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Am nächsten Morgen saßen Durand und Colmar allein im Frühstückszimmer. Sie waren beide lange vor der gewohnten Zeit heruntergekommen.
»Gut, daß ich Sie schon hier finde,« sagte Durand nach eiligem Gruß. »Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß Sie, falls Sie die vielleicht notwendig werdende Fahrt wirklich mit mir machen wollen, vor ein Uhr das Haus nicht verlassen sollten. Ich kann Ihnen erst bis dahin Näheres mitteilen.«
Colmar war noch immer sehr bereit, freiwillige Fahnderdienste zu leisten, und stellte sich heute nicht weniger eifrig als am vorhergegangenen Abend Herrn Durand – er betonte den Namen lächelnd – zur Verfügung.
»Schon deshalb ist es gut, wenn Sie hier bleiben, bis ich wieder eintreffe, damit eine allenfalls hierher kommende Depesche nicht etwa in unrechte Hände gelangen kann,« fuhr Durand ruhig fort.
»Darf ich dann zur Belohnung für meinen Eifer auch mit ganzer Sicherheit auf Ihr Schweigen rechnen?«
»Natürlich! Niemand wird es erfahren, daß Sie gestern noch ein Stelldichein hatten,« versicherte Durand und setzte hinzu: »Übrigens rate ich Ihnen, es unseren liebenswürdigen Gastfreund wissen zu lassen, in welcher Angelegenheit Sie zu verreisen gedenken. Das wird sich sehr gut machen.«
»Glauben Sie?«
Diese Frage klang keineswegs so, als ob Colmar dem Rate zu folgen gedenke. –
Es war gegen acht Uhr, als Durand die Villa verließ.
An der Straßenecke traf er auf Speidl, hatte eine kurze Unterredung mit ihm, dann bestieg er einen Fiaker, der schon eine gute Weile wartete. Speidl war gestern beauftragt worden, ihn zu besorgen, und so konnte Durand ohne Aufenthalt der inneren Stadt und der Polizeidirektion zufahren.
Bezüglich dessen, was Colmar an diesem Vormittag allenfalls unternehmen würde, war er ganz ruhig. Speidl ließ ja die Villa nicht aus den Augen, verließ Colmar diese, dann blieb Speidl auf seinen Fersen.
Durand war überzeugt davon, daß Colmar irgend etwas unternehmen werde.
Und so war es auch.
Gegen zehn Uhr trat der Maler auf die Straße hinaus, sah sich ein wenig um und ging dann gemächlichen Schrittes bis zum Hietzinger Platz.
Da stand nur ein einziger Einspänner. Er steuerte auf ihn zu, aber da kam ein Marktwagen daher und schnitt ihm für einige Sekunden den Weg ab. Als er dann die Fahrbahn überschreiten konnte, sah Colmar, wie soeben jemand in den Einspänner stieg.
Nun wandte er sich der Brücke zu und bestieg jenseits derselben einen Wagen, welcher den Weg nach den inneren Stadtbezirken einschlug.
Der Wagen, der vom Hietzinger Platz weggefahren war, hielt, von Colmar nicht beachtet, auch in der Nähe der Wechselstube an, in welche jener trat, und eben, als der Maler das Geld für etliche Wertpapiere, welche er verkauft hatte, in seine Brieftasche steckte, betrat ein neuer Kunde die Wechselstube.
Es war Speidl, welcher Colmar von der Straße aus beobachtet hatte. Durch eine kurze Unterredung mit dem einen der Geschäftsinhaber verschaffte er sich die Kenntnis, daß Colmar für fast volle dreißigtausend Gulden unzweifelhaft gute Papiere verkauft habe.
Danach fuhren sowohl Colmar als auch Speidl wieder nach Hietzing zurück, und bald darauf konnte letzterer den Maler im tiefverschneiten Garten sitzen sehen.
Colmar malte. Aber oft sank sein Arm nieder, und seine Augen verließen die Zypressengruppe, welche sein Original waren. Müden und doch ruhelosen Ausdruckes wanderten seine Augen über den Park, und einige Male schlossen sie sich, als ob sie nichts, gar nichts mehr sehen wollten.
Diesen Eindruck erhielt der Detektiv, welcher, von einer Fichtengruppe gedeckt, den Mann beobachtete, der gestern der Begleiter der schönen Dame in Trauer gewesen war.
Speidl mußte bis gegen ein Uhr auf seinem Posten bleiben.
Um diese Zeit herum sah er Durand an der Straßenecke unten auftauchen. Er ging ihm entgegen, oder vielmehr er folgte ihm, denn Durand war, ihn bemerkend, wieder umgekehrt.
In der nächsten Straße trafen sie zusammen, und Speidl berichtete, was er erkundet hatte.
»Sie haben Ihre Sache gut gemacht,« lobte ihn der Doktor. »Herr v. Eichen wird Ihre Leistung zu schätzen wissen. Und nun gehen Sie in ein Restaurant. Bis etwa vier Uhr werden Sie wieder auf Ihrem Posten sein, falls ich Ihrer bedarf, werde ich Sie dann in der Nähe der Villa finden. Abends wird der Fiaker Nummer 184 mich und den Herrn, den Sie beobachtet haben, abholen. Wir werden zur Nordbahn fahren. Sie werden auch vor Abgang des Abendschnellzuges dort sein.«
Die beiden trennten sich dann.
Durand ging nach der Villa, in welcher nun schon drei Personen seinem Kommen mit heimlicher Spannung entgegensahen.
Er sah wie einer aus, der mit seinem Tagewerk, das freilich in jeder Beziehung erst ein halbes Tagewerk genannt werden konnte, sehr zufrieden ist. Er durfte es auch sein, denn sein Gespräch mit dem Oberpolizeirat war sehr zufriedenstellend für ihn gewesen.
Kurz nach neun Uhr war er in das Zimmer zu Herrn v. Eichen getreten. Dieser nickte ihm freundlich zu.
»Nun, wie steht es mit der schönen Russin?« fragte er, dem Eintretenden die Hand entgegenstreckend.
»Hat Speidl nicht berichtet?«
»O ja. Er wollte jedoch, wie gewöhnlich, ausführlich werden, da winkte ich ab. Ich möchte die Situation lieber von Ihnen geschildert haben.«
»Er hätte ohnehin nur über einen kleinen Bruchteil berichten können,« bemerkte Durand und erzählte dann in seiner ruhigen Art, daß Klesing die vielgesuchte Nadja gefunden habe, und daß dieser es war, der ihn in den Bahnhof berufen, von dem aus die beiden alsdann ihre Fahrt nach Krakau angetreten hatten. Dabei legte er Klesings Depesche vor den Oberpolizeirat nieder.
Der las sie. Ihr Text war übrigens demjenigen des Zettels ganz ähnlich, den Klesing gestern vorsichtshalber auch an Herrn v. Eichen hatte gelangen lassen.
»Ich weiß schon,« sagte er dann, »daß noch jemand da war, der Sie interessierte.«
»Ja,« erwiderte der Doktor, »und zwar jemand, an den Sie sicherlich nicht denken.«
»Nun?«
»Viktor Colmar.«
»Ah!«
Herr v. Eichen hatte sich jäh erhoben. Es geschah nur selten, daß er sich so überraschen ließ. Er mußte, während er sich wieder setzte, selbst darüber lächeln.
»Colmar – ja was kann denn Colmar mit diesem dunklen Fall zu tun haben?« fragte er.
Durand zuckte die Achseln, dann sagte er langsam: »Er ist es, an den ich seit vorgestern abend denke.«
»Seit vorgestern abend?« Herr v. Eichen dachte einen Augenblick nach. »Ah, der Flecken auf Ihrer Hand hat eine Ideenassoziation in Ihnen bewirkt, welche Sie auf den Maler führte?«
»Es ist so. Auch auf der Innenfläche seiner linken Hand ist etwas nicht in Ordnung. Er trägt da ein rosa Pflaster über einer kleinen, aber doch nicht ganz unbedeutenden Wunde, und diese Wunde existierte am 3. März bis gegen elf Uhr Nachts noch nicht. Colmar trug sich, als er zum Verlobungsfeste kam, ein wenig geckenhaft. – Er war hyperenglisch steif in Schwarz gekleidet und trug neue, rostfarbene Handschuhe, die er auch im Salon noch an den Händen hatte. Das habe ich ganz unauffällig von zwei Augenzeugen herausbekommen: von dem jungen Erich, dem Colmar das Vorbild mitteleuropäischer Eleganz ist, und der deshalb auf alle Einzelheiten in Colmars Toilette achtet, und von seiner Schwester Lena, welche auch bestätigte, daß Colmar von der Krawatte angefangen bis zu den Spitzen seiner Lackschuhe herab der eleganteste Herr der Gesellschaft war. Dies war mir ein Beweis, daß er damals, da er ganz neue, enge Handschuhe trug, noch keine Verletzung an der Hand hatte.«
»Sie denken daran, daß von seiner Wunde die Blutspuren in Königs Wohnung herrühren könnten?«
»Ja, daran denke ich, und auch, daß es sein Fuß gewesen sein kann, der das Stückchen Farnkraut auf Königs Fensterpolster abstreifte, und auch, daß vielleicht er das Rad und den Schmuck in den Tümpel warf. Wenn aber all dies auch nicht so sein sollte, so ist es mir doch heute schon zweifellos, daß er in dem Fall König eine Hauptrolle spielt, daß er ganz bestimmt in der Nacht vom 3. auf den 4. März in Königs Wohnung war, und daß er es ganz genau weiß, wo König sei dieser nun lebend oder tot – sich seit jener Nacht befindet.«
»Und was noch – außer seinem Bekanntsein mit Nadja – veranlaßt Sie zu diesem Schlusse?«
Durand zog den Klappschlüssel aus seiner Rocktasche. Ihn vor Herrn v. Eichen niederlegend, sagte er: »Dieser Schlüssel. Ich habe ihn in dem Täschchen gefunden, das sich an dem von Alexin gestohlenen Rade befindet. Er schließt das Tor von Colmars Haus. Vor einer halben Stunde habe ich mich davon überzeugt, und noch von etwas anderem habe ich mich überzeugt. Ein Fiaker fährt von der Villa Mühlheim bis zur Elisabethbrücke, wenn er gut bezahlt wird, in zwanzig Minuten. Bei der Elisabethbrücke hat einer der Kutscher, die von des Kommerzienrats Haus aus schon ein wenig vor elf Uhr die Gäste wegführten, seinen Passagier abgesetzt. Von dort aus kann man bei schnellem Gehen in längstens zehn Minuten Colmars Haus erreichen. Colmar führt seinen Hausschlüssel – von dem er damals noch ein Duplikat besaß – bei sich, er hat also sofort ins Haus gekonnt. Seine Wirtschafterin hat von seiner Heimkunft wohl gar nichts gemerkt. Er hat seinen hellen, auffallenden Überzieher mit einem kurzen Pelzrock, seinen Zylinder mit einer Pelzmütze vertauscht, hat sein Rad genommen und ist nach Döbling gefahren. Er kann leicht schon vor zwölf Uhr sein Ziel erreicht haben. Er kann es also gewesen sein, der den Einbruch fingierte, der die Rettungsgesellschaft anrief. Ich sage nicht, daß er es war – ich fasse nur die Möglichkeit davon ins Auge. Und diese Möglichkeit ist vorhanden.«
»Richtig,« sagte nachdenkend Herr v. Eichen. »Diese Möglichkeit ist vorhanden. Aber warum hätte er dies alles getan? Um König, den er vielleicht um diese Zeit zu Hause wußte, zu ermorden? Er war ja sein Freund, und König förderte ihn durch seine Feder. König hat ihn sozusagen entdeckt – und dafür hing Colmar ihm fast leidenschaftlich an. Er ist ja nicht nur lächerlich eitel, er hat auch einen brennenden Ehrgeiz. Ich kenne ihn ziemlich genau. War doch auch ich selbst es, der ihn bei Mühlheim eingeführt hat.«
Durand hatte seinem Gönner mit Interesse zugehört. Bei dessen letzten Worten griff er in die Innentasche seines Überrocks und brachte eine Zeitung zum Vorschein.
»Noch etwas?« fragte Herr v. Eichen lächelnd.
»Leider nur ein neues Rätsel,« entgegnete Durand. »Sie redeten soeben von Colmars brennendem Ehrgeiz. Wenn er so ehrgeizig ist, wie kommt es dann, daß er eine so glänzende Kritik, wie sie dieses Abendblatt enthält, vor Nadja verbirgt?« Und Durand erzählte den von Klesing in der Bahnhofshalle beobachteten Vorgang.
Herr v. Eichen zuckte die Achseln. »Es ist uns bis jetzt alles noch rätselhaft,« sagte er.
Durand wiederholte seufzend: »Leider alles. – Wissen Sie übrigens, daß Colmar Nadja für seine ehemalige, jetzt von ihm verabschiedete Angebetete ausgibt?«
»Hat es den Anschein, daß sie es wirklich war?«
»Sie hat ihn sehr von oben herab behandelt, soweit ich dies in den wenigen Minuten, während deren ich die beiden beobachten konnte, wahrnahm. – Ich las diese Zeitung,« fuhr Durand fort, »und fand nichts darin, was, soweit wir dies zu beurteilen vermögen, Nadja besonders interessieren konnte, als eben diese Kritik, die doch ein ehrgeiziger und eitler Mensch nicht leicht unterschlägt. Wohl enthält das Blatt auch noch eine winzige Notiz, den Fall König betreffend. Diese lautet: ›In Bezug auf den so rätselhaft abhanden gekommenen Doktor König, den hochgeschätzten Mitarbeiter unseres Blattes, können wir unseren Lesern noch immer keine Aufklärung geben.‹ Hat er ihr etwa diese Zeilen vorenthalten wollen?«
Nach dieser Frage herrschte eine gute Weile tiefes Schweigen in der Amtsstube des Herrn v. Eichen.
Dann bemerkte Durand: »Daß Nadja keinenfalls die zudringliche Person ist, als welche Colmar sie mir schilderte, steht für mich fest. Sie ist ganz gern von ihm gegangen, sie hat ihm nicht einmal die Hand zum Abschied gereicht, sie sah ihn so kalt und so gleichmütig an, als sich der Zug in Bewegung setzte, daß – falls sie ihn je geliebt hat – diese Liebe sicherlich gänzlich erloschen ist. Er muß ihr direkt widerwärtig sein, denn nicht einmal erinnern wollte sie sich seiner. Den Veilchenstrauß, welchen er ihr gebracht, ließ sie absichtlich zurück, was ihn, als er davon Kenntnis erhielt, sichtlich ergrimmte. Diese Zusammenkunft – das ist meine Überzeugung – hatte mit Liebe überhaupt nichts zu tun, auch nicht mit einer vergangenen Liebe.«
»Was also kann sie verbunden, was zusammengeführt haben? Eine gemeinsame Schuld?«
Durand zuckte die Achseln. »Vielleicht nur ein gemeinsames Geheimnis,« sagte er und setzte rasch hinzu: »das die Dame jedenfalls nur sehr ungern mit Colmar teilt.«
Herr v. Eichen nickte stumm.
»Vielleicht aber weiß diese Russin gar nichts von Königs Verschwinden,« sagte Durand, »vielleicht hat Colmar deshalb die Zeitung, die sie sich gekauft, beiseite geschafft.«
»Hat er sich sonstwie auch noch verdächtig gemacht?« forschte der alte Herr.
»Er hat mich bezüglich Nadjas Namen und auch in Bezug auf ihr Reiseziel irrezuführen versucht.«
»So?«
»Er hat die Dame einmal Amelie und dann wieder Madeleine genannt. Später gab er zu, daß sie Nadja heiße – Nadja Kerafski. Nadja dürfte ja stimmen, ob auch Kerafski, das wird sich erst zeigen. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß auch dieser Name ein von Colmar rasch erfundener ist. Er hat ja auch, um ihr wirkliches Ziel zu verschleiern, schnell Krakau, wohin er selbst ihr die Karte besorgte, mit Prerau vertauscht.«
»So ist es also sein Bestreben, uns von Nadjas Spur abzubringen?« sagte verwundert den Kopf schüttelnd Herr v. Eichen.
»Offenbar ist das seine Absicht. Nun, es ist nur gut, daß Klesing dieser Russin so dicht auf den Fersen ist.«
»Meinen Sie?« sprach eigentümlich lächelnd der Oberpolizeirat.
Durand sah ihn aufmerksam an, während er, seinen Gedanken laut zu Ende führend, weiterredete: »Und gut ist's, daß bald eine Nachricht von Klesing da sein muß. Ich beauftragte ihn, wohl darauf zu achten, mit wem Nadja in Krakau, oder wo sonst ihre Reise zu Ende geht, verkehren wird – falls sie sich überhaupt dort aufhält. – Es ist übrigens auch möglich, daß König, falls er noch lebt, unterwegs sich zu ihr findet. Klesing würde ihn leicht nach der Photographie, die er bei sich trägt, erkennen.«
Herr v. Eichen trommelte mit seinen schlanken Fingern auf einem Stoß Papieren, der vor ihm auf dem Tisch lag. Wieder lächelte er auf ganz eigentümliche Art. »Ich habe vor dem Zufall nicht umsonst eine gewisse Scheu,« bemerkte er dann ganz unvermittelt. »Es ist nämlich bereits ein Telegramm da.«
»Von Klesing?« rief Durand, Schlimmes ahnend.
Herr v. Eichen reichte ihm eine Depesche, die, von anderen Papieren bedeckt, auf dem Tisch gelegen hatte.
»Klesing wird nicht sobald wieder Dienst tun können,« sagte er, während Durand ärgerlich das Telegramm las.
Es lautete:
»Oderberg, den 8. 3., 5 Uhr 45 Minuten Morgens. Habe mir eine Kopfwunde zugezogen, liege nach längerer Ohnmacht in der Wohnung des Stationschefs. N. K. vermutlich nach bewußtem Ziele weitergereist. Habe vorsichtshalber nach Trzebinia, Granica und Krakau depeschiert, Dame so und so aussehend sei anzuhalten. Zu mehr leider derzeit nicht fähig. Brief folgt. Klesing.«
»Ich wundere mich nur, daß von Krakau noch keine Nachricht hier ist,« bemerkte Herr v. Eichen.
Durand lächelte. »Ich wundere mich nicht darüber,« entgegnete er. »Colmar hat nämlich auch depeschiert. Ich konnte ihn daran nicht hindern.«
»Wann hat er depeschiert?«
»Heute nacht.«
»Wissen Sie auch, wohin?«
»Nein. Aber ich kann mir's denken, daß Nadja irgendwo unterwegs die Depesche in die Hand bekommen und daß sie daraufhin nicht nach Krakau reisen wird – falls sie an unserem Fall wirklich beteiligt ist.«
»Nun, wenn wir auch sie nicht fassen,« meinte Eichen gleichmütig, »das eine Ende des Fadens, Herrn Colmar, haben wir ja, da werden wir früher oder später auch das andere Ende in die Hand bekommen. Auch werden wir endlich den Namen dieser blonden Schönheit erfahren.«
Durand hatte sich erhoben. Er griff nach seinem Hut.
»Warum wollen Sie denn selbst zum Telegraphenamt gehen?« fragte der Oberpolizeirat.
Sein junger Freund lächelte. »Vielleicht weil ich neugieriger und daher ungeduldiger bin, als es nötig wäre,« sagte er; »jedenfalls aber hoffe ich auf diesem Wege noch etwas zu erfahren. Der Fiaker Nummer 184 hat nämlich seinen Standplatz sehr nahe am Haupttelegraphenamt – vielleicht finde ich ihn sogleich.«
»Was ist's mit ihm?«
»Er hat den Herrn gefahren, der in der Nacht vom 3. auf den 4. März bei der Elisabethbrücke ausgestiegen ist. Da ich sogleich ein gewisses Interesse für diesen Herrn fühlte, habe ich mir die Nummer dieses Wagens notiert.«
»Gut, gut, Doktorchen. Gehen Sie und lassen Sie es mich bald wissen, falls Neues auftaucht.«
Ein Händedruck noch, und Durand ging.
Etwa zwanzig Minuten, nachdem er Herrn v. Eichen verlassen hatte, wußte er schon, daß in der verflossenen Nacht um ein Uhr zwanzig Minuten eine Frau eine Depesche aufgegeben hatte, welche an einen Passagier des Nachteilzuges der Nordbahn, Strecke Wien – Krakau, aufgegeben worden war. Dieser Passagier hieß Nadja Kissilew. Die Depesche lautete:
»Bewußte Sendung geht unter der Bedingung, daß Sie direkt nach Hause fahren, morgen noch an Ihre Adresse ab. Sonst wird alles rückgängig gemacht. Der wichtige Grund für dieses mein Ersuchen folgt brieflich. Bitte mir einstweilen nicht zu schreiben, da ich verreise. Antworten Sie mir sofort per Draht unter der Adresse der Frau T. B. S.«
Durand las die wenigen Zeilen auf der Stiege des Haupttelegraphenamtes noch einmal aufmerksam durch.
»Nadja Kissilew also heißt sie,« dachte er, die Telegrammabschrift zusammenfaltend. Und während er sie in einen Umschlag schob und diesen an Herrn v. Eichen adressierte, sagte er leise vor sich hin: »Sie wäre uns also entschwunden – für einstweilen wenigstens,« setzte er ganz gemütsruhig hinzu und begab sich dann auf die Freiung, wo der Fiaker Nummer 184 seinen Standplatz hatte.
Der Mann und sein Fuhrwerk waren aber nicht da. Durand hatte eine kurze Unterredung mit dem diesem Platze zugewiesenen Wachmann und kehrte alsdann wieder zur Polizeidirektion zurück, woselbst derzeit auch schon Alexin behufs weiterer Vernehmungen untergebracht worden war.
Durand suchte ihn sogleich auf. Er fand den jungen Russen in sehr verdrossener Stimmung.
»Wie lange wird man mich denn noch hier behalten?« war dessen erste, in ziemlich barschem Ton gestellte Frage.
Durand hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, seinen Hut auf den Tisch zu stellen, an welchem der Russe saß, auch jetzt noch immer saß, denn er hatte es nicht der Mühe wert erachtet, sich bei Durands Eintritt zu erheben.
Erst jetzt, unter Durands scharfem Blick errötend, stand er langsam auf und wiederholte in weniger gereiztem Ton die schon einmal gestellte Frage.
Durand zuckte die Achseln, und langsam seine Handschuhe ausziehend, sagte er gleichmütig: »Was wollen Sie? Es muß alles seinen Gang nehmen. Ihr Gedächtnis hat ja auch keine Eile, warum also sollen wir uns beeilen. Außerdem geschieht Ihnen dadurch, daß wir Sie hier festhalten, ganz bestimmt kein Unrecht. Die Zeit, welche Sie in der Untersuchungshaft verbringen, wird Ihnen ja doch wahrscheinlich in Ihre Strafhaft eingerechnet.«
Über Alexins Gesicht verbreitete sich der Ausdruck tiefen Grimmes.
»Ist Ihnen noch nicht eingefallen, was Sie von König wollten?« fragte Durand.
Der Russe schwieg.
»Von König, der um die Zeit, als Sie das Rad stahlen, ermordet worden ist,« setzte Durand langsam, die Blicke fest auf Alexin gerichtet, hinzu.
Dieser war emporgefahren. Steif aufgerichtet, die Hände wie abwehrend vorgestreckt und sichtlich erblaßt, so starrte er auf seinen Besucher.
Er bot sowohl das Bild vollkommener und zwar echter Überraschung als auch das großen Schreckens.
Letzteres war in seiner Situation erklärlich, und ersterer Umstand kam ihm überaus gut zu statten. Durand wußte jetzt wenigstens eines: falls König ermordet worden war – und dieser Fall deuchte Durand seit kurzem der wahrscheinlichere zu sein – so war Alexin wenigstens an dem Morde nicht beteiligt, ja nicht einmal an der Mordabsicht, denn er wußte nichts von solch einer Tat.
»Sie sagen, König sei ermordet, um jene Zeit ermordet worden,« schrie der Russe auf, und seine Augen traten völlig aus den Höhlen. Er war ganz fassungslos.
Durand beeilte sich, diese Fassungslosigkeit zu benützen. »Sie kennen Colmar,« sagte er rasch. Es konnte eine Frage, es konnte aber auch eine Behauptung sein.
Alexin starrte ihn eine Weile an. »Wieso wissen Sie, daß ich ihn kenne?« fragte er. Es war jetzt etwas Lauerndes in seinem Wesen.
Durand machte eine Bewegung der Ungeduld.
»Leugnen Sie es nur nicht.«
»Ich leugne es ja nicht,« entgegnete nach einer Pause der andere. Es zuckte dabei in seinem verlebten Gesichte, und sehr bald setzte er höhnisch hinzu: »Wer immer jedoch diesen Mord begangen hat – Colmar war es nicht.«
Wie bestimmt und wie grimmig und auch wie höhnisch das klang! Alexins Hirn mußte jetzt der Tummelplatz chaotischen Denkens sein, dies war aus der heftigen Arbeit seiner Gesichtsmuskeln und dem wirren Ausdruck seines Blickes zu erkennen. Der eine Gedanke jedoch, der, dem er soeben mit voller Bestimmtheit Ausdruck gegeben, der hatte sich sofort in voller Klarheit in ihm gebildet.
Durand wunderte sich heimlich darüber, versäumte jedoch deswegen nicht die gute Gelegenheit, die ihm dieses nervösen Menschen hohe Erregtheit bot. Er hatte ja noch eine wichtige Frage zu stellen, und er stellte sie, oder vielmehr er stellte noch eine Behauptung auf. »Und auch Nadja kennen Sie,« sagte er.
Da warf Alexin, als wolle er einer Gefahr ausweichen, den Kopf zurück, und dann sank er totenbleich auf seinen Stuhl. »Nadja – Nadja,« murmelte er, »was wissen Sie von ihr? Warum nennen Sie jetzt ihren Namen?«
»Sie ist in diesen Fall verflochten.«
»Das ist nicht möglich!«
»Und Colmar nennt sie seine Geliebte.«
»Der Schurke lügt!«
»Wieso wissen Sie das?«
»Weil –« Alexins Zähne knirschten, seine Hände ballten, seine Lippen schlossen sich.
»Nun, so reden Sie doch!«
Aber Alexin schwieg. Auf seiner Stirne entstanden Schweißperlen, und er fing zu zittern an.
Durand erwartete, daß jetzt Alexin von seiner schrecklichen Krankheit wieder hingeworfen werden würde.
Aber dieser erholte sich bald. Und je ruhiger er wurde, desto mehr Trotz und Verbissenheit drückten sich in seinem Gesichte aus. Und noch etwas zeigte sich darin – ein Lauern und irgend etwas Schlechtes, ein Zug von Cynismus, von Gemeinheit, welchen der doch recht scharf beobachtende Durand bis dahin in des Russen Gesicht nicht gefunden hatte.
»Nun?« fragte er harten Tones. Dieser junge, armselige Mensch, in welchem die Natur fremde oder eigene Sünden schon so schwer bestraft hatte, war ihm jetzt recht unsympathisch.
Alexin zuckte die Achseln. »Warum fragen Sie mich nach Nadja? Fragen Sie diese doch selbst,« entgegnete er endlich und wollte gleichgültig dabei aussehen, aber seine Augen waren voll geheimnisvoller Sorge, und sein Atem ging schwer.
Durand lag nichts daran, ihn in seiner Aufgeregtheit zu belassen, er antwortete daher gleichmütig: »Fragen Sie doch einmal jemand, den Sie nicht haben.«
Da sah er ein jähes Aufblitzen in des Russen Augen. Das hatte er erwartet. Jetzt taute Alexin auch wieder auf. Er schaute freier, aber gleichwohl mied er noch immer Durands Blick, und es war auch merklich jedes seiner Worte wohl überlegt.
»Das braucht Sie nicht zu kränken,« begann er. »Nadja hat keinesfalls bei einem Verbrechen mitgewirkt. Die ist besser als wir beide zusammen.«
Er mußte über diesen Schluß seiner Rede selber lächeln, so wie auch Durand lächelte, während er sich für die merkwürdige Zusammenstellung, die sich Alexin da gestattet hatte, ironisch verbeugte.
»Wenn nur Colmar da ist,« setzte Alexin lauernd hinzu.
»O ja, der ist da.«
Jetzt wurde der Russe lebhaft. Mit eigentümlich cynischem Lächeln sagte er: »Auch ihm werden Sie übrigens nichts anhaben können. Wenn König ermordet wurde, hat Colmar damit nichts zu tun – der hätte, wenn es in seiner Macht gelegen wäre, Königs Leben sich ganz gewiß erhalten.«
»So! Sich hätte er es erhalten?«
»Sich, ja sich!«
»Und weshalb hatte Königs Leben gerade für Herrn Colmar so hohen Wert?«
»Tote Kritiker nützen einem nichts mehr.« Wieder verzerrte der Hohn des Russen hageres Gesicht.
»Um wen trauert Nadja?« fragte ganz unvermittelt Durand.
Alexin schaute ihn überrascht an. »Sie geht in Trauerkleidern?« rief er. »Wie können Sie das wissen?«
»Ich habe Nadja gesehen.«
Der Russe fuhr empor. »Sie war hier?«
»Gestern abend war sie noch hier. Colmar hat sie auf den Bahnhof begleitet.«
»Sie war jetzt hier,« murmelte der andere, »und sie war bei ihm!«
Er versank in Nachdenken, er hatte offenbar ganz vergessen, daß er nicht allein war. Durand fragte sich, wen Alexin mit dem »ihm« gemeint haben könne – König oder Colmar.
»Warum also geht sie in Trauer?« fragte er laut noch einmal. Dieser Umstand interessierte ihn plötzlich.
Aber er bekam keine Aufklärung darüber, bekam sie wenigstens nicht sogleich, denn Alexin mußte, offenbar in seinem eigenen Interesse, erst reiflich darüber nachdenken, ob er eine solche geben solle oder nicht.
Er tat vorher noch selber eine Frage. »Sprachen Sie denn nicht mit ihr, wenn Sie sich doch so sehr für sie interessieren?«
»Ich sprach nicht mit ihr,« gab Durand ohne weiteres zu, »aber mit Ihnen rede ich schon recht lang, erwartend, daß Sie, der Sie bald vor einem sehr scharfen Untersuchungsrichter stehen werden, es zur Milderung Ihrer Lage schon mir bekennen sollen, inwieweit Sie in diesen Fall verwickelt sind. Offenheit stimmt ja immer mild. Wenn Sie schon in der Voruntersuchung durch Offenheit beweisen, daß Sie sich nicht auf hartnäckiges Leugnen verlegen wollen, wird es sehr günstig für Sie stimmen.«
Alexin lächelte spöttisch. »Man wird mich nie in diese Mordaffäre verwickeln können,« sagte er sorglos. »Ich habe König nicht gekannt, habe nie mit ihm zu tun gehabt und habe keinerlei Nutzen von seinem Tode, warum hätte ich mich also an diesem Verbrechen beteiligen sollen?«
»Wird Ihnen der Beweis für all das, was Sie da sagten, gelingen?«
»Wird dem Gerichte der Gegenbeweis gelingen?« fragte Alexin lächelnd. »Was man mir einzig beweisen kann, ist, daß ich mich in den Besitz eines fremden Fahrrades gesetzt habe, und das habe ich ja schon eingestanden.«
»Ja, und auch, daß dieses Fahrrad am 3. März in der Mitternachtsstunde, also genau in der Zeit, in welcher in Königs Haus das Verbrechen geschah, in Ihren Besitz kam, und zwar in oder vor Königs Haus in Ihren Besitz kam.«
Alexin wurde bleich. »Sie sagen, daß eben in dieser Zeit – –« Der Russe stockte. Er sah jetzt sehr geängstigt aus.
Durand fuhr ernst fort: »Ich sage es nicht nur, es verhält sich wirklich so.«
»Aber mehr kann man mir ja doch nicht beweisen,« meinte wieder aufatmend der Russe.
»O doch. Zum Beispiel, daß eine Ihrer Aussagen auf Unwahrheit beruht.«
»Welche?«
»Sie haben angegeben, daß Sie am 3. März zwischen zehn und zwölf Uhr Nachts von einem Unbekannten im Gasthause bis zum Berauschtsein traktiert worden seien. Das ist nicht wahr. Es ist bereits erhoben, daß Sie von etwa neun Uhr bis gegen zwölf Uhr ohne Gesellschaft dort waren. Sie saßen im Extrazimmer, an dem Ecktisch, der dem Ofen zunächst steht, verlangten, daß, weil Sie fieberten, eingeheizt würde, und ließen sich nebst der Speise- und Weinkarte auch Schreibzeug bringen. Noch ehe man Ihnen die bestellten Speisen brachte, hatten Sie einen Brief geschrieben, den Sie während des Essens noch einmal überlasen. Er mochte Sie gereuen, denn Sie zerrissen ihn und warfen ihn ins Feuer. Sie verhinderten es aber, daß man das Schreibzeug wegtrage. Sie wollten demnach noch schreiben; es kam jedoch nicht dazu, denn eine Gesellschaft von Herren und Damen, die nach Ihnen gekommen war, störte Sie. Sie kokettierten danach mit einer der Damen – es war eine helle Blondine –, ließen sich, wiewohl Sie schon ziemlich viel getrunken hatten, noch eine Flasche Klosterneuburger geben und tranken der blonden Dame halbverstohlen zu. Einer der Herren der Gesellschaft machte hierauf eine Ihnen geltende, scharfe Bemerkung, worauf Sie – Sie scheinen wenigstens im Halbrausch nicht sehr mutig zu sein – sich Ihrer Flasche allein widmeten. Die Gesellschaft, sowie die wenigen anderen Gäste, welche in dieser sehr unfreundlichen Nacht das Gasthaus aufgesucht hatten, verließen es vor Ihnen. Sie waren nun der einzige Gast in der Extrastube, welcher bis gegen Mitternacht blieb. Ehe Sie gingen, tranken Sie noch einen Kognak. Ihre Zeche betrug drei Gulden vierundfünfzig Kreuzer. Stimmt es?«
»Es stimmt,« sagte Alexin.
»Alles, meine ich?«
»Es stimmt,« wiederholte Alexin.
»Na, sehen Sie. So wie man auf das gekommen ist, so wird man auch auf alles andere kommen – früher oder später, mit oder ohne Ihr Hinzutun. Man wird schließlich doch wissen, was für ein eigenes oder fremdes Interesse Sie veranlaßte, Königs Wohnung am kritischen Tage um fünf und sieben und – um zwölf Uhr Nachts aufzusuchen. Man wird auch wissen, welche Art die Schurkerei ist, die Sie gerade an diesem Tage verhindern wollten, wird wissen, ob derlei überhaupt existierte oder ob vielleicht eine Schurkerei erst in Szene gesetzt werden sollte. Man wird schließlich auch wissen, woher Sie das Geld nahmen, um in der Nacht vor Ihrer Verhaftung Zechen von fünfunddreißig Gulden machen und bar bezahlen zu können.«
»Ich sagte es ja schon, die nahm ich aus dem Fahrradtäschchen,« entgegnete der Russe, aber er zeigte sich doch recht unsicher dabei.
Durand lachte ihm einfach ins Gesicht. »Wenn Sie schon lügen, so bleiben Sie doch wenigstens bei dem Wahrscheinlichen,« riet er ihm in gemütlichem Tone. »Wenn es auch glaubhaft wäre, daß einer in der Tasche seines so schlecht verwahrten Rades diese immerhin beträchtliche Geldsumme ließe, nützte Ihnen dieser Umstand doch wenig in Bezug auf den Ausweis, den Sie werden leisten müssen. Die Frau, bei welcher Sie während der letzten sechs Wochen wohnten, wird Ihnen ins Gesicht sagen, daß Sie in dieser Zeit zuweilen darbten, zuweilen aber auch in Saus und Braus lebten. Mit welchem Gelde?«
Alexin schwieg.
»Nun?« fragte Durand ernst, sich vom Stuhle erhebend.
Der Russe überlegte. Wieder kam der Trotz in ihm obenauf. Auch er stand auf. »Ich lasse mich nicht überrumpeln,« sagte er grob.
Durand langte nach seinen Handschuhen. »Es wäre gut für Sie, wenn Sie redeten, jetzt schon redeten,« bemerkte er freundlicher.
Da lachte Alexin höhnisch: »Für Sie wäre es gut – nicht für mich.«
»Und vielleicht auch für Nadja Kissilew.«
Einen Augenblick lang wurde der Russe ernst.
Dann aber lachte er spöttisch.
Da sagte Durand: »Sie sind sehr heiter. Es berührt Sie demnach nicht, wenn man diese Nadja Kissilew festnimmt?«
Alexin zeigte seine unangenehm großen, weißen Zähne. »Sie haben sie noch nicht!« höhnte er.
»Wir werden sie erreichen.«
»Wann – wo? Rußland ist groß, und der Kissilew gibt es dort viele. Suchen Sie einmal in Österreich einen Meyer – einen, von dem Sie nichts wissen, als daß er Meyer heißt – Sie werden eher eine Stecknadel in einem Heuschober finden.«
Alles das hatte der Russe, der offenbar in Bezug auf Nadja Kissilews Sicherheit ganz ruhig war, voll lachenden Hohnes gesagt.
Durand ärgerte sich unsäglich darüber, daß er zu diesem Cyniker so warm, so gemütlich geredet hatte, wie eben der Mensch zum Menschen spricht. Bisher war er mit dieser seiner Taktik, zu welcher sein warmes Herz ihm riet, meist ganz gut gefahren. Aber freilich dieser Wasili Alexin oder wie er heißen mochte, der war bis ins Mark hinein Cyniker, der war einer von jenen gefährlichsten aller Gefährlichen, welche jenseits von Gut und Böse stehen – nicht nur mit hohlen Phrasen, sondern mit ihren Taten. Sein ganzes Gehaben sprach dafür. Aber Nadja mußte seine Sympathie besitzen, denn plötzlich leuchteten seine Augen auf, und gar froh klang seine Stimme, als er sagte: »Sie werden Nadja nicht belästigen können. In ganz Wien ist sie nur Colmar und mir bekannt, und wir beide werden Ihnen den Weg zu ihr nicht weisen.«
Durand zuckte die Achseln.
»Und ebensowenig werde ich über Colmar aussagen. Der soll in meiner Hand bleiben.«
»So – haben Sie ihn in der Hand?«
Alexin schwieg, und Durand lenkte das Gespräch wieder auf Nadja. »Was ist Ihnen diese Dame?« fragte er.
»Weder meine noch seine Geliebte. Darauf können Sie Gift nehmen. Und« – des Russen Stimme wurde plötzlich weich – »da sie, bei Gott, weder mit diesem noch mit einem anderen Verbrechen etwas zu tun hat, lassen Sie die Unglückliche ungeschoren – sie trauert um einen, den sie unsäglich geliebt hat.«
»Das wissen Sie so plötzlich?«
»Jetzt weiß ich es. Guten Abend!«
»O, Sie entlassen mich schon,« entgegnete Durand ironisch und nahm seinen Hut. »Sie haben mir demnach nichts mehr zu sagen?«
»Nichts mehr.«
Wasili Alexin kehrte ihm ganz einfach den Rücken.
»Dann bleibt mir nichts übrig, als auch zu reisen,« sagte Durand.
Im nächsten Augenblick schloß sich die Tür hinter ihm. Im Korridor draußen blieb er noch eine Weile stehen, aber Alexin rief ihn nicht zurück. –
Eine halbe Stunde später wurde Wasili Alexin in das Landesgericht gebracht. Er hüllte sich bei dieser Gelegenheit wieder in seine Frechheit und in seinen Trotz.
Als er in das Zimmer geführt wurde, darin er die Untersuchungshaft zubringen sollte, nickte er ganz zufrieden, denn es war ein fast freundlicher Raum.
»Meinetwegen sitze ich hier monatelang,« sagte er und schlug in einer Art wilder Lustigkeit dem Mann, der ihn hergeführt hatte, auf die Schulter.
Der so vertraulich Behandelte, dem natürlich schon manch absonderlicher Bursche unter die Finger gekommen war, und der es verlernt hatte, leicht in Erstaunen zu geraten, entgegnete gemütsruhig: »'s wird sich auch Ihre Lustigkeit noch legen, falls Sie's vorhaben, so lang' zu sitzen. – Ich an Ihrer Stell' tät' lieber gleich red'n,« fügte er gutmütig hinzu.
Alexin aber schüttelte den Kopf und sagte dem Alten höhnisch lächelnd in seiner Muttersprache etwas ins Gesicht.
»So, so. Zeit gewonnen, alles gewonnen,« übersetzte der, worüber Alexin sehr betreten zurückwich. »Sehen Sie,« riet der Gefängnisaufseher, »solche Dummheiten darf man nicht machen. Wenn einer schon kein ehrliches Geständnis ablegen will, dann soll er überhaupt nichts reden, gar so etwas nicht, denn jetzt haben Sie schon zugegeben, daß Sie Ursache haben, die Geschichte auf die lange Bank zu schieben.«
»Habe ich wissen können, daß Sie Russisch verstehen?« knurrte Alexin, plötzlich sehr übellaunig.
»Ja, freilich haben Sie das nicht wissen können. Also entschuldigen Sie gütigst, daß ich ein bißchen was davon gelernt habe. Ich bin in Brody geboren, und dort hört man bekanntlich die russischen Hähne über die Grenze herüberkrähen.«
Mit diesen spöttischen Worten verließ ihn der alte Gefängniswärter.
»Verwünscht!« murmelte Alexin, seine Mütze grimmig in eine Ecke schleudernd. »Wenn ich nur wüßte, ob sie Ungelegenheiten haben kann! Dumm wäre es, wenn ich mir diese Geldquelle, die noch oft lustig sprudeln soll, verstopfte.«
Der alte Gefängniswärter aber meldete dem Kriminalbeamten, welchem die Untersuchung des Falles König zugewiesen worden war, die charakteristische Bemerkung Wasili Alexins. Der Untersuchungsrichter war nicht allein. Sein Freund, Doktor Gröden, weilte bei ihm.
Als der Aufseher gegangen war, nickten die beiden Herren einander zu.
»Ein frecher Bursche,« sagte Doktor Gröden.
»Und nach seiner Bemerkung zu schließen, schwerer schuldig, als du meinst,« setzte sein Freund hinzu.
Gröden-Durand zuckte die Achseln, schaute auf seine Uhr und erhob sich, indem er sagte: »Ich habe dir also alles, was die Voruntersuchung ergab, mitgeteilt.«
»Alles ist notiert. Ist ohnehin schon ein gewaltig großes Material.«
»Und ich bin bis gegen acht Uhr in der Villa Mühlheim.«
»Ja, man muß dich finden können, falls irgend etwas Besonderes eruiert wird. Und zur Abfahrt des Schnellzuges nach dem Norden bist du auf dem Bahnhof zu finden. Ich fürchte jedoch, daß sich diese Sache in die Länge ziehen wird, und ich glaube auch nicht, daß dieser Russe, falls er wirklich ein solcher ist, so schnell seinen Trotz aufgeben wird, und daß ich dir also schon heute etwas auf ihn Bezügliches zu melden haben werde.«
»Was mir diese Reise ersparte.«
»Diese unerwünsche Reise!« lachte der andere. »Bei Edwine im molligen Wintergarten sitzen, wäre freilich ungleich angenehmer.«
»Spotte nur! Du hast dein Glück freilich im Trockenen, da kannst du leicht über mich lachen.«
»Ich tu's aber nicht, mein Alter. Ich freue mich ganz im Gegenteil unbändig darüber, daß Eichen dir das Haus Mühlheim geöffnet hat. Übrigens – Edwinens Vater schwärmt von dir kaum weniger als sie selber. Er war heute bei mir. Er erbot sich noch einmal, uns alle irgendwie nötig werdenden Geldmittel zur Verfügung zu stellen, und bei dieser Gelegenheit suchte er auf deinen wahren Namen und deine wirkliche Stellung zu kommen. Natürlich wich ich einer Antwort aus, bestätigte ihm jedoch mit Vergnügen, was er selbst etliche Male aus vollster Überzeugung erwähnte, daß du nicht nur ein beispiellos liebenswürdiger Mensch, sondern auch einer der feinsten und scharfsinnigsten Kriminalisten der Jetztzeit seiest.«
Gröden schüttelte dem Freunde lachend die Hand.
»Dir merkt man's an, daß du im Glücke sitzest. Küß deiner lieben Frau statt meiner die Hand. Und jetzt – Servus! Bei allem Besprochenen bleibt es. Nummer 184 schicke ich dir vom Bahnhofe aus hierher.«
»Gute Reise also und noch mehr Erfolg, als du bisher schon hattest. Wir werden die Hände hier auch nicht in den Schoß legen. Servus, Alter!«