die kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens hinwegzugleiten, und machte sich sichtlich gar nichts daraus, in dieser Beziehung für interessant zu gelten.

Das gefiel Durand, der ihn für ein wenig geckenhaft gehalten hatte.

Er empfahl sich deshalb freundlicher von ihm, als er selber es vor einer Minute noch für möglich gehalten hätte, küßte mit wohl verborgener Innigkeit Edwinens Hand und ging.


Eine Stunde später befanden sich Durand und Frau Winter in Königs Vorzimmer.

»Ja, die Hosenspangen fehlen auch,« sagte soeben die alte Frau, »der Herr Doktor hat sie immer auf einen Nagel des Kleiderständers gehängt, aber jetzt sind sie auch nicht da. – Was tun Sie denn?« fragte sie dann verwundert.

Durand hatte den einen Fuß auf das grüne Ripssofa gestellt. Jetzt hatte er beide Füße auf den Dielen und neigte sich über das Sofa.

»Was sehen Sie denn da?« fragte er gemütlich.

»Drei Staubspuren.«

»Ich habe aber nur einen Fuß dahingestellt, und die anderen Spuren sind mindestens seit der Nacht des 4. März hier, da habe ich sie schon gesehen.«

»Bis nach Mittag am 3. März waren sie noch nicht da,« erklärte mit Bestimmtheit Frau Winter, »denn da habe ich – so gegen sieben Uhr, wie der Herr Doktor schon fort war – alles zum Schlafengehen hergerichtet und nachgeschaut, ob alles in Ordnung ist. Und weil auf diesem Sofa verschiedenes Gewand gelegen ist, hab' ich das ausgeputzt und hab' auch das Sofa und die Tischdecke gebürstet. Also am 3. März gegen sieben Uhr waren da keine Trittspuren.«

»Die werden erst gegen zwölf Uhr Nachts entstanden sein,« sagte Durand, »denn um diese Zeit ist einer oder sind vielleicht auch zwei zu Rad von hier weggefahren, und zwei Füße sind nacheinander hier hinaufgestellt worden.«

»Und der Betreffende hat sich die Spangen angelegt,« vollendete Frau Winter.

Durand nickte: »So wird es vermutlich gewesen sein. Es haben etliche Herren solche Gewohnheiten.«

»Der Herr Doktor hat sie auch gehabt.«

»Na, sehen Sie, liebe Frau. Wir werden uns kaum irren in unserer Annahme. Hatte der Herr Doktor solche Klammern?« Er zeigte ihr die Spange, die man beim Baggern gefunden hatte.

»Ganz genau solche. Ich könnt' schwören –«

»Schwören Sie nicht. Es verlangt's niemand, und überdies gibt es jedenfalls viele Tausende von solchen Klammern, die genau so aussehen wie diese. So, und jetzt adieu, liebe Frau!«

Gleich danach umfing wieder Stille und Einsamkeit das jetzt so unheimliche Haus. –

Bei Herrn v. Eichen fand Durand schon Klesing, der knapp vor ihm in des Oberpolizeirats Bureau eingetroffen war, um noch einen Fund daselbst abzugeben.

Dieser bestand in dem ebenfalls abhanden gekommenen und von Frau Winter beschriebenen silbernen Armbande, welches König in seinen jüngeren Tagen getragen hatte.

Von den kleineren Gegenständen war nichts zu Tage gefördert worden. Diese hatte wohl das Wasser weggespült, oder sie hatten sich noch tiefer in den weichen Schlamm eingewühlt, was ja sowohl in Bezug auf die Krawattennadeln als auch auf den Manschettenknopf leicht erklärlich war.

Herr v. Eichen und Durand bestimmten, daß von einem weiteren Baggern einstweilen abzusehen sei, und Klesing wurde entlassen.

Mehr als diese, allerdings sehr wichtigen Funde hatte der 6. März indessen nicht zu Tage gefördert.

Von der Berliner Fabrik, aus welcher das versenkt gewesene Fahrrad stammte, war ein Telegramm eingelaufen. Es hieß darin, daß das Rad, welches, wie angegeben, die Fabriknummer 3495 trage, vor drei Jahren, am 16. April 1881, in der Hauptniederlage der Fabrik von einem Herrn gekauft worden sei, der es bar bezahlt und sogleich mitgenommen habe. Den Namen des Käufers habe man nicht in das Geschäftsbuch eingetragen.

Diese Nachricht war enttäuschend. Sie brachte keine Gewißheit für den Verdacht, daß das aus dem Tümpel gehobene Rad König gehört habe, und man wußte also über dieses wichtige Moment noch immer nichts Bestimmtes.

Ganz sicher aber war, daß dieses Rad mit dem Verschwinden Königs in engem Zusammenhange stand, denn der, welcher es hatte verschwinden lassen, der hatte auch die in Königs Wohnung fehlenden Schmuckstücke in den Tümpel geworfen.

»Ein Raubmord also und ein Diebstahl gewöhnlicher Art sind ausgeschlossen,« sagte Herr v. Eichen, als sein junger Freund das Berliner Telegramm hinlegte.

»Und damit auch ein Einbruch aus habsüchtigen Motiven,« fuhr Durand fort, »denn wer ohne verfolgt zu sein – und verfolgt wurde ja der Mann mit dem Pelzrock nicht – seinen Raub wieder wegwirft, der hat sich nicht aus Gründen der Habsucht den fremden Besitz angeeignet. Es hat sich für diesen Mann also nur darum gehandelt, den Schein zu erwecken, daß ein Einbruch geschehen sei.«

»Und im Anschluß daran ein Mord,« setzte Herr v. Eichen hinzu.

»Ja – auch ein Mord,« sagte in auffallend zerstreutem Tone Durand.

Der Oberpolizeirat schaute verwundert auf ihn.

Durand bot aber auch einen sonderbaren Anblick. Er veränderte ein paarmal jäh die Gesichtsfarbe und starrte dabei verwundert auf seine rechte Hand. Auf deren innerer Fläche war ein kleiner violetter Fleck zu sehen, ein schon halb verwaschener, kleiner violetter Fleck.

Es mochte ein Tintenklecks sein. Jedenfalls bot er für einen vernünftigen Menschen keine Ursache, wegen seines Anblicks die Farbe zu wechseln und so traumverloren auf ihn hinzustarren, wie Durand es tat.

Er hatte sich denn auch rasch wieder gefaßt. Die Röte freilich, die jetzt bis zu seinen Schläfen emporgestiegen war, die blieb noch eine gute Weile dort, und auch das Unstete seines Blickes verriet, daß er seine Gedanken von irgend etwas ganz Absonderlichem noch nicht völlig hatte losreißen können; aber er konnte doch wenigstens schon über sein Gebaren lachen, war sich also dieser Absonderlichkeit bewußt.

»Nicht wahr, Sie wundern sich, daß ich so außer mir geraten konnte, weil ich da etwas auf meiner Hand entdecke, das nicht hingehört?« sagte er zu Herrn v. Eichen, der ihm still lächelnd in die gar so merkwürdig flimmernden Augen sah.

Weil aber der alte Herr ihm nicht antwortete, fuhr er hastig fort: »Ich habe nämlich mit dieser beschmutzten Hand gestern abend bei Mühlheims und zwar in Gegenwart Edwinens und ihrer Schwester bei Tische gesessen.«

»Das konnte Sie so außer Fassung bringen?« In Herrn v. Eichens Stimme klang etwas wie Unglauben mit.

»Wenn die Damen es bemerkt haben!« sagte Durand, und sein alter Freund wunderte sich heimlich über den entschieden forschenden Blick, der ihn während dieser Worte aus den Augen Durands traf.

Er begriff dessen Verhalten nicht.

»Beruhigen Sie sich,« sagte er ein wenig verdrossen, »wer hätte denn den Fleck sehen können?«

»Das dachte ich mir soeben auch,« antwortete Durand, wieder in seiner gewöhnlichen Weise, aber er atmete danach tief auf, und in seinen Augen war ein merkwürdiges Aufblitzen.

Herr v. Eichen erhob sich, ging ein paarmal langsam durch das Zimmer, dann blieb er vor Durand stehen und sagte, beide Hände gemütlich in die Taschen seines Beinkleides steckend und sich auf den Fersen wiegend: »Mein lieber Doktor, worüber spintisieren Sie denn eigentlich? Was für ein neuer Gedanke hat Sie da soeben gepackt?«

Durand strich sich über die Stirn. Wieder stieg ihm das Blut ins Gesicht. Er schaute eine Weile vor sich hin, dann schüttelte er den Kopf – und war nun ganz Verlegenheit.

Endlich sagte er leise: »Ich kann noch nicht reden. Vielleicht ist's barer Unsinn, woran ich denke. Bis jetzt habe ich ja so gut wie gar keinen Anhaltspunkt für meine neue Vermutung, und – ich möchte mich nicht gern blamieren, am wenigsten vor Ihnen, mein verehrter Freund und Gönner.«

Dabei lächelte er zerstreut und griff nach seinem Hut.

Wieder fuhr er sich über die Stirn, und wieder huschte eine dunkle Röte über sein Gesicht. »Bezüglich Nadjas und Alexins ist nichts eingelaufen?« fragte er.

Da klopfte der alte Herr ihn auf die Schulter und sagte ein wenig spöttisch: »Daß Sie trotz Ihrer neuen Idee doch noch an die beiden denken! – Nein, über diesen schwebt auch jetzt noch tiefes Dunkel. Aber wohin wollen Sie denn so eilig?«

»Darf ich es Ihnen morgen erst sagen?«

»Meinetwegen. Aber ich habe mich schon darauf gefreut, heute mit Ihnen zur ›Pfeife‹ Ein altes Wiener Gasthaus. zu gehen.«

Durand zog die Uhr. Es war nahe an acht. »Vielleicht komme ich noch hin,« sagte er hastig, drückte kräftig seines alten Freundes Hand und war schon draußen.

Herr v. Eichen blieb noch lang auf der Stelle stehen, wo er gestanden, als der Doktor hinausstürmte. Jetzt war das Nachsinnen über den alten Herrn gekommen.

Endlich fuhr auch er sich über die Stirn und sagte alsdann laut etwas vor sich hin. Er brummte: »Jetzt hat er eine Spur gefunden.«

Danach ging Herr v. Eichen noch lange in seinem Zimmer auf und nieder und dachte über den seltsamen Fall und über das Gebaren seines jungen Freundes nach. Erst gegen halb neun Uhr verließ er sein Bureau und suchte sein Stammgasthaus auf.


An der Ecke der Polizeidirektion bestieg Durand einen Fiaker. Der Wagen hatte schon nach etwa zehn Minuten raschester Fahrt sein Ziel erreicht. Es lag im vierten Bezirk, ganz nahe der Elisabethbrücke und der Wiedner Hauptstraße. Das Haus, vor welchem der Wagen anhielt, war eines jener Gebäude, deren Äußeres schon verrät, daß nur arme Leute darin wohnen.

Daß dies tatsächlich der Fall war, zeigte sich sofort. Das Halten eines Wagens mußte einen gewaltigen Eindruck auf etliche seiner Bewohner gemacht haben. Es öffnete sich zugleich eines der kleinen Fenster im ersten Stock und eine Ladentür.

Oben erschien der Kopf einer alten Frau und unten die schlanke Gestalt eines jungen Mädchens im erhellten Rahmen.

»Ist's der Herr Doktor?« rief die alte Frau herunter, worauf die junge mit einer Verneinung antwortete.

Sie hatte den Passagier schon gesehen, der sich hatte hierher führen lassen. Durand war nämlich schon aus dem Wagen gesprungen und wies den Kutscher an, an der Ecke auf ihn zu warten.

Während die alte Frau, die vermutlich schon lange an dem Lager eines Kranken auf den Arzt wartete, enttäuscht das Fenster schloß, wandte Durand sich an das ihn sichtlich mit Wohlgefallen betrachtende Mädchen, das noch immer in der offenen Tür stand, hinter der ein einfacher Kaffeeschank sichtbar war.

»Bitte, Fräulein, können Sie mir sagen, ob Herr Colmar noch hier wohnt?«

Er zeigte dabei auf das hübsche, elegante Nachbarhaus, ein richtiges Alt-Wiener Familienhaus, wie es deren in den äußeren Bezirken noch zahlreiche gab, die freilich seither dutzendweise den vornehmen Zinspalästen weichen mußten, auf welche die Wiener heute so stolz sind.

Das hübsche Mädchen, es war die Kellnerin des kleinen Kaffeeschankes, zeigte sich sofort zu Auskünften bereit. »Gewiß wohnt er noch da,« begann sie kokett, »das Haus g'hört ja dem Herrn v. Colmar.«

Durand schaute zu den Fenstern des Hauses hinauf. »Er scheint jedoch nicht zu Hause zu sein,« sagte er, »es ist ja da oben alles finster.«

»Haben Sie ihm einen Besuch machen wollen?« fragte das Mädchen.

Durand nickte. »Was tu' ich denn jetzt?« fragte er dann halblaut, wie zu sich selber sprechend.

»Vielleicht warten Sie bei uns drinnen auf ihn,« lud das Mädchen den Herrn ein. »Seine Wirtschafterin ist nämlich auch nicht zu Hause.«

»So – so, und meinen Sie, daß die Frau bald heimkommt?«

»Ich weiß halt nicht.«

»Ich könnte ihr vielleicht auch mitteilen, was mich hierher führt.«

»Sie ist wahrscheinlich in eine Visit' 'gangen. Ich hab' sie wenigstens in großer Gala ausgeh'n seh'n.«

»Und wann pflegt Herr Colmar nach Hanse zu kommen?« erkundigte sich Durand, während er in das bescheidene Lokal trat.

Die Kellnerin war nun noch um einige Grade liebenswürdiger. »Was darf ich Ihnen bringen?« erkundigte sie sich und kredenzte dem hier ganz ungewohnt eleganten Gast alsbald wirklich zierlich den von ihm verlangten Likör. »Ja, der Herr v. Colmar, wann der nach Haus' kommt? Ja, das weiß ich erst nicht,« gab sie naiv zu. »Aber schließlich, wenn man etwas sehr Wichtiges mit jemand zu reden hat, so wartet man halt, bis er kommt. Einmal muß er ja doch kommen.«

So plauderte sie, ihre hübschen Zähne zeigend und ihre feurigen Augen nicht übel gebrauchend.

»Ich habe nämlich geglaubt, Herr Colmar sei unwohl und deshalb sicher zu Hause zu treffen,« log Durand.

Die Kleine schüttelte den hochfrisierten Kopf. »O nein,« meinte sie mit großer Sicherheit, »der ist ganz gesund. Er ist fast keinen Abend zu Hause. Was möcht' er denn da auch tun – allein mit seiner alten Kathi. Er ist ja, glaub' ich, so gut wie Bräutigam, und da geht er halt wahrscheinlich zu der Fräul'n Braut. Vor ein paar Tagen ist er erst gegen zwei Uhr in der Früh nach Haus' kommen – da muß er auf einem Ball gewesen sein.«

»War das nicht am Dienstag?« erkundigte sich Durand.

»Stimmt schon. Ja, am Dienstag war's. Ich hab' so arg Zahnweh g'habt, und die Marktleut' sind auch früher vorübergefahr'n, weil ja Markttag war, und so hab' ich wenig g'schlafen. Drum hab' ich g'hört, wie der Herr v. Colmar geläutet hat.«

»Nun, sehen Sie, Fräulein. In jener Nacht war ich mit Herrn Colmar in einer Gesellschaft, und da ist mir etwas Unangenehmes passiert, und deshalb will ich ihn eben aufsuchen.«

»Ja, was ist Ihnen denn passiert?« fragte höchlich interessiert das Mädchen.

»Er und ich hatten gleiche Überröcke, dunkle, kurze Pelzröcke, und die hingen nebeneinander, und da habe ich statt des meinigen den seinigen angezogen.«

»Einen dunklen Pelzrock? Da sind S' aber auf'm Holzweg. Der Herr v. Colmar hat einen kurzen Pelzrock von Pfeffer- und Salzstoff, und außerdem hat er am Montag, wie er gegen Abend weggegangen ist, gar nicht diesen, sondern seinen hellen Überzieher angehabt.«

»So? – Da muß ich also meinen Pelzrock mit dem eines anderen Herrn vertauscht haben.«

»Freilich.«

»Da hat mein Warten auch keinen Zweck mehr,« bemerkte Durand, sich erhebend.

Fünf Minuten später fuhr er wieder der inneren Stadt zu. Es war neun Uhr, als er Herrn v. Eichen begrüßte.

»Nun?« sagte der, indem er dem merkbar sehr Herabgestimmten die Hand reichte.

»Ich bin nervös,« antwortete Durand, während der Kellner ihm die Überkleider abnahm. »Ich sehe mehr, als zu sehen ist. Sie haben recht, mich vor dem ›Mich verrennen‹ zu warnen. Und – lachen Sie mich immerhin aus. Ich bin ausgezogen, um vielleicht einen dunklen Pelzrock zu suchen, und habe einen hellen Überzieher gefunden.«

Mit diesen in sehr ironischem Tone gesprochenen Worten setzte Durand sich zu dem alten Herrn, der in dieser Stunde wieder bewies, daß er ein gar liebes, gutes Herz besaß.

Des sehr niedergeschlagenen Durands Hand tätschelnd sagte er gemütlich: »Also auf einer falschen Spur sind Sie gewesen. Na, nur nicht verdrießlich werden deshalb, so ist es jedem von uns schon hundertmal gegangen. Die Phantasie spielt uns halt auch Streiche – der kühle Verstand lenkt alles wieder ins richtige Fahrwasser. Und jetzt, lieber Eugen, was essen wir denn? Ich denk', es wäre Zeit.«


Kurz vor Mitternacht kam Durand vor der Villa Mühlheim an. Er war mit dem Omnibus hinausgefahren, und der alte Wackelkasten hatte viel Zeit gebraucht, die allerdings ziemlich weite Strecke zurückzulegen, denn es herrschte ein tüchtiger Schneesturm.

Von der Omnibushaltestelle bis zu der Villa hatte Durand sich zudem ein gutes Stück durch oft meterhohe Schneewehen kämpfen müssen, gerade deshalb aber hatte er das angenehme Gefühl wohligster Wärme und wohligster Frische zugleich, und dieses körperliche Empfinden hatte sich auch seiner Seele mitgeteilt.

Er hatte den Katzenjammer bereits abgeschüttelt, der ihn überkommen, weil er einen ihm unsympathischen Menschen, einer Winzigkeit, einer Winzigkeit und freilich auch einer Lüge wegen durchaus mit der dunklen Affäre König hatte zusammenbringen wollen. Jetzt war er aber schon wieder so unbefangen, daß er sich der ganz ungewöhnlichen Schönheit einer Gruppe verschneiter, uralter Buchen erfreuen konnte, deren weitausladende Äste bis zur Ecke der Villa hinüberreichten, und unter denen tiefer Schatten herrschte.

Der Boden war dort nämlich schneefrei und stach deshalb wie dunkler Samt von der weißlichen Umgebung ab.

Durand hatte von Mühlheim einen Hausschlüssel erhalten. Er konnte also ohne Aufenthalt in sein derzeitiges Heim gelangen. Durch den tiefen Vorgarten schreitend, sandte er einen warmen Blick zu den Fenstern empor, hinter denen jetzt seine Liebste schlief, und war eben im Begriff, den Hausschlüssel zu gebrauchen, als er merkte, daß der eine Türflügel nur angelehnt war. Es führten drei Stufen zur Tür hinauf. Er stieg sie wieder herunter. Er wollte doch nachsehen, ob noch jemand außerhalb des Hauses sei. Vielleicht war noch jemand von der Dienerschaft im Garten. Der Kommerzienrat hatte Nachmittags angeordnet, daß die Rosenbäumchen des öfteren vom Schnee befreit werden müßten. Das geschah vielleicht eben jetzt wieder. Schneite es doch so dicht, daß die Last des Schnees den zarten Bäumchen natürlich nicht zuträglich sein konnte.

Durand arbeitete sich bis zur Ecke des Hauses. Richtig, da war jemand gegangen. Man sah noch ziemlich deutliche Fußspuren. Als Durand die Buchengruppe erreicht hatte, sprang gerade ein Mann vor ihm über die hohe Schneewehe, die sich an der Ecke der Villa gebildet hatte.

»Wilhelm, sind Sie's?« rief Durand.

Er erhielt nicht augenblicklich Antwort. Der Mann, der den tüchtigen Sprung getan, stand schweratmend unter den Buchen. Auch Durand trat jetzt unter deren breites Dach.

»Ein famoses Wetter!« sagte da der andere. »Ich habe mir die Zypressengruppe da drüben angesehen, die kommt morgen in mein Skizzenbuch.«

Herr Colmar atmete noch immer vernehmlich. Das war übrigens auch bei Durand der Fall. Sie hatten eben beide während ihrer nächtlichen Promenade tüchtig mit dem Sturm kämpfen müssen.

»Das heiße ich sich für seinen Gegenstand interessieren,« erwiderte der etwas verwunderte Kriminalist artig.

Colmar mußte gerade recht arg husten. Seine Erkältung schien noch nicht gehoben. Er ging dann mit Durand ins Haus. Die beiden Gasflammen, welche den Flur, die Treppe und die Korridore beleuchteten, waren ziemlich tief niedergedreht. Es herrschte überall nur Dämmerlicht. Vielleicht sah Colmar nur in diesem Halbdunkel so eigentümlich verfallen aus.

Die beiden Herren gingen schweigend nach ihren Zimmern. Sie wollten niemand stören.

An seiner Tür angekommen, blieb Colmar stehen und sagte: »Ich bin froh, ins warme Bett zu kommen.«

Dabei reichte er dem zweiten Gast des Hauses seine Hand.

Sie war tatsächlich eisig kalt.

»Die nächtliche Exkursion wird Ihnen natürlich nicht gut getan haben, da Sie ohnehin schon erkältet waren,« entgegnete Durand, sich verabschiedend. Er sagte es wieder sehr freundlich. Gute Menschen drängt es ja ganz besonders, freundlich gegen die zu sein, denen sie irgendwie ein Unrecht getan haben.

Tiefe Stille liegt über dem Hause. Von der nahen Kirche her hallen zwölf Schläge.

Noch ärger als vorher wütet der Sturm, noch dichter fällt der Schnee, der sich in den Lüften mit den anderen weißen Massen mischt, welche schon längst gefallen sind, aber immer wieder aufgewirbelt werden.

Durand steht noch immer am Fenster und schaut in den weißen Aufruhr hinaus. Er überdenkt dabei die Angelegenheit, die derzeit seinen Geist am meisten beschäftigt, und dazwischen die andere Angelegenheit, welche nur sein Herz angeht.

Er sieht dabei auf eine Baumgruppe nieder, welche gar nicht weit vom Hause mitten auf einer Wiese steht und ihre spitzen Wipfel unter den Stößen des Sturmes beugt. »Sind diese da unten Colmars Zypressen?« muß er denken.

Und nachdem Durand jene Frage an sich gestellt, schaut er eine Weile nachdenklich vor sich hin. »Nur nicht verrennen,« sagt er zu sich, »nur nicht sich in eine Idee verrennen!«

Dann geht er zu dem Schrank, in welchem er neben den wenigen Kleidungsstücken, die er sich mit hierher gebracht hat, auch noch etliches anderes verwahrt, schließt ihn auf und entnimmt ihm den in der Radtasche gefundenen Klappschlüssel.

»Dich hätte ich heute bei mir haben sollen!« denkt er, und dann: »Nun, jedenfalls kann man's ja versuchen.« Und er lächelt dabei über seine Halsstarrigkeit.

Noch steht er vor dem offenen Schrank. Er vergißt es ganz, ihn wieder zu schließen. Es fällt ihm soeben ein, daß er seit etlichen Stunden zwei verschiedene Voraussetzungen, zwei Vermutungen wenigstens, hegt, davon die eine die andere kurzweg ausschließt. Denn nimmt er an, daß der Mann im kurzen Pelzrock König gewesen sei, dann hat es keinen Sinn, Colmar für den Radversenker zu halten. Anderseits durfte man wieder annehmen, daß der, welcher den Einbruch fingierte, derselbe sei, der das Rad und den Schmuck in den Tümpel warf.

Das Rad – ganz gut – das hat der etwa flüchtende König verbergen müssen, um jede Spur hinter sich zu verwischen, den Schmuck aber, sein rechtliches Eigentum, zu versenken, das hätte doch für König keinen Sinn gehabt. Der Mann im Pelzrock wird also doch wohl nicht König gewesen sein. Es war aber einer von denen, die im Wintergarten des Kommerzienrats gewesen waren, das bewies wieder das Farnkrautblättchen.

Nun, Colmar war an jenem Abend in des Kommerzienrats Wintergarten, und Colmar hatte eine Wunde an der Hand, und Colmar interessierte sich ungemein für alles, was etwa über diesen Fall in die Zeitung kam, und Colmar – nun, Colmar machte sich durch allerlei Kleinigkeiten verdächtig.

Durand schloß jetzt den Schrank.

»Nur nicht verrennen,« sagt er noch einmal, und dann fällt sein Blick auf einen Brief, den man auf seinen Nachttisch gelegt hat.

Er öffnet ihn rasch. Der Brief kommt vom Sicherheitsamt. Er enthält nur wenige Zeilen. Sie lauten:

»Frau Winter meldete, daß ein Schneider den kurzen pelzbesetzten Dreßrock Königs gebracht habe. Der Mann hat ihn von König zur Neufütterung erhalten, wovon Frau Winter nichts wußte. Auch hat sich der Bankier Leopold Mayer bei der Polizei eingefunden und angegeben, daß einer seiner Beamten am 3. März Nachmittags bei König gewesen sei und diesem ein gekündigtes Depot im Betrage von 2430 Gulden überbracht habe. König war am Vormittag des 3. März bei dem ihm befreundeten Bankier gewesen, um ihn zu ersuchen, das Geld flüssig zu machen und es ihm zu senden. Der Beamte, der es ihm überbracht, hat die zweifellos von Königs Hand unterzeichnete Quittung seinem Chef übergeben. Derzeit befindet sich der betreffende junge Mann auf einer Geschäftsreise.«

Das liest Durand, während ein ironisches Lächeln seinen Mund umspielt. Dieses Lächeln gilt ihm selber, das sagen seine Worte.

»Also 2430 Gulden hat er flüssig gemacht. Aber mit 2430 Gulden geht ein Mann wie König mit einem Weibe, wie Nadja eines ist, nicht durch.«

Eine Weile noch schaut Durand auf die erhaltene Nachricht, dann legt er sie hin und legt sich gähnend ins Bett.

»Nur nicht verrennen,« sagt er noch halb im Schlaf.


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