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Drittes Kapitel.

Mitternacht war vorüber.

Im Ärztezimmer der freiwilligen Rettungsgesellschaft befanden sich zwei Herren. Sie standen in Dienstbereitschaft, waren jeden Augenblick gewärtig, abberufen zu werden, jeden Moment bereit, ihr Können in den Dienst der Nächstenliebe zu stellen.

Der ältere der beiden Herren war Doktor Josephi, einer der leitenden Ärzte der Anstalt, der jüngere, Doktor Brenner, war einer der vielen Wackeren, welche sich dem Institute freiwillig zur Verfügung gestellt hatten. Zu Anfang ihres heutigen Nachtdienstes hatten die beiden Herren über allerlei, das der Tag gebracht, geplaudert, dann aber hatte sich jeder von ihnen in eine andere Lektüre vertieft.

Als es Zwölf schlug, legte Josephi sein Buch hin und verglich seinen Chronometer mit der Wanduhr, dann lauschte er nach der Straße hinaus. »Ist heute aber eine stille Nacht!« sagte er.

»Auch in dienstlicher Beziehung,« setzte Doktor Brenner hinzu, stand, sichtlich ein wenig gelangweilt, auf und dehnte und reckte sich.

Inzwischen hielt Josephi seine Virginia, welche kalt geworden war, über die Flamme der Lampe. Er dachte offenbar dabei an etwas Angenehmes, denn er lächelte vergnügt vor sich hin.

Da veränderte sich ganz plötzlich seine Miene. So sorglos heiter sie gerade noch gewesen war, so ernst und gespannt war sie jetzt.

Auch Doktor Brenner hatte aufgehorcht, denn es hatte am Telephon geläutet.

Der Apparat befand sich im Zimmer, aber er machte sich auch außerhalb desselben bemerkbar. Kaum erscholl die Klingel, als auch schon die zwei im Vorraum wachenden Heilgehilfen in zuwartender Haltung hinter der Glastür erschienen.

Doktor Josephi stand schon, die Hörmuscheln haltend, am Apparat. Sein jüngerer Kollege war, mit einem Notizblock und einem Bleistift versehen, zu ihm getreten, bereit, die Adresse aufzuschreiben, welche vermutlich angegeben werden würde.

Josephi nannte jetzt tatsächlich eine Adresse, welche der andere notierte. Er war merkbar erregt dabei gewesen, dann sagte er in den Apparat hinein: »Ja. Hier Rettungsgesellschaft. – Josephi. – Was gibt's denn bei Ihnen?«

Und wieder horchte er, schüttelte den Kopf, und dann wurde er blaß.

»Was gibt es denn?« fragte jetzt Doktor Brenner, besorgt auf den Kollegen schauend.

Er erhielt nicht sofort Antwort.

Josephi lauschte jetzt, lauschte mit seiner ganzen Seele, und daß diese Seele jetzt nichts weniger denn ruhig war, das konnte man an der ganz unbegreiflichen Spannung in des sonst so gleichmütigen Doktors Gesicht erkennen.

Jetzt ließ er die Hörmuscheln fallen, eilte zur Tür und rief den dort harrenden Männern zu: »Wir fahren sofort nach Döbling.«

Auf diese Weisung hin verschwanden die zwei Heilgehilfen augenblicklich.

»Sie bleiben, Herr Kollege,« wandte Josephi sich jetzt zu dem zweiten Arzt, der schon nach seinem Überrock langte, und warf sich seinen Havelock um. »Telephonieren Sie dem Polizeiamt Döbling, daß es sofort Leute an die gegebene Adresse entsenden solle. Es handelt sich um ein Verbrechen, vermutlich um einen Mord.«

»Wer hat uns denn angerufen?« fragte Brenner hastig.

Ebenso hastig wurde geantwortet: »Doktor König – er tat es unter den merkwürdigsten Umständen. Er selber ist das Opfer des Verbrechens. Denken Sie nur, er konnte mit seiner heiser gewordenen Stimme nichts mehr sagen, als: ›Einbrecher, angefallen, verwundet, schnell –‹«

Josephi stand dabei schon auf der Schwelle. Jetzt stülpte er seinen Hut auf den Kopf, und fort war er.

Ein paar Sekunden lang starrte der junge Arzt ihm nach, dann ging er kopfschüttelnd an das Telephon, um Josephis Auftrag auszuführen.

Aus irgend welchen Gründen konnte er jedoch nicht sogleich mit dem Polizeiamte Döbling verbunden werden.

Es dauerte für seine Ungeduld eine Ewigkeit, fast sieben Minuten, ehe seine Mitteilung an den diensthabenden Kommissär gelangte und er den Apparat wieder verlassen konnte.

Mit der Uhr in der Hand berechnete er, daß der Rettungswagen, mit welchem Josephi ausgefahren, und der schon seit etwa acht Minuten unterwegs war, jetzt schon auf dem Schottenring angelangt sein und höchstens zwanzig Minuten danach sein Ziel erreicht haben konnte.

»Vielleicht noch bevor die Polizei dort eintreffen kann,« dachte Brenner, sah nach, ob im Vorraum draußen Ersatzmannschaft eingerückt sei, was denn auch schon der Fall war, weckte einen seiner beiden Kollegen, die, für alle Fälle anwesend, in einem Nebenraume schliefen, und durchwachte nun mit diesem das Ende der Nacht, die so »still« begonnen hatte und die dann doch ein Ereignis gebracht, wie es seltsamer nicht gedacht werden konnte.

Während die beiden jungen Ärzte über dieses absonderliche Ereignis redeten, jagte der Rettungswagen, von zwei vorzüglichen Pferden gezogen, durch die längst menschenleere Nußdorferstraße dem Bezirke Döbling zu, darin in einer noch ziemlich ländlichen Gasse Doktor Königs bis heute so gemütlich gewesenes Heim lag.

Die gänzliche Unbelebtheit der Straßen hatte die größte Fahrgeschwindigkeit ermöglicht. Nur zweimal klang während dieser Fahrt der schrille Ton der Warnungspfeife durch die Stille der Nacht. Einmal, als ein Fiaker dem dahinrasenden Rettungswagen in die Nähe kam, und das zweite Mal, als ein Radler, aus einer Quergasse kommend, nahe der Nußdorfer Linie über die Straße fuhr.

Da hatte der Kutscher die Zügel an sich reißen müssen und hatte eine Verwünschung ausgestoßen, die dem Unvorsichtigen galt. Nur wenig hatte gefehlt, so wäre der so toll daher kommende Radler von den Pferden niedergeworfen worden.

Er mochte das selbst wahrgenommen haben, denn der Kutscher hatte es beim hellen Schein der zwei Wagenlaternen ganz genau gesehen: des Radlers totenbleiches Gesicht hatte eine Sekunde lang entsetzt auf den Wagen gestarrt, ehe er, einem Schemen gleich, wieder in der Dunkelheit verschwunden war.

Wenige Minuten später hielt der Wagen vor Königs Haus.

Als Doktor Josephi und seine beiden Begleiter heraussprangen, sagte ihnen schon der erste Blick auf die Villa, daß die Polizei noch nicht da, daß sie die ersten auf dem Platze seien.

Der Doktor hieß, während der eine Diener für alle Fälle zur Polizei gesandt worden war, und der Kutscher die Decken über die dampfenden Pferde warf, den zweiten Diener, ihm mit der einen Wagenlaterne folgen.

Es bot sich ihnen bezüglich des Eintrittes in den Garten und in das Haus keinerlei Hindernis. Die Tür des Vorgartens stand ebenso weit offen, wie diejenige, welche in die kleine Villa führte. Neben der Haustür, auf den bunten Fliesen, lehnte eine Hacke, neben dieser lagen etliche Holzsplitter. Die Tür war von innen aus gewaltsam geöffnet worden.

Im Hause herrschte tiefe Stille.

Josephi war früher schon etliche Male hier gewesen. Er verkehrte seit etwa zwei Jahren mit König und kannte die wenigen Räumlichkeiten von dessen eleganter Junggesellenwohnung.

Einige Stufen führten zu einem kleinen Hausflur, in welchen eine Stiege und zwei Türen mündeten. Durch die links gelegene dieser beiden Türen gelangte man in ein Vorzimmer.

Auch die Tür zu diesem stand offen. Es war da nichts Ungewöhnliches zu sehen, nichts, als daß ein Stuhl umgeworfen war.

Der Diener wollte ihn aufstellen.

Josephi hinderte ihn daran. »Rühren Sie nichts an,« sagte er. »Die Kommission muß alles so finden, wie es nach dem Verbrechen war.«

Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer, sich im stillen wundernd, daß nicht auch diese offen gewesen war. Die untere Glastafel des einen äußeren Fensterflügels, der leise knarrend sich in den Angeln drehte, war zerbrochen. Die inneren Flügel dieses Fensters standen offen. Auf dem dicht daneben befindlichen Schreibtisch herrschte große Unordnung.

»Dort ist man hereingekommen,« sagte der Doktor, rasch das große Zimmer durchschreitend, und dann sagte er noch etwas: »Also, da drinnen.«

Ja, da drinnen, hinter der nur angelehnten Tür, im Schlafzimmer mußte er König finden. Dahinein, so mußte man annehmen, hatte der Verwundete sich geschleppt.

Es war hinter der Tür, welche der Doktor jetzt aufstieß, unheimlich still.

»Ich bin zu spät gekommen,« dachte er, und seine Hand bebte bei dem Gedanken, daß hier einer, den er lieb gehabt hatte, ohne Hilfe hatte enden müssen.

Tief aufatmend trat er über die Schwelle. Tief aufatmend folgte der Diener ihm nach. Sie erwarteten beide Schreckliches zu sehen, einen armen Menschen, der tot in seinem Blute lag – aber sie sahen nichts dergleichen. Auch dieses Zimmer umschloß den, um dessenwillen sie gekommen waren, nicht. Ein zerwühltes Bett, ein Waschbecken, darin das Wasser ein wenig rötlich war, und ein Kleiderschrank, der halb offen stand – sonst gab es hier nichts, das auf einen ungewöhnlichen Vorgang hindeutete.

Aber auf dem Parkettboden lagen etliche Splitter polierten Holzes. Einer der beiden in diesem Zimmer befindlichen Schränke war erbrochen worden.

Der Laden des einzigen, sehr breiten Fensters, welches das Zimmer besaß und welches die abgestumpfte Ecke des Hauses unterbrach, war geschlossen.

Josephi wandte sich wieder dem Ausgang des Zimmers zu. Man mußte noch immer weiter suchen. Das unglückliche Opfer dieses nächtlichen Überfalles mußte doch zu finden sein!

Die beiden Männer hatten soeben den Flur erreicht, als eilig mehrere Personen durch den ziemlich tiefen Vorgarten auf das Haus zu kamen. Der Helm eines Wachmannes blitzte auf. Die Uniform eines Polizeibeamten wurde erkennbar.

Der Wachmann blieb unten, der Kommissär, von einem Josephi zufällig bekannten Arzt und einem Schreiber begleitet, stieg eilig die paar Stufen herauf.

Die Herren nannten ihre Namen, und Josephi berichtete eilig den Wortlaut der erhaltenen telephonischen Meldung, sowie auch, daß in den von ihm bereits durchsuchten Wohnräumen deren Inhaber nicht zu finden sei. So ergab es sich von selber, daß die weiteren Nachforschungen rasch in den anderen Räumen des Hauses fortgesetzt wurden.

Auch sie hatten keinen Erfolg.

Rätselhafterweise war von König im ganzen Hause keine Spur zu finden.

Aber er konnte sich ja ins Freie geschleppt haben. Die Herren verließen die Villa, um im Garten zu suchen.

Wenn jemand von der Straße aus herübergeschaut hätte, wäre er sicherlich zur Annahme gekommen, daß in der hübschen kleinen Villa ein Fest gefeiert werde, eines jener intimen Feste, deren passendster Schauplatz solch kleine, vornehme, hinter Bäumen halb versteckte Landhäuser sind. War doch jeder Raum der Villa erleuchtet, und Bewegung gab es daselbst auch genug.

Der Kommissär hatte nämlich den ihn begleitenden Wachmann geheißen, die vorhandenen Lampen anzuzünden und sie in den verschiedenen Räumen zu verteilen.

Aber gar zu unheimlich still war es in all den jetzt verlassenen Räumen.

Der Kommissär und die beiden Ärzte suchten mit ihrer Begleitung jeden Winkel des Vorgartens und des nicht sehr ausgedehnten Gartenteiles ab, der sich hinter dem Hause erstreckte – sie fanden König nicht. Sie gingen auch auf die Straße hinaus, um dort ihr Suchen fortzusetzen. Es war nämlich auf der einen Seite ein Graben, der sich am Rande der Vorgärten hinzog und der tief genug war, einen Hineingeworfenen oder Hineingefallenen zu verbergen. Dieser Graben zog sich auch an dem Vorgarten hin, hinter welchem das Heim Königs lag.

Man durchsuchte diese Bodenfurche. Umsonst!

»Vielleicht läuft doch das Ganze auf eine Mystifikation hinaus,« sagte der Kommissär, als er mit den Herren in das Haus zurückkehrte.

Josephi zuckte die Achseln.

Man wandte sich jetzt wieder zum Vorzimmer. Die brennende Lampe stand auf einem kleinen Tische ganz in der Nähe des Telephons.

Des Kommissärs Augen hafteten auf dem umgeworfenen Stuhl. »Der lag so da, als Sie kamen?« fragte er Josephi.

»Genau so,« war die Antwort, dann zeigte der Arzt, der rasch zum Telephon hinging, auf die weißliche Tapete. »Es scheint doch keine Mystifikation zu sein,« fuhr er fort. »Hier und auch dort drinnen im Schlafzimmer ist Blut.«

Der etwas kurzsichtige Kommissär trat nun auch rasch an die Wand heran und besah sich den kleinen roten Flecken, welcher sich auf der Tapete zeigte. Dann nahm er die Lampe vom Tischchen und leuchtete noch näher hin.

»Auch auf der einen Hörmuschel befindet sich Blut,« bemerkte er, »auf der rechtsseitigen Hörmuschel.«

»Welcher Umstand dem seltsamen Bericht, den Sie, Herr Kollege, erhielten, durchaus entspricht,« setzte der Polizeiarzt, sich an Josephi wendend, hinzu.

Dieser tat einen tiefen Atemzug. Es war ihm unsagbar peinlich, von dem ihm so lieben Menschen so sehnsüchtig gerufen worden und zu spät gekommen zu sein.

Nach all den Eindrücken, welche er hier erhalten hatte, zweifelte er nämlich nicht im mindesten mehr daran, daß wirklich hier ein Verbrechen vorlag, das wahrscheinlich zu Beginn ein ganz gewöhnlicher Einbruch hatte sein sollen und das durch Königs Dazwischenkunft zu einem Mord geworden war.

Auch für den Kommissär gewann diese Anschauung immer mehr Wahrscheinlichkeit, nachdem er das eingedrückte Fenster, den zum Teil hervorgezerrten und umhergeworfenen Inhalt des Schreibtisches, das Waschbecken mit dem blutigen Wasser und den erbrochenen Kasten gesehen hatte.

Das zerwühlte Bett war freilich nicht zu erklären. Darin gelegen hatte in dieser Nacht noch niemand, das war sicher. Denn wäre dessen Inhaber im Schlafe oder auch nur im liegenden Zustande von dem Einbrecher oder den Einbrechern überrascht worden, so hätten diese doch, wenn sie es für nötig fanden, ihn selber wegzuschaffen, kaum auch alle die von ihm abgelegten Kleider und sonstigen Toilettenstücke so peinlich genau hinweggeschafft, daß nichts, aber auch gar nichts davon vergessen worden wäre.

Männer, besonders wenn es Junggesellen sind, pflegen doch meist ziemlich genial beim Auskleiden zu verfahren. Es war also anzunehmen, daß irgendwo eines von den vielen Stücken, die beim Schlafengehen jeder ablegt, zurückgeblieben wäre, falls König im Bette überfallen worden war. Aber nichts, gar nichts deutete darauf hin, daß er zur Zeit des Überfalles entkleidet und schon zu Bette gewesen war.

»Ich habe keinen Überrock und auch keinen Hut draußen gesehen,« sagte der Kommissär. »Sollten die, welche hier waren, auch diese Dinge mitgenommen haben? Oder sollte König, der, wie wir annehmen müssen, schwer verwundete Mann, falls er selber sich von hier entfernen konnte, noch daran gedacht haben, Rock und Hut zu nehmen?«

Der Schreiber war bei seines Vorgesetzten ersten Worten in das Vorzimmer hinausgegangen. Er kam jetzt zurück.

»Es ist weder im Nebenzimmer noch auch im Vorraum ein Hut oder ein Überrock, aber –«

Da schauten alle zur Tür. Eine alte Frau stand auf der Schwelle. Sie sah ganz verwirrt aus.

»Wer sind Sie?« fragte der Kommissär.

»Ich bin die Bedienerin des Herrn König,« war die zaghafte Antwort.

»Was wollen Sie denn jetzt mitten in der Nacht hier?« examinierte, auf sie zutretend, der Polizeibeamte weiter.

»Ich bin so in Sorge gewesen,« stotterte die Alte und wischte sich über die Augen.

»Sie wohnen in der Nähe?« fragte der Kommissär.

»Drei Häuser weiter unten an der Ecke.«

»In Sorge sind Sie gewesen? Ja warum denn?«

»Ich hab' den Rettungswagen fahren g'seh'n. Mein Fenster geht auf d' Gass'n heraus, und schlafen kann ich ja nimmer viel. Hab' zuerst g'meint, der Herr Doktor fahrt z' Haus – aber daß das kein Fiaker ist, das hab' ich bald g'wußt. Aber – ich bitt', meine Herr'n – warum sind denn Sie da?«

Ängstlich, hastig hatte die Alte geredet. Ihre letzte Frage stieß sie in vollster Angst heraus.

Aber sie erhielt keine Antwort darauf. »Kommt der Herr Doktor immer zu Wagen nach Hause?« fragte der Kommissär.

»Net immer, aber manchmal und heut schon g'wiß. Er is ja von seiner Verlobung 'kommen.«

»So! Also heute hat er Verlobung gefeiert. Aber warum sagen Sie denn, daß er gekommen ist

»Ich hab' ja schon lang Licht da herüb'n g'seh'n.«

»So! Man kann also von Ihrem Fenster aus diese Villa sehen?«

»Net das ganze Haus, aber grad das Eck da.« Sie wies auf die beiden Zimmer, zwischen denen sie sich befand. Sie hatte sehr bescheiden, ja in demütiger Weise geredet und war so eingeschüchtert, wie es viele Leute sind, wenn sie sich der Polizei gegenübersehen.

Aber ihre Angst war doch noch größer als ihre Schüchternheit. Die Hände faltend, trat sie plötzlich ganz dicht an den Kommissär heran und rief fast gereizt aus: »Jetzt aber, Herr Kommissär, lassen S' mich zum gnädigen Herrn!«

Und die Tür zurückschiebend, die ihr den Einblick in das Schlafzimmer verwehrte, drängte sie sich in dasselbe.

Einige Sekunden lang durchsuchte sie den hübschen Raum mit ihren alten Augen, dann stammelte sie: »Aber der Herr Doktor ist ja gar net da!«

»Nein, er ist nicht da,« sagte der Polizeibeamte ernst.

»Und – und warum sind denn –« Die Alte redete nicht weiter. Sie war bleich geworden und wich Grauen in den welken Zügen – langsam vor den Männern zurück.

»Warum wir da sind? Wir von der Polizei und der Herr Doktor von der Rettungsgesellschaft? Nicht wahr, Frauerl, das haben Sie fragen wollen,« antwortete der Beamte, die Zitternde freundlich zu dem nächsten Sessel führend, »ja, da müßte ich Ihnen viel erzählen!«

»Herr Gott! So is 'm Herrn Doktor g'wiß was g'scheh'n!« schrie das Weib auf.

»Wir wissen noch gar nichts,« beruhigte sie der Beamte, »also denken Sie einstweilen auch nicht an das Schlimmste. Aber sagen können Sie uns verschiedenes, das den Fall vielleicht aufklären helfen kann.«

»Da ist ja ein'broch'n word'n!« jammerte die Alte, die jetzt erst die an ihrem Rande zersplitterte Kastentür bemerkt hatte.

»Wissen Sie, was in diesem Kasten ist?«

»Wäsch' und was sonst zum Anzieh'n g'hört.«

»Auch Krawatten und Krawattennadeln und Manschettenknöpfe – nicht?«

»Ja, ja, das auch. Der Herr Doktor hat schöne Sach'n.«

»Kennen Sie die einzelnen Stücke?«

»Ich glaub' wohl, daß ich alles kenn'. Hab' ja oft selber aus dem Kast'n herausgeb'n, was der Herr Doktor braucht hat.«

»Also, was war denn an Schmucksachen darin?« fragte, die Kastentür zurückschlagend, der Beamte. Man sah sofort, daß eilige Hände den Inhalt des Schrankes durchwühlt hatten.

»Alles – war – in einer Lederkassett'n,« stammelte, entsetzt auf den Wirrwarr starrend, die alte Frau.

»Nun, die Kassette ist ja da,« entgegnete der Kommissär, das genannte Stück, dessen eine Ecke unter etlichen zerknüllten Sacktüchern sichtbar war, hervorziehend. »Aber freilich ist sie geleert, wenigstens nahezu geleert,« fuhr er fort und zeigte die geöffnete Kassette, in deren einer Ecke zwei Ringe, eine Krawattennadel, eine kurze Uhrkette und ein im Lampenlicht aufblitzender Manschettenknopf lagen.

»O je! Da war viel mehr drin,« jammerte die Alte.

Der Polizeiarzt bemerkte verwundert: »Warum nur die Kerle nicht gleich die ganze Kassette genommen haben?«

Der Beamte zuckte die Achseln. »Hier gibt es ein viel größeres Rätsel,« sagte er, während er die Kassette wieder in den Schrank stellte, wobei er sich, dem Schreiber einen Wink gebend, wieder an die Alte wandte. »Was also war denn noch in der Kassette?«

»Eine schwere, lange goldene Uhrkett'n mit einem lila Petschaft.«

»War das aus einem durchsichtigen Stein?«

»Ja, und ganz altväterisch war's. Ein' stehenden Bären hat's vorg'stellt.«

»Weiter, Frauerl!«

»Es war auch ein Armband von Silber da,« fuhr die Alte ein wenig verlegen fort. »Der Herr Doktor hat's einmal 'trag'n, wie er noch sehr jung g'wes'n ist.« Und als ob sie rasch über diesen zarten Punkt hinwegkommen wolle, fuhr sie eilig fort: »Und in einem kleinen, rotseidenen Polster sind – ich weiß es g'wiß – sieben Krawattennadeln g'steckt.«

»Fehlen also sechs,« bemerkte der Kommissär. »War ein auffallendes Stück unter den fehlenden Nadeln?«

»Eine war ein Mohrenkopf, und eine war eine rote Schlange.«

»Na, gut is', Frauerl,« sagte freundlich der Beamte. »Jetzt schauen Sie einmal in den Kleiderkasten hinein, ob da auch etwas fehlt.«

Die Frau tat, wie ihr geheißen worden war. Sie gab an, daß außer dem Salonanzug, den der Doktor angezogen, noch sein lichter, kurzer Pelzrock fehle.

Darauf meinte der Beamte: »Morgen früh werden Sie uns über diese Sache noch mehr sagen. Für jetzt möcht' ich nur noch wissen, um welche Zeit etwa Sie Licht in dieser Villa gesehen haben.«

Die Frau dachte ein Weilchen nach. »Es muß nach Elf g'wesen sein,« gab sie an, setzte jedoch sogleich hinzu, »aber g'wiß weiß ich's freilich net. Es sind halt noch Wagen und Radler g'fahr'n und noch Leut' auf der Gass'n 'gangen – drum hab' ich mich ja so g'wundert, daß der Herr Doktor schon z' Haus ist. Denn so ein Fest dauert ja g'wöhnlich lang, und von Hietzing herein fahrt ma doch auch a gute Zeit.«

»Also in Hietzing war er?«

»Ja, beim Herrn v. Mühlheim.«

»Soll dieser Herr sein Schwiegervater werden?«

»Ja. Die Fräul'n Braut heißt Lena.«

»Schön,« sagte verstohlen schmunzelnd über diese echt weibliche Abschweifung der Kommissär. »Notwendiger aber sollte ich Herrn v. Mühlheims Adresse wissen.«

Die Frau konnte ihm auch diese nennen. Der Schreiber notierte sie auf einen Wink seines Vorgesetzten, der zur Alten freundlich sagte: »Ich meine, Sie sollten jetzt nach Hause gehen, gute Frau. Sagen Sie uns nur noch, wie Sie heißen.«

»Marie Winter.«

Sie hatte sich erhoben und zog fröstelnd ihr Umhängtuch fester um die Schultern.

»Und über den gnädig'n Herrn können S' mir wirklich nichts sag'n?« fragte sie ängstlich und doch auch zugleich erleichtert.

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Wirklich nichts.« Damit begleitete er sie aus dem Zimmer. Bis zum Korridor ging er mit ihr. Es geschah nicht aus purer Achtung vor ihrem, wenigstens scheinbar ehrwürdigen Alter – er gab auch dem draußen harrenden Wachmann einen Wink mit den Augen, während er sagte: »Begleiten Sie die Frau. Sie wohnt gleich drüben an der Ecke.«

»Die ist wohl kaum mit im Spiel,« meinte der Polizeiarzt.

Doktor Josephi griff nach seinem Hut und sagte: »Ich bin hier auch überflüssig. – Gute Nacht, meine Herren!«

Einige Minuten später fuhr der Rettungswagen, der heute zu niemandes Nutzen ausgefahren war, wieder heim, und eine halbe Stunde später lag die Villa wieder in tiefster Finsternis da. Nur daß jetzt sämtliche Türen und auch das Fenster, durch welches man eingestiegen, verschlossen waren, und zwei Wachleute regungslos im tiefen Schatten der uralten Föhre standen, die unweit der Villa ihre weitausladenden Äste bis über die Straße breitete.

Die Nacht war sehr unfreundlich geworden.

Das tiefziehende Gewölk sandte einen dichten Sprühregen herunter, den ein kalter Wind noch unangenehmer machte.

Es war eine Nacht, in der noch recht viel Häßliches hätte geschehen können, aber in der stillen Straße da draußen in Döbling ereignete sich nichts mehr – nichts, das das Rätselhafte des daselbst Vorgegangenen noch verdichtet hätte, aber auch nichts, das es aufklärte.


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