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Gegen halb sieben Uhr dieses Tages war es gewesen, als ein Mann eilig über den Stephansplatz ging, um einen schon im Wegfahren begriffenen Omnibus noch zu erreichen. Es gelang ihm auch, an den Wagen heranzukommen, und er war eben im Begriff, hinaufzuspringen – aber er tat es nicht, sondern ließ die schon ergriffene Stange des Wagens wieder los und ging dann, bei weitem weniger eilig als früher, in der Richtung, aus welcher er hergekommen war, wieder zurück.
In dieser Richtung gingen gar viele Leute; sie drängten sich sogar an der Ecke der Rotenturmstraße. Dadurch entstand eine kleine Stauung, und es gelang dem Manne, der die beabsichtigte Omnibusfahrt so plötzlich aufgegeben hatte, an die Seite einer Dame zu kommen, die gleich den anderen Passanten gezwungen war, ein Weilchen stehen zu bleiben.
Es war eine junge, schlanke Dame. Sie war in tiefe Trauer gekleidet. Unter ihrem mattschwarzen Hut glänzte wunderschönes, hellblondes Haar.
Dieses ungewöhnlich schöne Haar hatte vorhin des Mannes Blicke auf sich gezogen, hatte ihn dazu veranlaßt, der Eigentümerin zu folgen. Ihr Gesicht hatte er auch jetzt noch nicht gesehen, soeben jedoch wendet sie es ihm zu.
Da tut er verstohlen einen tiefen Atemzug, flüstert ganz leise: »Na – endlich!« und ist sehr befriedigt.
Seit drei Tagen interessieren ihn nämlich blonde und schlanke junge Damen ganz ungemein, und wo er auf seinen Gängen einer solchen Dame gewahr wurde, schaute er ihr unter den Hut. Aber waren auch recht hübsche Blondinen darunter gewesen, so hatten ihn ihre Gesichter doch unbefriedigt gelassen, denn keines glich dem wunderschönen Antlitz, dessen Abbild derzeit nicht nur er, sondern auch noch gar viele andere Männer auf ihrer Brust trugen, und dessen feinste Linien er auswendig kannte, denn er hatte gleich jenen vielen anderen Männern mit außergewöhnlichem Interesse Zug für Zug dieses Gesichtes studiert. Auch wußte er, daß das Original des Bildchens goldblond sei, wenn ihr Haar inzwischen nicht eine andere Farbe erhalten hatte, daß es jedoch bestimmt dunkeläugig sei und daß es vermutlich, wenn es überhaupt Deutsch zu reden verstand, ein fremdklingendes Deutsch rede.
Letztere Charakteristika waren auf der Rückseite der interessanten Photographie vermerkt, und deshalb waren goldblonde, dunkeläugige junge Schönheiten derzeit gar so gesucht.
Diejenige, welche von Klesing entdeckt worden war, ging, als sich der Menschenknäuel löste, langsam die Rotenturmstraße hinunter. Vor einer Buchhandlung blieb sie stehen. Es waren da etliche neu erschienene Bücher im Ladenfenster ausgestellt.
Die junge Dame trat in das Geschäft, bei dessen Personal sie sofort Aufmerksamkeit erregte. Zwei der jungen Herren, welche soeben unbeschäftigt waren, beeilten sich, ihre Wünsche in Erfahrung zu bringen. Sie waren um die schöne Kundin so eifrig bemüht, daß sie auf das Erscheinen des Mannes, der gleich nach ihr das Geschäft betrat, gar nicht achteten.
Dieser Mann tat übrigens auch gar nichts, um irgend jemandes Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Gehörte es ja mit zu seinem Beruf, sich so unauffällig als irgend möglich zu geben.
Er begann hinter dem Rücken der beiden Verkäufer scheinbar die auf dem Ladentisch ausgelegten Bücher anzusehen, aber er beaugenscheinigte nicht nur diese, sondern auch die blonde Dame.
Es blieb kein Zweifel. Das war Nadja K.
»Womit kann ich dienen, meine Gnädige?« fragte in seelenvollen Tönen der eine der Verkäufer.
Die Dame verlangte in bestem, aber doch fremd klingendem Deutsch einige Bände aus der »Union-Sammlung moderner Romane«.
»Aha,« dachte Klesing, »da heißt es auf der Hut sein, daß das Vögelchen nicht entkommt!«
Ganz zufällig schauten Nadjas schöne, ernste Augen einen Moment lang in die seinigen, und da sah er etwas darin, das zu jenem allen Respekts ermangelnden Ausdruck »Vögelchen« gar, aber wirklich gar nicht paßte.
Der Ausdruck dieses Gesichtes, dieser Augen ergriff ihn ganz plötzlich so sehr, daß ihm – es geschah ihm das zum ersten Male in seiner langen Amtstätigkeit – dieselbe zuwider wurde. Er hatte dabei das ganz klare Bewußtsein, daß die Schönheit der Fremden keinerlei Einfluß auf ihn ausübe, sondern daß irgend etwas in ihrem Wesen ihn zu so tiefer Teilnahme stimmte.
Klesing unterdrückte jedoch bald alle privaten Empfindungen und war nun wieder nur noch der ruhig Beobachtende.
»Und auch Gerhard Rohlfs Werk über die Libysche Wüste möchte ich,« sagte die Dame mitten in Klesings kurzes Sinnen hinein. Sie ließ sich dabei auf den Sessel nieder, den man ihr überaus höflich angeboten hatte. Die beiden Verkäufer hielten mit dem Herbeischleppen der neuesten Belletristik inne.
»Bedaure – dieses Buch haben wir nicht auf Lager,« sagte der jüngere von ihnen.
Der andere war schon gewandter, der setzte rasch hinzu: »Aber ich werde es sofort besorgen. Ich werde es heute noch der gnädigen Frau zusenden, wenn uns Gnädigste Ihre Adresse geben wollen.«
Klesing las plötzlich sehr aufmerksam in einem der Bücher. Er hielt es vor sein Gesicht. Dieses drückte jetzt große Spannung aus. Aber das sah niemand.
»Was wird sie jetzt antworten?« dachte er.
Und sie antwortete: »O nein – lassen Sie die Besorgung nur. Ich könnte die Zusendung nicht abwarten, denn ich fahre heute noch weg.«
»Gewiß gegen Norden, Gnädigste?« fragte, sehr viel Bedauern in seine Stimme legend, der Verkäufer.
»Mit der Nordbahn – ja,« entgegnete die Dame ein wenig kurz und abwehrend, während sie drei der ihr vorgelegten Bände zur Seite legte.
Danach aber tat sie eine Frage. Sie erkundigte sich nach der genauen Abfahrtszeit des Abendschnellzuges nach Brünn, und es wurde ihr bereitwillig Auskunft gegeben.
Während dies der ältere der beiden Verkäufer besorgte, klopfte Klesing den jüngeren auf die Achsel und sagte zu dem sich zu ihm Wendenden: »Ich möchte dieses Buch da. Wieviel kostet es?«
Die Broschüre, welche Klesing zufällig zur Hand genommen hatte, war das Werk eines berühmten Astronomen. Es behandelte den Weltenlauf eines unlängst von ihm entdeckten Sternes und war nur für Fachleute geschrieben.
Verwundert schaute der Verkäufer sich den Mann an, der diese hochwissenschaftliche Schrift begehrte.
Aber wie wenig gelehrt der Käufer auch aussah, konnte er ihn doch nicht auf den nur wenigen verständlichen Inhalt der Broschüre aufmerksam machen.
»Vielleicht kauft er sie im Auftrag eines anderen,« dachte der junge Mensch, reichte sie ihm, rief den Preis zur Kasse hinüber und kehrte eiligst zu der schönen Dame zurück, die sich soeben auch erhob, um das Paketchen, das man für sie bereitete, in Empfang zu nehmen.
Inzwischen hatte Klesing schon gezahlt und verließ das Geschäft.
Etliche Minuten später trat auch Nadja K. aus dem Buchladen. Sie wandte sich nach einigem Zögern wieder dem Stephansplatze zu.
Sie betrat den Dom.
Der glückliche Besitzer der astronomischen Schrift blieb immer in ihrer Nähe.
Sie ließ sich auf einer der Bänke nieder. Er tat dasselbe, nur versank er nicht, wie sie, in Andacht, sondern zog ein Notizbuch hervor und schrieb einige Zeilen, dann löste er das beschriebene Blatt ab, beschrieb ein zweites, löste auch dieses ab und faltete jedes der Papiere zusammen. Eins von ihnen kuvertierte er. Das Notizbuch steckte er wieder zu sich und sah dann auf seine Uhr.
Sie zeigte zwanzig Minuten über sieben.
Klesing nahm jetzt seine Börse aus der Tasche und versah sich mit zwei Gulden.
Dabei bemerkte er, daß die blonde Dame, welche zwei Bänke weiter vorn saß, denn doch nicht nur mit Beten beschäftigt war.
Es war ein Herr in ihre Nähe gekommen. Da schaute sie auf. Und dann tat sie, was soeben Klesing getan hatte. Auch sie blickte auf ihre Uhr.
Es mußte eine Uhr mit Metallmantel sein. Klesing hatte ganz deutlich das Zuschnappen des Deckels gehört.
»So – so!« dachte er. »Man ist also nicht allein der Andacht wegen hier, sondern man wartet auf jemand.«
Wer immer dieser Jemand sein mochte, besondere Eile hatte er jedenfalls nicht. Oder war Nadja K. zu früh gekommen?
Es mochte so sein, denn, nachdem sie sich bezüglich der Zeit orientiert hatte, erhob sie sich und ging aus der Kirche.
Auch Klesing tat dies.
Sie wandte sich diesmal nach der Kärntnerstraße und trat in eine Wechselstube. Klesing begnügte sich diesmal damit, sie von dem Trottoir aus zu beobachten.
Sie legte etliche Banknoten auf den Tisch.
Klesing nahm den Zettel aus dem Kuvert, schrieb noch einige Worte darauf, verwahrte ihn wieder und verschloß dann das Kuvert.
Um diese Zeit schaute die blonde Dame wieder auf ihre Uhr
Klesing winkte einem Dienstmann, der gleich einem anderen Kollegen dicht neben der Wechselstube seinen Standplatz hatte.
Er gab dem Mann den einen offenen Zettel, auf welchem er auch noch zwei Worte geschrieben hatte, und einen Gulden.
»Laufen Sie zur nächsten Polizeistation und geben Sie dort dem diensthabenden Beamten sofort diesen Zettel. Hören Sie? Dem diensthabenden Beamten und sofort.«
»Dem diensthabenden Beamten – sofort,« wiederholte der Dienstmann und eilte davon, während Klesing sich des zweiten Boten versicherte, der schon aufmerksam hergesehen und den Wink sogleich bemerkt hatte.
Diesen sandte er – ebenfalls mit der Weisung, so schnell als möglich seinen Auftrag zu erfüllen – zur Polizeidirektion.
Das Briefchen, welches er ihm mitgab, trug die Adresse des Oberpolizeirats v. Eichen.
Bald nachdem die beiden Zettel besorgt waren, kam Nadja K. aus dem Geschäfte.
Sie richtete ihre Schritte wieder zur Stephanskirche, und wieder ließ sie sich, wie vorhin, in der Nähe der Kanzel nieder.
Klesing blieb diesmal hinter einem der nächsten großen, vielgegliederten Pfeiler stehen, welche das Hauptschiff des Domes von den Nebenschiffen trennen, und dessen tiefer Schatten ihn fast verschlang.
Nadja K. saß im hellen Lichte. Ganz nahe von ihr versandte eine Lampe ihre milden, weißen Strahlen, davon gar mancher ihr helles Haar erglänzen machte.
»Warum sie sich's nicht gefärbt hat?« fragte sich Klesing einigermaßen verwundert.
Mit der Andacht der schönen blonden Dame war es nicht weit her. So oft ein Schritt sich in ihrer Nähe hören ließ, erhob sie die Augen.
Als die Kirchenuhr zum Schlag der achten Stunde ausholte, wurde sie sichtlich unruhig. Sie schaute auch wieder einmal nach ihrer Uhr. Es war kein Zweifel möglich, es schlug acht.
Sie erwartete offenbar jemand, und zwar mußte dieser jemand ein Herr sein, denn nur wenn ein solcher durch die Kirche ging, hefteten ihre Augen sich auf ihn.
Aber daß dieses Stelldichein mit Verliebtheit nichts zu tun hatte, war leicht zu erkennen. Nadjas Augen blickten so finster, und ihr jetzt so blasses Gesicht hatte einen so ernsten Ausdruck, daß Klesing schier Mitleid mit ihr hatte, auch Mitleid, weil sie gar so unruhig wurde.
Was stand wohl für sie auf dem Spiele, wenn der, den sie erwartete, etwa nicht kam?
Aber – er kam!
Schon von weitem sah sie ihn.
Sie schnellte fast empor und konnte dennoch nicht sogleich die Bank verlassen. Vielleicht zitterte ihr Herz zu sehr, oder vielleicht auch nur ihre Kniee. Jedenfalls bedurfte sie einer gewissen Anstrengung, um ihm entgegengehen zu können. Ihr Gang war jetzt ebenso steif, als er früher leicht und elastisch gewesen.
Und auch der von ihr doch sicherlich sehnsüchtig Erwartete kam merkwürdig steif daher. Auch er mußte sie sogleich erblickt haben. Nun ja, es waren ja auch nur wenige Menschen in dem Riesenraum des alten Gotteshauses.
Gerade unter einer der Leuchten trafen sie zusammen. Das Licht fiel auf zwei blasse Gesichter.
Die zwei gaben einander nicht die Hand. Sie nickten einander nur kurz zu, und dann schritten sie zum Ausgang der Kirche.
Wie ihr Schatten folgte ihnen Klesing, der immer wieder dachte: »Die führt nicht die Liebe, die führt die Schuld zusammen.«
Er war jetzt noch vorsichtiger, als er es früher gewesen, denn er bemerkte, daß der Herr unruhig um sich schaute.
Vor dem Kirchenportal hielt ein Fiaker. Nadjas Begleiter eilte auf ihn zu und riß den Schlag auf.
Aber die Dame stieg nicht ein. Was die beiden miteinander redeten, konnte Klesing nicht verstehen, denn sie sprachen Französisch.
Er sah jedoch, daß der Herr dem Kutscher eine Fünfguldennote reichte und ihm, der vermutlich zurückgeben wollte, ungeduldig abwinkte.
Der Arm, den er alsdann Nadja bot, wurde nicht angenommen. So gingen sie also nur dicht nebeneinander der Wollzeile und dann der Ringstraße zu.
Sie redeten leise, aber bisweilen doch auch heftig miteinander, dann wurden ihre Worte Klesing vernehmbar. Dies nützte ihm jedoch nichts, denn er verstand ja nicht, was sie redeten.
So viel jedoch ergab die Art ihres Redens, daß die beiden über den Gegenstand ihres Gesprächs durchaus nicht einer Meinung waren.
Am Ausgang der Wollzeile ist ein Mietwagenstandplatz. Da versuchte Nadjas Begleiter abermals, sie zum Fahren zu bewegen. Sie jedoch wollte durchaus gehen. Eilig schritt sie der Ringstraße zu.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Er tat es mit sehr verbissener Miene, und – Klesing sah dies ganz genau – die Hand, die er schon auf den Griff der Wagentür gelegt hatte, die ballte sich, als der blasse Mann sie niedersinken ließ.
Blaß war er, ja sogar recht blaß war er, der hübsche, elegante Begleiter der schönen Russin, und auch er schien recht unruhig zu sein. Nicht derart unruhig, daß er etwa durch sein Gehaben Furcht vor Verfolgung verraten hätte, denn er beachtete jetzt die anderen Passanten nicht im geringsten, wohl aber unruhig in Bezug auf die junge Dame, die ihm zwar ein Stelldichein gegeben hatte, aber derzeit wenigstens auffallend ungnädig gegen ihn war.
Auf dem ganzen Weg vom Stephansdom bis zum Nordbahnhof hielt Klesing, während er die zwei beobachtete, auch noch Ausschau nach einem Geheimpolizisten; aber es kam ihm auch nicht einer seiner Kollegen in den Weg.
In der Bahnhofshalle selber aber gewahrte er einen Mann, der da in der Nähe der Kassen langsam auf und nieder schritt. Er trug eine kleine Reisetasche und sah so aus, als ob er sich recht langweile.
Als die blonde Dame für ihn in Sicht kam, wurde sein Blick ein wenig lebhafter. Er erblickte fast gleichzeitig auch Klesing.
Eine Minute später stand dieser und er nebeneinander vor einem Fahrplan.
Sie schienen eifrig zu lesen. »Wenn die Blonde und ihr Begleiter sich hier trennen sollten, nimmst du ihn auf dich,« sagte Klesing, dann wandte er sich wieder der säulengetragenen Halle zu.
Es waren nicht viele Leute da.
Die Passagiere zu dem bald fälligen Personenzug hatten sich wohl zumeist schon in die Wartesäle begeben; nur einzelne Nachkömmlinge eilten noch zur Personenzugskasse.
Diejenige für die Schnellzüge war noch nicht geöffnet.
Es war auch noch nicht viel über neun Uhr, und der Schnellzug ging erst um neun Uhr fünfundvierzig ab.
Nadja und ihr Begleiter begaben sich in das im ersten Stockwerke gelegene Restaurant.
Klesing, vollständig sicher darüber, daß noch keines der beiden ihn bemerkt habe, setzte sich ganz in ihre Nähe.
Er hoffte, daß Durand nun bald eintreffen würde, und wollte ihm Gelegenheit verschaffen, sie reden zu hören.
Diese ergab sich ganz unauffällig, wenn Durand, der ihn doch gewiß hier suchte, sich zu ihm setzte.
Nadja bestellte eine fertige Fleischspeise und Tee.
Ihr Begleiter hatte ihr artig aus ihrer Pelzjacke, die sie der hier herrschenden Wärme halber geöffnet hatte, helfen wollen.
Aber sie wehrte seine Hilfe ab.
Aufseufzend erhob er sich und verließ den Saal.
Zu gleicher Zeit fiel es einem Mann, der bescheiden beim Eingang gesessen und der eine kleine Reisetasche trug, auch ein, daß er draußen noch etwas zu tun habe.
Klesing nickte darüber befriedigt hinter seiner Zeitung. Er bestellte sich übrigens gleich danach auch eine fertige Fleischspeise, der er, als sie ihm vorgesetzt wurde, ebenso hastig zusprach wie die Russin der ihrigen.
Trotzdem fand sie dazwischen Zeit, sich einige Zeitungen bei einem vorübergehenden Händler zu kaufen, und er fand Muße genug, seinen Abendimbiß zu bezahlen, was Nadja sogleich nachahmte.
Es war inzwischen neun Uhr dreißig Minuten geworden. Durand kam noch immer nicht. Klesing wurde schon ein bißchen unruhig. Es befremdete ihn auch, daß der Begleiter der Russin noch immer nicht zurückkehrte.
Nadja K. jedoch teilte diese Unruhe nicht. Aber sie machte sich bereit, auch zu gehen. Sie schloß ihre Jacke, nahm ihr Täschchen, die Zeitungen und das Paketchen, das ihr der Buchhandlungsgehilfe gar zierlich zurechtgemacht, und verließ den Saal..
Sie begab sich zur Kasse.
Auf der Stiege kam ihr ihr Begleiter entgegen.
Er trug einen eleganten kleinen Koffer, eine Reisedecke und ein ziemlich umfangreiches, mit rosa Seidenpapier drapiertes Veilchenbukett, welch letzteres er Nadja überreichte. Sie nahm es zögernd an und ging weiter. Die Halle umschloß jetzt das eigenartige Bild eines sich lebhaft bewegenden Menschenschwarmes.
Die Kasse war bereits umlagert; abschiednehmend standen da und dort Leute beisammen; Packträger beförderten Koffer und Reisekörbe in den Wägeraum, und viele der Reisenden eilten schon in die Wartesäle.
Nadja und ihr Begleiter standen, eifrig miteinander redend, bei einer eisernen Bank, die nahe der Kasse einen toten Winkel nutzbringend füllte. Der Herr hatte den Koffer und die Reisedecke darauf gelegt. Jetzt legte Nadja auch ihre Zeitungen und das Bukett nieder und gab dem Herrn einige Geldnoten, danach ging er, um den Fahrschein oder die Fahrscheine zu lösen.
»Speidl, schau, ob der Doktor denn immer noch nicht sichtbar ist,« sagte in diesem Augenblick Klesing zu seinem Kollegen, der sich hinter einer der Säulen zu ihm gefunden hatte.
Speidl eilte schon zum Ausgang und schaute die Straße hinauf und hinunter. Klesing aber eilte, wie einer, der sich verspätet hat, zur Kasse und wußte es so einzurichten, daß er dicht hinter den Begleiter der Russin zu stehen kam.
»Krakau, eine Karte zweiter Klasse,« sagte dieser soeben.
Klesing machte artig einer älteren Dame Platz – er kannte ja jetzt das Ziel der blonden Dame und wußte, daß der Herr sie nicht begleiten werde.
Nadja nahm die Fahrkarte und das Geld, welches der Herr ihr zurückbrachte, in Empfang und verwahrte beides, jetzt schon ein wenig nervös geworden, in ihrer Börse. Soeben war das erste Läuten hörbar geworden, und da werden ja viele Reisende nervös.
Auch Klesing war es.
Trotzdem er jetzt mehr auf den Eingang der Halle, als auf die beiden achtete, machte er doch noch zwei Bemerkungen. Er sah, daß der Herr, während Nadja mit ihrer Börse zu tun hatte, ihren Koffer und ihre Decke an sich nahm und dabei sachte die zwei Zeitungen, die sie sich gekauft hatte, ergriff und sie in die Spalte schob, welche die hohe Lehne der Bank und die Wand bildete.
Er sah weiter, daß Nadja, welche von diesem seltsamen Gehaben nichts gemerkt hatte, den Veilchenstrauß achtlos auf der Bank liegen ließ, nicht vergaß – o nein, sondern absichtlich liegen ließ, denn sie schob ihn wie etwas Widriges zur Seite, als sie ihr Täschchen und ihre Bücher ergriff und sich ebenfalls zur Treppe wandte, die zu den Wartesälen und der Abfahrtshalle führt.
Von diesem kleinen Manöver bemerkte wieder ihr Begleiter nichts, denn dieser hatte es nun plötzlich sehr eilig und hastete schon die Treppe hinauf.
»Na, nur Geduld,« dachte Klesing, »heute wird ja doch nicht abgereist.«
Im selben Augenblick ertönte vor dem Tor der Halle ein Pfiff, und da sagte der Geheimpolizist Klesing zum zweiten Male an diesem Tage: »Na, endlich!«
Dann ging er ruhig die Treppe hinauf, an deren oberem Ende soeben Nadja K. und ihr Begleiter verschwanden.
Ein Blick nach unten zeigte Klesing die schlanke Gestalt Durands, der neben Speidl im Bogen des Treppenhauses sichtbar wurde.