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Am Abend des 7. März saßen die Töchter Mühlheims an einem Fenster des Wintergartens und blickten auf den Park hinaus, auf dessen verspäteter Winterpracht die letzten Sonnenstrahlen lagen.
Die Schwestern waren nicht allein.
Auch Erich war da und sein Hofmeister und die hübsche Lisi. Alle bemühten sich, die arme Lena aus ihrem peinvollen Sinnen zu reißen.
Aber dies gelang ihnen nicht recht. Sie mochten was immer für Themata anschlagen, keines war im stande, Lenas Aufmerksamkeit zu fesseln. Wenn sie sich auch zuweilen aufraffte, um eine Frage zu beantworten, oder wohl gar selber eine Bemerkung zu machen, fiel sie doch bald wieder in ihr schmerzliches Brüten zurück.
Erich, der nicht übermäßig viel Geduld besaß, wußte bald nichts mehr zu sagen, und so half er denn Lisi, die welken Blätter zu sammeln, welche sich an den vielen Pflanzen vorfanden. Bei dieser Gelegenheit kamen die beiden dazu, einen Blick auf den Platz hinunter zu tun, der sich dicht unter dem Hause hinbreitete. Im Sommer gab es da eine kleine Wiese, in deren Mitte eine Zypressengruppe stand, jetzt ragte die Gruppe der prächtigen, alten, düsteren Bäume aus tiefem Schnee auf, auf welchem es, ebenso wie auf ihnen selber, flimmerte und blitzte, als hätte man Millionen Brillanten darüber hingestreut.
»Das Schönste, dieses Flimmern, kann Colmar doch nicht malen,« sagte Erich laut zu den anderen hinüber.
Da kamen auch die beiden Mädchen heran und schauten auf den fleißigen, ganz in seine Arbeit vertieften Künstler hinab. Colmar saß in einem dicken Jagdpelz und hohen Stiefeln auf einer der Gartenbänke und malte eifrig darauf los. Er hatte nicht sein Skizzenbuch, er hatte seine Staffelei und Leinwand mitgenommen. Seine Riesenpalette war mit nur wenigen Ölfarben besetzt. Er hatte, man konnte es von hier oben aus recht gut sehen, in den paar Stunden, während deren er arbeitete, schon recht viel geleistet.
Erich bekam plötzlich Lust, zu ihm hinabzugehen, verschwand aus dem traulichen Raum, und gleich danach sah man ihn unten auftauchen und neben Colmar treten.
»Schade, daß er ihn gerade jetzt stört,« meinte Herr Braun, »und daß Herr Colmar sich stören läßt. Er wird vielleicht nicht wieder so schöne Lichteffekte haben.«
»Er ist nervös, er kann nicht malen, wenn man ihm zusieht,« erklärte Lena und setzte aufseufzend hinzu: »Das hat mir Hans einmal gesagt.«
»So? – Das ist mir neu,« erwiderte Edwine. »Ich begreife übrigens diese Art von Nervosität. König hat ihn wahrscheinlich in seinem Atelier aufgesucht und ist bei dieser Gelegenheit darauf gekommen.«
»Ja, wahrscheinlich bei solch einer Gelegenheit. Ich weiß mich nicht mehr so recht darauf zu erinnern.«
Lena versank gleich wieder in ihre Lethargie. Sie wurde aber energisch daraus erweckt. Ihr Vater und Durand waren eingetreten, auch letzterer ohne Hut, woraus Edwine sofort erfreut schloß, daß er nicht gleich wieder gehen wolle.
Lena hatte sich erhoben. Sie sah ihren Vater angstvoll fragend an.
Er faßte ihre Hand und sah sie dann, leise den Kopf schüttelnd, traurig an.
»Du kommst aus der Stadt, Papa?« forschte sie zitternd.
»Ja, mein Kind.«
»Du kannst mir wieder nichts sagen?«
»Nichts, Lena. Nichts Gutes und nichts Schlechtes.«
»Und warst doch bei Herrn v. Eichen?«
»Gewiß, Liebling. Auch Herr Eugen war mit mir unserem alten Freunde.«
Lena streckte Herrn Durand die Hand hin, die er die Lippen drückte.
»Sie waren also auch bei Herrn v. Eichen?« fragte Edwine, sich zu Durand wendend. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln glitt dabei über ihr liebes, in diesen Tagen der Aufregung auch ein wenig schmäler gewordenes Gesicht. »Wie gefiel Ihnen der alte Herr?«
»Sehr gut,« lautete die Antwort. »Ihn zum Freund zu haben, das muß ein gutes Gefühl sein.«
»Und ist eine Gewähr dafür, daß er einen für einen Vollmenschen hält,« fügte Mühlheim mit Betonung hinzu.
Er sah nicht, daß Edwinens Augen aufleuchteten, daß ein frohes Lächeln ihre Lippen umspielte, aber er wunderte sich ein bißchen darüber, daß dieser Doktor, dieser angebliche Durand, der bis jetzt die Erwartungen, die man in ihn gesetzt, noch gar nicht erfüllt hatte, und den er trotzdem schon geradezu ins Herz geschlossen, Edwine innerhalb zweier Minuten schon zum zweiten Male die Hand küßte.
Auch Herrn Braun war dies aufgefallen. Er lächelte und sah dann vergnügt von Fräulein Edwine auf den Elsässer Besuch, der es viel besser als Herr Colmar verstand, die junge Dame erröten zu machen.
Als Braun gleich danach aus dem Wintergarten ging, den soeben auch Lisi verlassen hatte, erreichte er diese noch im Korridor.
Hand in Hand gingen die zwei die Stiege hinunter.
»Du, mir scheint, zwischen Fräulein Edwine und Herrn Durand spinnt sich etwas an,« sagte Braun.
Da schüttelte Lisi den Kopf ganz entrüstet: »Was fällt dir ein! Hab' ich dir's nicht gesagt, daß sie schon einen liebt?«
»Den sie nicht kriegen kann.«
»Wenn auch. Edwine denkt nicht daran, ihm untreu zu werden.«
»Kleine Schwärmerin! Und du – könntest du an einen anderen denken und ihm süß zulächeln, wenn du mich durchaus nicht bekommen könntest?«
Lisi hatte eine gar liebe Antwort auf diese Frage.
Ihre Augen wurden feucht, und sie küßte ihren Verlobten, auf den sie gewiß noch lang, recht lang warten mußte.
Und dann hatte auch sie eine Frage. »Hat Edwine dem Herrn Durand auch wirklich süß zugelächelt?« fragte sie ungläubig.
Braun nickte. »Süß, wundersüß!« sagte er herb. »Ich verstehe mich doch darauf.«
»Dann verstehe ich sie nicht mehr,« sagte entrüstet Lisi, die so viel auf Treue hielt. –
Etliche Minuten später ging Braun auf Colmar zu, neben welchem Erich auf der Bank kauerte und sichtlich fror.
»So laufen Sie doch ein bißchen herum, oder wollen wir mit Schneebällen werfen? Sie sind doch nicht warm genug gekleidet, daß Sie wie Herr Colmar im Freien sitzen können,« ermahnte Braun seinen Schüler.
»Das stört Herrn Colmar,« entgegnete Erich. »Auch hat er mir gezeigt, wie man die Halbschatten anlegt.«
»Merkwürdig!« dachte Braun. »Zu einer Lektion dieser Art ist es denn doch ein bißchen zu kalt hier.«
»Kommen Sie mit mir auf die große Wiese,« sagte er, »dort wollen wir einen Schneeballkampf ausfechten.«
Colmar wollte etwas reden. Aber er tat es nicht.
Er schaute den beiden Weggehenden nur mit einem seltsamen Blick nach, dann malte er eifrig weiter Die im Wintergarten oben hatten, über allerlei redend, die kleine Szene beobachtet.
Durand stand dicht neben Edwine. Seine Hand streifte die ihrige – weder Mühlheim noch Lena konnten es gewähren; aber jetzt konnten beide bemerken, daß es wie ein Ruck durch Durands Körper ging, und Edwine war heimlich erst recht verwundert, denn sie fühlte plötzlich ihre Hand fest umspannt.
»Jetzt hört er endlich zu malen auf,« sagte Lena.
Auch Durand sagte etwas, sprach aber merkwürdig langsam, wie aus tiefen Gedanken heraus: »Und er malt mit der linken Hand.«
»Ja, Herr Colmar ist ein Linkshänder,« bestätigte Edwine. »Es ist nicht das einzige, das mir an ihm nicht gefällt.«
Sie sah dabei wie zufällig ihren Vater an, begierig, welchen Eindruck ihre Worte auf ihn machen würden.
Herr v. Mühlheim war nicht ungehalten darüber. Aber es kam von einer Seite, von der Edwine es am wenigsten erwartet hatte, Beistand für Colmar.
Lena legte ihre Hand auf den Arm der Schwester und bat: »Rede nicht unfreundlich von ihm. Bis vor kurzem war er mir auch nicht sympathisch, ich hielt ihn für einen Menschen mit allerlei Fehlern. Nun, diese hat er ja auch gewiß, aber er hat auch ein warmes, treues Herz. Er muß gar innig an meinem armen Hans gehangen sein, denn dessen Verschwinden hat ihn furchtbar erregt. Gestern ist er hier bei mir gewesen und hat bitterlich mit mir um den geweint, den auch er so lieb gehabt hat.«
»Aber Lena! Rege dich doch nicht auf! Gewiß, solche Treue gefällt auch uns, aber nun rede ja nichts mehr, Herzchen, werde nur wieder ruhig!«
So sprach Edwine zärtlich auf ihre Schwester ein, welcher schwere Tränen über die Wangen rollten.
Eine halbe Stunde später ging man zu Tisch. Es geschah ohne Lena. Diese hatte sich mit Lisi in ihr Zimmer zurückgezogen.
Neben Colmars Gedeck lag eine Zeitung. Mühlheim hatte sie bei des Malers Eintritt mit freundlicher Feierlichkeit hingelegt.
Colmar ahnte wohl schon, was das Blatt Interessantes für ihn enthielt, denn eine helle Röte flog, als er es gewahrte, über sein hübsches Gesicht, und da er die Zeitung entfaltete, zitterten seine Hände. Er mußte recht nervös sein.
»Ich gratuliere Ihnen,« sagte Mühlheim, ihm die Hand reichend, »Schmeichelhafteres kann man kaum mehr über ein Bild berichten, als da über Ihren ›Aufstand polnischer Bauern‹ geschrieben wurde.«
»Wer hat denn diesmal kritisiert?« fragte – ihre Lippen zuckten merklich dabei – Edwine.
Es wurde ein bedeutender Kunstkritiker genannt, der an Königs Stelle getreten war.
Jetzt erst reichte auch die junge Dame Colmar ihre Hand und sagte: »Nehmen Sie auch meine Gratulation entgegen.«
»Ach, hätte doch lieber König geschrieben!« schaltete Erich ein. Da knisterte die Zeitung in Colmars Hand, und leise, ganz leise, sagte er: »Ja, hätte doch lieber König das geschrieben!«
Klang das wirklich so ausnehmend düster? Oder kam es nur Durand so vor, als habe Colmar die paar Worte durch geschlossene Zähne gesagt?
Sie wurden indessen, fast gleichlautend, noch einmal wiederholt. Mühlheim tat es, als er sich neben Colmar niederließ. Aber der lebensfrohe Mann wollte eine gar zu traurige Stimmung nicht aufkommen lassen. Er klopfte Colmar freundschaftlich auf die Schulter und sagte. »Jetzt aber lesen Sie!« Und sich Durand zuwendend fuhr er fort: »Es ist ein prachtvoll geschriebener Artikel, und Colmar wird darin in die erste Reihe unserer bildenden Künstler gestellt. Na, morgen muß ich endlich auch das Bild sehen. Es haben ja nicht nur die Toten ihr Recht!«
Ganz unversehens war der Kommerzienrat wieder auf das traurige Thema gekommen. Es war diesem eben nicht zu entrinnen.
Auch Colmars Augen, in denen einen Moment lang ein Leuchten des Triumphes aufgeblitzt hatte, erloschen wieder, und er legte das Blatt, darin er kaum erst zu lesen angefangen, ganz still zusammen und steckte es in die Tasche.
Das gefiel Edwine. Sie nickte ihm freundlich zu.
Ob es auch Herrn Durand gefiel, konnte man nicht erkennen. Sein Gesicht drückte nichts als achtungsvolle Teilnahme aus.
Im übrigen hatte er jetzt auch keine Gelegenheit mehr, bei Colmar ebenfalls seine Gratulation anzubringen, denn es wurde schon serviert.
Man trug das Nachtmahl heute so ungewöhnlich zeitig auf, weil Colmar gegen acht Uhr am Südbahnhof eintreffen mußte. Als er Mittags in seiner Wohnung gewesen war, hatte er dort ein Schreiben von einem Kunsthändler vorgefunden. Dieser Mann – so hatte Colmar erzählt – wollte eines Bildverkaufes halber vor seiner Abreise noch mit ihm sprechen. Danach hatte man sich bezüglich des Abendessens gerichtet, denn man wollte nicht, daß Colmar in der großen Kälte, welche derzeit herrschte, den weiten Weg machen solle, ohne ordentlich gegessen zu haben. Auch wußte man, daß er eben jetzt nicht ganz wohl sei und schon deshalb Rücksicht verdiene.
Tatsache war es, daß Colmar, trotzdem er fast den ganzen Nachmittag im Freien gewesen, wenig Eßlust zeigte und zerstreut war. Vielleicht hatte die Besprechung mit dem Kunsthändler eine große Wichtigkeit für ihn. Kurz, er aß so wenig und dieses Wenige so hastig, als die Artigkeit es eben noch gestattete, bat dann, merklich schon nervös geworden, sich entfernen zu dürfen, und ging.
Die anderen blieben noch bei Tische sitzen. Man trug soeben Obst und Käse herein, als Wilhelm ein Telegramm brachte. Es war an Herrn Eugen Durand gerichtet.
Als dieser es öffnete, waren zwei Paar Augen mit hohem Interesse auf sein Gesicht gerichtet. Diese Augen gehörten Edwine und ihrem Vater.
Aber Durands Gesicht verriet nichts Besonderes, nur ein klein wenig Ärger, und Durands Stimme war ganz ruhig, als er sagte: »Mein gnädiges Fräulein – Herr Kommerzienrat! Leider muß auch ich mich sofort entfernen. Einer meiner Bekannten aus Nancy ist angekommen und beruft mich für heute noch zu sich ins Hotel. Da eine Absage nicht mehr gut möglich ist –«
»Aber entschuldigen Sie sich doch nicht lange. Es ist ja selbstverständlich, daß Sie gehen,« sagte Edwine, ihm, der neben ihr saß, die Hand reichend.
Da fiel gerade seine Serviette zu Boden, und während er diese aufhob, flüsterte er seiner Nachbarin ein einziges Wort zu: »Nadja.«
Edwine wußte sich zu beherrschen. Sie hatte schon durch ihn, der ja von ihr auch allerlei Auskünfte brauchte und der ihr schon aus diesem Grunde den Gang der Untersuchung mitgeteilt hatte, erfahren, welche Rolle möglicherweise diese Nadja spielte. Es wäre also nicht verwunderlich gewesen, wenn sie allenfalls bei Nennung dieses Namens zusammengezuckt wäre. Aber sie zeigte keinerlei Bewegung dabei; sie lächelte nur freundlich und wandte sich dann mit irgend einer Bemerkung an Herrn Braun.
Durand hatte sich erhoben.
Auch Herr v. Mühlheim war aufgestanden. Er war ja ein sehr artiger Mann, aber sonst tat er doch nie, was er jetzt tat. Er begleitete seinen jungen Gast bis zur Tür.
Ein Wink mit den Augen, den Durand ihm von den anderen unbemerkt hatte zukommen lassen, war die Ursache dieser besonderen Artigkeit gewesen.
Als Durand ihm die Hand reichte, blieb in der seinigen das Telegramm zurück. –
Einige Minuten später erinnerte sich Mühlheim daran, daß er noch einen Brief schreiben müsse, und zog sich in sein Zimmer zurück.
Mit wenigen Schritten hatte er seinen Schreibtisch erreicht. Sich daran niederlassend entfaltete er mit ein wenig zitternden Händen das Telegramm. Es meldete: »Das Original des Bildes und vielleicht noch einer, der bei N. ist, reist heute mit dem Abendschnellzug der Nordbahn ab. Klesing.«
»Also Nadja ist gefunden!« murmelte Mühlheim, während er das Telegramm in seinem Schreibtische verschloß. Mitten in dieser Beschäftigung hielt er inne. »Und noch einer!« murmelte er. Er sah sehr befriedigt aus. Es kam ja nun endlich diese peinvolle Angelegenheit in Gang und mußte sich schließlich doch bald so oder so aufklären.
Noch einmal nahm Mühlheim die Depesche aus dem Schubfach. Er suchte nach der Aufgabezeit.
Sie war um sieben Uhr fünfundvierzig Minuten aufgegeben worden, und jetzt war es acht Uhr dreißig Minuten.
Die Nachricht war überaus schnell an ihr Ziel gelangt. Natürlich. Es war eine amtliche Depesche. Sie hatte ohne Verzögerung weitergegeben werden müssen.