Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel.

Die erste Person, welche Durand sah, als er vor der Villa anhielt, war ein Briefträger. Der Mann war eben im Begriffe zu läuten.

Da legte Gröden-Durand ihm die Hand auf den Arm und sagte: »Lassen Sie das. Ich gehöre ins Haus. Geben Sie her, was Sie für uns haben. Für Mühlheims und für Colmar.«

»Für den Herrn Kommerzienrat ist nichts da, aber für Herrn Colmar habe ich einen Brief,« meinte der Mann und hielt Durand ein Schreiben hin. Er setzte offenbar nicht den geringsten Zweifel darein, daß er Herrn Colmar vor sich habe. Daß der Empfänger des Briefes in die Villa gehöre, ergab sich ja unzweifelhaft aus dem Umstande, daß er den Schlüssel zur Gartentür besaß und noch vor den Augen des Briefträgers das Haus betrat.

Als Durand das Treppenhaus passierte, fiel es ihm auf, was für tiefe Schatten in dem Winkel lagen, der unterhalb des ersten Absatzes der Treppe war. Die Stiege war aber auch ungewöhnlich breit, daher die tiefe Nische unter ihr, die man, weil sie gar so düster wirkte, mit hohen, buschigen, in großen Kübeln befindlichen Pflanzen maskiert hatte. Vier solcher Kübel standen da, und zwischen ihnen befand sich ein Durchlaß. Natürlich, man mußte ja zu der Tür gelangen können, welche nach dem Garten führte. »Nach dem Garten führt, durch so tiefe Schatten nach dem Garten führt –« dachte Durand, während er die Treppe hinaufging.

Einmal beugte er sich auch über die Brustwehr dieser wahrhaft ornamental aufgeführten Treppe, auf deren Pfeilern schwere Steinvasen mit Blumen- und Obstfüllung prangten. Aber über den sehr breiten Marmorabschluß dieser Brustwehr konnte man nicht gut in die Tiefe schauen, man hätte sich zu weit vorbeugen müssen.

Von einem ganz neuen Gedanken erfüllt, erreichte er sein Zimmer, das er sofort nach seinem Eintritt hinter sich abschloß.

Dann erst nahm er sich Zeit, Hut und Überrock abzulegen und einen Blick in den Garten hinunterzuwerfen.

Da saß Colmar noch immer vor der Zypressengruppe.

Er hatte die Palette und die Pinsel noch in den Händen, aber er malte nicht. Ganz in sich zusammengesunken saß er da.

Plötzlich aber fuhr er von seinem Sitz empor und streckte die Arme wie abwehrend vor sich hin, und bis zu dem Fenster, an welchem Durand stand, klang der Schreckensruf, den der Mann dort unten ausgestoßen hatte, dieser Mann, welcher für jeden, der ihn etwa jetzt sah, ein Bild der Lächerlichkeit sein mußte – für jeden außer für Durand, der tiefer blickte, als es derzeit irgend einem anderen möglich war.

Eine Anzahl Raben, die auf einem nahen Baume gesessen, hatten sich plötzlich erhoben und waren mit heiserem Gekrächze über ihm hin geflogen.

Darüber hatte der elegante Colmar, der so ungemein lebensgewandt war, seiner Seele und auch schier seines Körpers Gleichgewicht verloren, denn wie ein Trunkener wankte er, um schließlich mit müder Hand wieder nach dem Pinsel zu greifen, der zu Boden gefallen war.

Und noch etwas tat er. Er schaute zu den Fenstern des Wintergartens hinauf und ließ seine Augen dann langsam über die ganze Hausseite schweifen. Durand wich rasch in die Tiefe des Zimmers zurück. Er hatte gerade noch gewahren können, daß Colmars Gesicht totenbleich war.

Auch Durands Gesicht war blaß, als er sich jetzt anschickte, den Brief zu öffnen, den er vorhin so kurzer Hand an sich gebracht hatte.

Daß er es hatte tun müssen, war ihm recht widerwärtig, aber der Schlechtigkeit kommt man eben nur durch List bei, und überdies hatte es Colmars Benehmen soeben abermals bewiesen, daß man alle Ursache habe, seinen Geheimnissen nachzuspüren.

Nun, wenn der Brief, den Durand in der Hand hielt, Geheimnisse barg, dann waren diese ziemlich schlecht verwahrt, denn Durand, der doch durchaus nicht bewandert in solchen Dingen war, gelang es mit Hilfe seines Federmessers sehr bald, den nur leicht verklebten Rand des Umschlags abzulösen. Er sah bereits, während er dies tat, daß dieser Umschlag von dickem, steifem Papier Colmar schon gehört hatte, noch ehe es von einer im Schreiben ungeübten Frauenhand an ihn adressiert worden war. Es befanden sich nämlich, der Mode des Tages entsprechend, die Buchstaben V. C. in Golddruck darauf, und Durand nahm sogleich an, daß Colmars Wirtschafterin die Schreiberin dieses Briefes sei. Es war in der Tat so.

Sie schrieb ihrem Herrn, daß die Depesche noch in der Nacht befördert worden sei und daß er, seinem Befehle gemäß, alles zu seiner Reise Nötige Abends beim Portier des Nordbahnhofes finden werde. Sie sei mit dem Packen bereits fertig.

»Er war also heute nacht tatsächlich schon fest entschlossen, zu verreisen,« dachte der Doktor, und dieser Gedanke hatte noch einen weiteren im Gefolge. »Ob sein Ziel auch das meinige ist, das bleibt offen,« setzte er nämlich sonderbar lächelnd hinzu.

Er hatte soeben den Schlußsatz des Schreibens gelesen. Dieser Schlußsatz lautete:

»Gestern habe ich vergessen, Ihnen zu sagen, daß der Mann, der die zwei großen Koffer und die Kiste weggeführt hat, fünf Gulden dafür verlangt hat.«

Eine Kiste also und zwei große Koffer! Nachdem Durand den Umschlag wieder verklebt hatte, machte auch er seine Vorbereitungen zur Reise und ging, nachdem er sein Köfferchen gepackt hatte, hinunter.

Im Speisezimmer legte er den Brief unter Colmars Serviette und suchte danach den Wintergarten auf.

Er fand die beiden Schwestern und auch Herrn v. Mühlheim daselbst vor.

Hier pflegten sich die Glieder der Familie mit ihren Gästen stets vor den Mahlzeiten zusammenzufinden, um in gemütlichem Plauderton die Meldung, daß aufgetragen sei, zu erwarten.

Freilich war es zur Zeit schlecht bestellt mit der Gemütlichkeit, denn die war durch das rätselvolle Ereignis, welches dieses Haus betroffen hatte, gründlich gestört.

Als Durand den Wintergarten betrat, redeten Mühlheims soeben von Colmar.

»Nun, ich an seiner Stelle würde nicht reisen, wenn ich so gründlich erkältet wäre,« hörte Durand den Kommerzienrat sagen. »Es kann ihm doch nicht auf ein paar Tage ankommen.«

»Nun, es kann da sehr wohl auf ein paar Tage ankommen,« sagte Durand, der zu den Plaudernden trat.

»Hat er denn so Wichtiges zu ordnen?« fragte Edwine, während sie Durand die Hand reichte.

Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nur, daß er sich mir anschließen will – ich reise nämlich auch.«

Am meisten verwundert schaute Lena ihn an, während sie sagte: »Ihnen will er sich anschließen? Ja, sind Sie denn schon so intim mit ihm geworden?«

Wieder zuckte Durand die Achseln. »Ich weiß nur, daß Herr Colmar selbst so liebenswürdig war, mir seine Gesellschaft anzutragen.«

»So!« Zwei hatten das zugleich gesagt: Herr v. Mühlheim und Edwine. Und beide verrieten ein großes Erstaunen. Sie wollten diesem vermutlich keine Worte leihen, jedenfalls aber wären sie darin gestört worden, denn soeben traten Colmar und Erich mit seinem Erzieher ein.

Diesen Moment benutzte Durand dazu, den Kommerzienrat zur Seite zu winken.

»Was gibt es denn?« fragte dieser.

»Colmar wird einen Brief bei seinem Teller finden.«

»So?«

»Diesen Brief haben Sie soeben vorhin dem Postboten abgenommen.«

»Ich?«

»Ja, Sie! Ich aber habe ihn neben Colmars Teller gelegt.«

»Schon gut.«

Die beiden Herren traten wieder zu den anderen.

Das Gespräch wurde, dafür sorgte schon Durand, sogleich ein allgemeines, nur Edwine und ihr Vater beteiligten sich wenig daran. Diese beiden dachten offenbar an irgend etwas ganz Bestimmtes, und immer wieder glitten ihre Blicke verstohlen zu Colmar hin, was übrigens nur Durand bemerkte und beobachtete, der sich einen Platz neben Edwine gesichert hatte.

Gewahrte es auch Colmar selbst, daß er der Gegenstand so großer Aufmerksamkeit war? Er zeigte sich heute merkwürdig lebhaft, geradezu fieberig lebhaft.

Immer fand er Stoff zum Plaudern, immer versuchte er es, alle Anwesenden ins Gespräch zu ziehen. Aber merkwürdigerweise blieb er bei keinem der doch von ihm selbst angeschlagenen Themen, sondern fing rasch immer wieder von anderem zu reden an.

»Herr Colmar ist aber heute merkwürdig nervös,« sagt Erich leise zu Braun.

Dieser entgegnete ein wenig ironisch: »Ihr Ideal ist eben auch nicht anders als andere Leute, er leidet, wie Sie sehen, auch an Reisefieber.«

Durand aber sagte ganz laut: »Spötteln Sie nicht über Herrn Colmars Reisefieber! Wer weiß, welch weite Fahrt er vorhat. Da ist ein bißchen Aufgeregtheit nichts Verwunderliches.«

Colmar lächelte ganz natürlich, so ein bißchen ärgerlich und ein bißchen spöttisch. »Weite Fahrt! Sehr gut. Mit einem Handköfferchen eine weite Fahrt! Ach nein. Mein Fieber – ich fiebere nämlich in der Tat – stammt von meiner tüchtigen Erkältung. Ein Luftwechsel wird mir vielleicht gut tun.«

»Für Zustände, wie der Ihre einer ist, scheint ein Luftwechsel immer das Wünschenswerteste zu sein. Das muß man annehmen, denn in fast allen derartigen Fällen tritt die Sehnsucht nach Luftwechsel ein,« entgegnete Durand in gemütlicher Weise. Sein Blick jedoch hielt dabei mit einer gewissen harten Kraft denjenigen Colmars fest, und es kostete diesem sichtlich Anstrengung, ruhig zu scheinen.

»Ah – ein Brief!« rief Colmar aus, als er seine Serviette aufnahm.

Er sagte es mitten in eine Bemerkung Edwinens hinein. Das war etwas auffallend, denn er pflegte sonst nie unartig zu sein, wurde es wohl jetzt auch nur deshalb, weil sein ganzes Denken auf einen bestimmten Gegenstand gerichtet war, und er darüber, wenigstens zeitweilig, selbst Edwinens Gegenwart vergaß.

Seine Unhöflichkeit ging sogar noch weiter. Er riß voll Ungeduld das Schreiben auf und las es. Auf seinem Gesichte zeigte sich dabei der Ausdruck der Erleichterung.

»Sonst wurde für mich nichts abgegeben?« fragte er, abermals recht unpassend, während er das Schreiben in die Tasche schob.

»Nichts. Sie hätten es sonst gleich diesem Brief erhalten,« antwortete kühl Herr v. Mühlheim. –

Jetzt erst fand Colmar sich wieder zu den gewohnten Formen zurück. Er errötete und stammelte eine Entschuldigung, und dann wurde er wieder auffallend gesprächig.

Aber nicht nur er allein war froh, als die Tafel endlich aufgehoben wurde, und man sich wieder in den Wintergarten zurückbegab.

Mühlheim ging mit Durand. »Sie reisen in unserer Angelegenheit?« fragte er leise.

»In Ihrer Angelegenheit, Herr Kommerzienrat – und, wie gesagt, mit Herrn Colmar, und zwar auf seinen eigenen Vorschlag hin.«

»So ist er also richtig in diese Sache verwickelt?«

»Zweifellos.«

»Aber wie?«

Durand zuckte die Achseln.

»Sie wissen also noch gar nichts Bestimmtes?«

»Gar nichts, als daß Colmar diese Nadja kennt, und daß er tatsächlich Ursache haben muß, sich unseren Griffen zu entziehen. Er hat heute gegen gute Papiere, die er sich wahrscheinlich gestern nacht aus seiner Wohnung geholt hat, über dreißigtausend Gulden eingetauscht. Ungeschickterweise noch dazu bei einem einzigen Wechsler. Unser Mann verliert also schon den Kopf. Übrigens hätte größere Vorsicht ihm auch nicht genützt. Ex war von einem unserer Agenten überwacht.«

Mühlheim war sehr bestürzt. »Das muß freilich Verdacht gegen ihn erwecken,« stammelte er.

»Das allein noch nicht. Es werden ja weit größere Geldgeschäfte gemacht, und niemand denkt dabei an ein Verbrechen. Hier weisen vor allem die Nebenumstände auf ein solches hin.«

»Ja, ja, so zum Beispiel kennt er diese Nadja.«

»Und führt merkwürdig viel Gepäck mit.«

»Ein kleines Köfferchen doch nur.«

»Vielleicht auch ein solches. Schon möglich! Aber auch zwei große Koffer und eine Kiste wurden gestern oder noch früher für ihn aufgegeben.«

»Wohin?«

»Das weiß ich noch nicht. Wir haben bis jetzt wohl schon viele Glieder gefunden, aber sie wollen noch nicht recht zusammenpassen. Mir ist es aber, als seien wir trotzdem schon nahe daran, die Kette bilden zu können –«

»Die sich legen wird um –?« fiel Mühlheim flüsternd ein. Er war ganz blaß vor Erregung.

»Ich glaube – um Colmar.«

Der, von welchem sie redeten, saß mit den beiden Schwestern unter einer prachtvollen Araucaria, von deren dunklem Grün sich Lenas bleiches Gesicht rührend lieblich abhob. Edwine nahm fast gar nicht teil an dem Gespräch, welches Lena und Colmar führten und welches, nach des Malers heute so sprunghafter Art, häufig das Thema wechselte.

Edwine war vielmehr so in Gedanken versunken, daß sie es gar nicht merkte, wie leidenschaftlich die Blicke waren, mit denen ihr Verehrer sie betrachtete.

Aber Lena sah sie wohl, diese heißen, sehnsüchtigen und – wehevollen Blicke, und Colmar tat ihr recht leid. Wußte sie es doch, daß er niemals hoffen durfte, seine Liebe erwidert zu sehen.

Es war ihr sichtlich erwünscht, daß jetzt ihr Vater und Durand zu ihnen kamen, und ersterer sie aufforderte, mit ihnen, da es gerade jetzt so sonnig und windstill sei, ein wenig hinabzugehen.

Sie verließ die beiden in der Tat sehr gern. Mochte es denn einmal zu einer endgültigen Aussprache kommen, der arme Mensch wußte dann doch, woran er war.

Lena war vollkommen davon überzeugt, daß es diesmal zum Bruche zwischen den beiden kommen werde, dennoch oder, besser gesagt, trotzdem verließ sie Edwine, denn sie hätte jetzt, da ihre Nerven bis fast zur Unerträglichkeit gespannt waren, es nicht ertragen können, Colmar noch tiefer leiden zu sehen. Er war ihr bis in die letzte Zeit recht gleichgültig gewesen, seit er aber sichtlich so ergriffen war von ihrem Leid und von der Ursache dieses Leides, war er ihr sympathischer geworden, und seit sie selber so tiefen Gram um einen geliebten Menschen empfand, fühlte sie lebhaft mit, wie es Colmar zu Mute sein mußte, dessen Liebe so ganz hoffnungslos war.

Um Edwine ängstigte sie sich nicht; die wußte sie geschützt durch ihre Kühle, und so verließ sie, mehr an Colmar als an ihre Schwester denkend, mit den Herren den Wintergarten. Die beiden blieben allein.

Edwine schien es gar nicht zu bemerken. Kaum aber hatte sich die Tür hinter den Gehenden geschlossen, fuhr die junge Dame empor.

Colmars heiße Lippen preßten sich auf ihre Hand.

»Was wollen Sie?« rief sie ebenso zornig als erschrocken.

Da hatte er sich schon wieder gefaßt. Er hatte sich gleich ihr jäh erhoben. Sie standen einander gegenüber und sahen sich in die Augen.

»Nichts will ich, Edwine, nichts mehr, seit –« er hielt inne und fuhr sich über die Augen, dann vollendete er mühsam den begonnenen Satz: »seit ich die unzweifelhafte Gewißheit habe, daß Sie mich beinahe hassen.«

Er machte eine Pause. Vielleicht zwang ihn nur seine Atemnot dazu, vielleicht aber hoffte er, Edwine würde diese peinliche Pause mit einem guten Wort unterbrechen.

Dies geschah jedoch nicht. Ernst und kalt und mit einem ihn peinigenden Blick hielt sie den seinigen fest, aber ihr Mund blieb geschlossen.

Da senkte sich sein Kopf, und er murmelte: »Darum gehe ich fort. Ich ertrage es nicht länger.«

Jetzt redete Edwine. Kühl, aber doch ein wenig mitleidig klang ihre Stimme, und ihr Lächeln drückte Befriedigung aus. »Ich gratuliere Ihnen und mir zu diesem vernünftigen Entschluß,« begann sie und rückte den Stuhl zur Seite, der sie daran hinderte, aus der Nische gehen zu können.

»Freundlicheres haben Sie mir nicht zu sagen?« fragte Colmar und legte seine Hand auch auf die Stuhllehne. Sein Gesicht war jetzt dicht vor dem der jungen Dame, seine Gestalt verstellte ihr den Ausgang.

Und diese Gestalt zitterte, und dieses Gesicht war wieder so verzerrt wie vorhin. Sehnsucht und Liebe waren das Schöne darin, ein Ausdruck von Qual und Grimm machten es entsetzlich.

»Ich lüge nie – ich kann auch jetzt nicht lügen,« rief Edwine erbebend und wollte sich an ihm vorbeidrängen.

Da fühlte sie seine Hand, welche die ihre fest umklammerte.

»Eugen!« schrie sie auf.

In demselben Augenblick war sie frei, Colmars Hand sank nieder. Er trat zur Seite und bat sie, unbeschreiblich traurig aussehend: »Verzeihen Sie einem Menschen, der so vermessen war, das höchste Glück für sich zu erwarten und dessen Leben nun zerbrochen ist.«

»Aber, Herr Colmar –« stammelte Edwine.

Da wandte er sich ab, schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte laut.

Einige Sekunden später war Edwine allein. Sie sank kraftlos auf ihren Sitz nieder und schaute trüb vor sich hin.

Der Maler tat ihr jetzt recht, recht leid. Ein gar so tiefes Empfinden hatte sie ihm nicht zugetraut. »Oder,« fragte sie sich plötzlich, »oder hat seine fast wahnsinnige Aufregung noch einen anderen Grund?«

Lange dachte sie darüber nach, und das Resultat dieses Nachdenkens war wieder tiefes Mitleid. Welche Schuld auch Colmar drückte – sie erdrückte ihn fast.

Daß ihr Ausruf ihm verraten hat, wessen ihr Herz voll war, daran lag ihr gar nichts. Er wußte ja schon, seitdem er ihr zum ersten Male von seiner Liebe sprach, daß die ihrige bereits vergeben sei, wußte auch, daß Doktor Eugen Gröden ihr Erwählter sei, und konnte sich's – und das war das einzig Üble bei dieser Sache – jetzt vermutlich zusammenreimen, daß Eugen Gröden und Eugen Durand ein und dieselbe Person waren.

»Das aber brauchte einstweilen wohl niemand zu wissen, am allerwenigsten Colmar.« So dachte Edwine, tat einen tiefen Atemzug und hob dann jäh den Kopf.

Aber nein, sie brauchte nicht zu erschrecken. Es war nicht Colmar, der dort auf der Schwelle stand, es war nur Lena, die ihr freundlich zunickte und, die Tür hinter sich schließend, fragte, wie denn dieses sicherlich peinliche Gespräch geendet habe.

Sie erfuhr noch mehr als nur das, wonach sie gefragt hatte, erfuhr, wer eigentlich Herr Durand sei, und daß er schon allerlei entdeckt habe, was zur Aufklärung des schrecklichen Rätsels, das sie alle so schwer bedrückte, beitragen werde, und erfuhr auch, daß Gröden-Durand heute in Königs Angelegenheit eine Reise antreten werde, und daß merkwürdigerweise Colmar ihn durchaus begleiten wolle.

»Aber woher weißt du denn alles das?« fragte Lena, nachdem sie sich von ihrem Erstaunen erholt hatte. »Du und dieser Herr ›Durand‹, ihr redet ja niemals heimlich miteinander.«

»O doch,« lächelte Edwine glückselig, »zuweilen wissen wir es schon so einzurichten, daß wir uns für etliche Minuten allein sehen, andernfalls hält mich Eugen mittels solcher Zettelchen auf dem Laufenden.«

So erzählte Edwine und entnahm ihrem Portemonnaie das letzte der erhaltenen Zettelchen, welches etliche stenographische Zeichen enthielt.

»Daß Gröden sich in unserer traurigen Angelegenheit so eifrig zeigt, begreife ich,« sagte Lena, nachdem sie aus tiefem Nachdenken erwacht war, »er liebt ja dich und will dich erringen, und außerdem« – Lena lächelte schmerzvoll – »ist der Fall ja für einen künftigen Staatsanwalt und schneidigen Kriminalisten an und für sich schon lockend. Daß aber Colmar sich ihm und bescheidenerweise noch dazu heimlich zur Hilfe anbietet – Colmar, der jetzt gesundheitlich so übel daran ist, und den nichts als die Freundschaft zu meinem armen Hans zu handeln treibt – das ist ebenso überraschend als schön.«

»Meinst du!« entgegnete trocken Edwine.

Ihre Schwester schaute betroffen auf. »Du meinst das nicht?« fragte sie und schüttelte höchlich verwundert den Kopf.

Edwine lachte schneidend auf: »Nun, wir und vor allem Gröden, wir haben so unsere eigenen Vermutungen.«


An diesem Nachmittag war kein Briefträger mehr vor die Villa Mühlheim gekommen. Colmar wußte das, denn seit er Edwine verlassen und sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, bewachten seine Augen aufmerksam das Gittertor.

Aber auch Mühlheim und Durand taten dies, und letzterer tat es mit der festen Absicht, keinen etwa noch für Colmar einlaufenden Brief in dessen Hände gelangen zu lassen.

Gegen fünf Uhr fand Colmar sich wieder unten ein.

Er zeigte sich jetzt weniger nervös als früher und spielte mit großer Willenskraft den Harmlosen. Allein nicht nur er, auch alle anderen atmeten auf, als der unbehagliche Nachmittag zum Abend geworden war, und die Zeit zur Abfahrt herankam.

»Ich habe einen Fiaker bestellt,« bemerkte Durand, sich zu dem schon sehr unruhig gewordenen Colmar wendend, »Sie können ganz unbesorgt sein. Der Mann ist sicher schon eingetroffen. Ich sehe wenigstens einen Wagen unten.«

Im selben Augenblicke kam Wilhelm herein und meldete, daß Nummer 184 da sei.

»Hat Ihnen der Kutscher aufgetragen, daß Sie sein Kommen melden sollen?« fragte Durand, auf seine Uhr sehend.

Wilhelm bejahte.

»Es ist tatsächlich schon Zeit zum Aufbruch,« warf der heute auch sehr nervöse Kommerzienrat ein, und nun standen alle auf.

Colmar passierte dabei noch etwas Unangenehmes. Der Stiel des Weinglases, das er in seiner Zerstreutheit noch umspannt hielt, brach ab.

Während er sich stotternd entschuldigte, küßte Durand inniger, als seine Umgebung wahrnahm, Edwinens Hand und sagte ihr etliche liebe, heimliche Worte.

Da fühlte er auch Lenas kühle, kleine Hand in der seinigen, und als er sich ihr zuwandte, schaute er in tränenvolle Augen. »Möchte Ihre Reise mir Ruhe bringen,« flüsterte sie, nickte ihm freundlich zu und ging rasch auf Colmar zu, der gegenüber Mühlheims steifem Wesen plötzlich verstummt war.

Lena wollte sich in ihrer herzlichen Art von ihm verabschieden und ihm die Hand reichen, aber er verbeugte sich so tief vor ihr, daß er die ihm entgegengestreckte Hand offenbar nicht sah, und ebenso verhielt er sich gegenüber Edwine, die sich übrigens ohnehin sehr kühl benahm.

Nur gut, daß dies alles so schnell vorüberging. So kamen eigentlich alle beteiligten Personen erst viel später zum Bewußtsein der ganz merkwürdigen Art, in welcher der sonst so formengewandte Colmar aus dem ihm so befreundeten Hause gegangen war.

Als die beiden Herren auf die Straße hinaustraten, stand schon der Kutscher neben dem Wagenschlag, den er, während er sich danach erkundigte, wohin er fahren müsse, langsam öffnete.

»Na, etwas rascher!« rief Colmar ungeduldig. »Sie haben wohl geschlafen?« Es klang geradezu grob.

»Fahren Sie uns zum Nordbahnhof,« sagte Durand freundlich. »Wir wollen zum Schnellzug zurechtkommen.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden.«

Colmar stieg hastig in den Wagen. Der Kutscher machte ein pfiffiges Gesicht, zeigte auf den Einsteigenden und nickte.

Durand warf ihm einen warnenden Blick zu und hieß zugleich Wilhelm das Gepäck in den Wagen legen.

Als das geschehen war, stieg Durand auch ein.

»Verwünschte Trödelei!« knurrte Colmar.

»Geben Sie acht, da steht Ihre Reisetasche,« rief Durand dem sich ungeduldig Bewegenden zu.

Colmar tastete danach auf dem finsteren Grund des geschlossenen Wagens, aber die Reisetasche stand auf dem Rücksitz. Durand hatte nur Colmars Augen ein anderes Ziel geben wollen, als den Mann, der sich soeben zu dem Kutscher hinaufgeschwungen hatte, und welcher nun, vom Kutschbock verdeckt, nicht mehr zu sehen war.

Aber zu hören war jetzt etwas. Der Kutscher pfiff den Radetzkymarsch.

Er konnte jedoch dieses Musikstück offenbar nicht bis zu dessen Ende pfeifen, denn zweimal hörte er an einer bestimmten Stelle auf und begann wieder von vorne.

Colmar, der sich in seinen Reisemantel wickelte, achtete nicht darauf, Durand jedoch nickte unmerklich, als diese musikalische Übung begann.

»Wieder ein Glied,« dachte er, während der Wagen durch das nächtliche Wien fuhr.

Die beiden Herren waren sehr schweigsam. Einmal fuhr Colmar, der vielleicht wirklich eingeschlummert war oder auch dies nur heuchelte, empor und betastete die Brusttasche seines Rockes.

Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich danach wieder in die Wagenkissen zurücksinken. Hatte er sich überzeugt, ob er sein Geld auch wirklich bei sich habe, oder hatte er sich des Besitzes einer Waffe versichert, einer Waffe, mit der er rasch allem ein Ende machen konnte, falls es zum Schlimmsten kommen sollte? – –

Am Bahnhofe angekommen, kaufte sich Durand noch Zigarren. Bei dieser Gelegenheit konnte er unauffällig mit Speidl noch einige Worte wechseln und ein Telegramm in Empfang nehmen, das an Herrn v. Eichen adressiert war und von diesem auf den Bahnhof geschickt worden war. Auch einige Zeilen an die Direktion des Künstlerhauses schrieb Durand noch und warf den Brief in einen Postkasten.

Eine Viertelstunde später fuhr der Zug mit ihm und Colmar aus der Halle. Letzterer hatte beim Portier tatsächlich nur das Notwendigste zu solcher Reise, einen kleinen Koffer und einen warmen Plaid, entgegengenommen.

Er machte es sich sofort bequem in dem Coupé, das mit ihm nur noch Durand teilte. Er blies sich ein Luftpolster auf, hüllte sich in den Plaid und legte sich nieder.

Schlief er wirklich so rasch ein oder heuchelte er nur die tiefen Atemzüge eines Schlafenden, um von seinem Reisegefährten nicht behelligt zu werden?

Durand war es gleichgültig, oder vielmehr, es war ihm sogar lieb, daß er nicht zu reden brauchte.

So hüllte denn auch er sich in seine Reisedecke und gab sich dem Schlafe hin. Er wußte ja, daß er etliche Stunden vor sich habe, welche er der Ruhe widmen durfte.

Einmal erwachte er plötzlich.

Man hatte eine Station ausgerufen.

In der Minute, während welcher der Zug hielt, machte Durand eine Wahrnehmung. Er bemerkte, daß Colmar munter war. Einen Moment lang hatte er des Malers Augen offen gesehen. Aber er hatte auch während der Fahrt schon gewacht und in seiner Reisetasche zu tun gehabt. Die Tasche befand sich jetzt an einem anderen Platze.

Durand schlief nicht mehr ein.

Siebzehn Minuten später hatte der Zug Prerau erreicht. Durand ließ ein Fenster nieder und neigte sich hinaus.

Die Bahnhofsuhr zeigte gerade ein Uhr.

Es war eine nebelige, naßkalte Nacht. Das Licht der Gaslaternen hatte nicht viel Kraft. Jede der bleichen Flammen war von brauenden Dünsten, denen sich der Rauch der Lokomotive zugesellte, verschleiert.

Der Bahnhof bot ein trübes, ein fast gespenstisches Bild, einen Anblick, der wohl niemand heiter stimmte.

Durand aber schien heiter zu sein, denn er sah recht animiert umher, ja er pfiff sogar. Er pfiff »Nie sollst du mich befragen« aus Lohengrin. Aber es mußte ihm wohl gleich zum Bewußtsein kommen, wie wenig rücksichtsvoll solch musikalische Äußerungen gegenüber seinem Reisegenossen seien, denn er stellte sie sofort wieder ein.

Als der Zug weiterfuhr, schloß er auch wieder das Fenster und drückte sich fröstelnd in seine Ecke.

Aber auch jetzt wehrte er den Schlaf ab. Er durfte sich jetzt auf keinen Fall mehr der Ruhe hingeben.

Mährisch-Weißkirchen, Zauchtel, Stauding, Schönbrunn wurden ausgerufen. Durand betrachtete sich genau die wenigen Passagiere, welche auf den Nachtschnellzug warteten. Nicht einer entging seinem scharfen Blick.

Einmal sah er gähnend und mit allen Zeichen des Gelangweiltseins auf seine Uhr, stand dann auf und reckte sich, wie einer, dem das Stillesitzen schon zur Qual geworden ist, ließ auch wieder ein wenig das Fenster herab und nahm ein paar Atemzüge frischer Luft ein.

Da kam man endlich ganz fahrplanmäßig nach Oderberg.

Durand hatte, voraussetzend, daß Colmar ihn beobachte, schon etliche Minuten, bevor man die Station erreichen konnte, sein Kursbuch herausgezogen und halblaut Ankunfts- und Abfahrtzeit des Zuges im Hinblick auf die nahende Station abgelesen.

»Na, fünfundzwanzig Minuten Aufenthalt,« brummte er. »Da kann man sich während des Rangierens schon ein bißchen die Füße vertreten,« hatte sich daraufhin den Überrock angezogen, die Mütze aufgesetzt und schaute nun angelegentlich den matten Lichtern der Station entgegen, welche rasch näherkamen.

Und als der Zug in Oderberg hielt, stieg Durand sofort aus.

Colmar tat, als erwache er gerade. »Wo sind wir denn?« rief er Durand nach.

»In Oderberg,« antwortete dieser. »Lassen Sie sich nicht stören. Unser Wagen wird mit verschoben. Oder wollen Sie auch ein wenig an die Luft kommen?«

»Ach – nein. Ich bleibe lieber hier, wo ich bin,« klang es verdrießlich aus dem Wagen zu Durand hinab, der bereits auf dem Trittbrett stand.

Jetzt ging der Doktor über die Geleise zu dem Bahnsteig hinüber. Es waren außer ihm noch etliche andere Reisende ausgestiegen und warteten darauf, den neurangierten Zug besteigen zu können. So gab es also ein ziemlich bewegtes Leben auf dem Bahnhofe, auf welchem ja auch alle die diensthabenden Beamten hin und her eilten, da und dort Rufe und Befehle laut wurden und weiße, rote und grüne Lichter auftauchten und wieder verschwanden.

Colmar schloß, als Durand den Wagen verlassen hatte, nach einem tiefen Atemzuge die Augen. Nicht daß er zu schlafen hoffte oder einschlafen wollte, nein, er wollte nur endlich völlige Dunkelheit um sich haben, wollte endlich nichts mehr sehen.

Wenn er nur auch allen anderen Eindrücken zu entrinnen vermocht hätte! Aber das zeitweilige Erschüttern des Wagens, das Kreischen der Achsen und das spröde klingende Zusammenschlagen der Puffer quälten ihn ebenso wie die einzelnen Rufe und sonstigen Geräusche, welche von draußen kamen.

Eben als der abgekoppelte und wieder angehängte Wagen, darin Colmar nun schon seit Stunden ruhelosen und peinvollen Gedanken nachhing, sich endgültig in Bewegung setzte, um auf ein anderes Geleise zu kommen, ließ sich ein neues Geräusch hören – ein Tönen oder noch besser gesagt eine Tonfolge. Das Lohengrin-Thema »Nie sollst du mich befragen« klang ganz leise, immerhin aber noch vernehmlich bis an Colmars Ohr. Er dachte anfangs gar nichts anderes dabei als eben an Durand, und daß er sich auf solche Weise die Zeit des Wartens kürze. Ganz unklar ging dieser Gedanke durch des Malers Hirn – einige Augenblicke später aber richtete er sich auf, warf, als ob er sich von etwas Schwerem befreien müsse, den Plaid von sich und eilte zum Fenster.

Wenn er Durand hatte sehen wollen, kam er zu spät, denn die Rangiermaschine mit den wenigen Wagen, die sie zum anderen Geleise bringen mußte, war schon an der Station vorbeigefahren und manövrierte jetzt ziemlich weit draußen im zweifachen Dunkel der Nacht und des Nebels, in das Colmars weit geöffnete Augen hinausstarrten.

»War das ein Verständigungszeichen?« fragte er sich ganz laut. Seine Stimme war heiser, sein Gesicht bleich vor Erregung, und seine Hand legte sich auf die Klinke der Wagentür.

Diese war nicht geschlossen, sie klappte auf, als Colmars Hand so schwer auf ihrer Klinke lag. Immer breiter wurde der dunkle Spalt. Es war, als ob die Nacht zu ihm herein wollte – diese finstere Nacht, in welche der bleiche Mann mit gierigen Augen hinaussah.

Einen Moment lang schien es, als wolle er das Coupé verlassen, aber er tat es nicht. Er schloß die Tür, zog sich in seine Ecke zurück und wickelte sich wieder in seinen Plaid. Es schlugen ihm dabei die Zähne zusammen. Er fühlte nach etlichen Taschen, die er in seinen beiden Röcken hatte, und murmelte: »Das alles hat noch Zeit – hat noch immer Zeit.«

Und dann verhielt er sich ganz still.

Lauschte er auf all die natürlichen Geräusche, die zu hören waren? Oder lauschte er auf den Gang von Ereignissen, die sich vielleicht jetzt, wenige Schritte von ihm, abspielten und die ihn sehr, sehr viel angingen?

Jetzt stand sein Wagen wieder knapp vor dem Bahnsteig. Die Passagiere schickten sich an, einzusteigen.

Die Schaffner eilten den Zug entlang und öffneten die Türen; auch diejenige des Wagenabteils, darin Colmar sich befand, wurde geöffnet.

»Trzebinia, Schaffner, zweiter Klasse. Nach Trzebinia fahre ich!« rief eine helle Frauenstimme. Im selben Augenblick flog schon ein Köfferchen und ein Karton ins Coupé.

»Trzebinia! Da steigen Sie nur hier ein,« sagte gleichzeitig eine Männerstimme, und eine Dienstmütze wurde sichtbar und der schwankende Lichtschein einer Handlaterne. Gleich danach kletterte ein schlankes junges Mädchen ins Coupé und ließ sich nach schüchternem Gruße, der nicht erwidert wurde, gleich neben der Tür nieder. Sie mochte sich ein wenig scheuen vor dem unheimlichen, stillen Klumpen, der die andere Ecke des Sitzes einnahm.

Sie hätte vermutlich am liebsten das Coupé gleich wieder verlassen – es sah wenigstens so aus, denn ihre Augen suchten den Schaffner – und dieser kam auch gerade daher. Das hübsche Mädchen erhob sich und öffnete schon den Mund, aber es kam nicht mehr zum Reden.

Der Schaffner schloß soeben die Tür. Da schrak die junge Reisende auch noch aus einem anderen Grunde zusammen. Denn der, welcher sich bisher nicht gerührt hatte, der stand jetzt plötzlich dicht neben ihr und schrie zum Fenster hinaus: »Da soll noch ein Herr einsteigen!«

Der Schaffner achtete nicht auf diesen Ruf, der war schon weitergeeilt.

Das Mädchen aber duckte sich jetzt noch ängstlicher zusammen, und ihr Reisegefährte ging, eine Entschuldigung murmelnd, zu seinem Sitz zurück.

Der Zug war schon in Bewegung. Eine Minute später verschwanden die letzten Lichter der Station Oderberg.


Durand wußte, schon seit er Wien verlassen hatte, daß er in Oderberg oder wohl auch schon früher irgendwo mit Klesing zusammentreffen werde. Diese Kenntnis hatte ihm das vor der Abfahrt übernommene Telegramm vermittelt, deshalb seine wachsende Aufmerksamkeit, seit man Oderberg immer näher kam. Als er auf dieser Station den Zug verlassen hatte, begab er sich, wie schon erwähnt, auf den Bahnsteig, konnte aber Klesing nicht sogleich entdecken. Und als er endlich seiner gewahr wurde, befanden sich ziemlich viele Leute zwischen ihm und dem Agenten, der ihn noch nicht entdeckt hatte.

Da war es, daß Durand noch einmal das zwischen ihm und seinen Helfern ein für allemal verabredete Signal pfiff, worauf Klesing, ihn erwartend, stehen blieb.

»Du lieber Gott! Wie schauen denn Sie aus!«

Das war Durands Gruß, und er paßte recht sehr zu der kläglichen Überraschung, welche Klesings Aussehen jedem geboten hätte, der ihn bei seiner Abfahrt von Wien noch frisch und gesund gesehen.

Die eine Hälfte seines Kopfes war verbunden, und eines seiner Augen sowie ein Teil seiner Wange waren hoch verschwollen.

Gleich nachher saßen die zwei im Restaurationszimmer beisammen, wo Durand schon Tee für sich aufgetragen fand. Und während der Doktor die willkommene Labung zu sich nahm und dabei die Tür des Lokales im Auge behielt, berichtete der Agent über sein unliebsames Erlebnis und über noch allerlei anderes.

Was vierundzwanzig Stunden vorher geschehen war, war folgendes.

Kaum hielt der Zug in Oderberg, als ein Bahnbeamter die Wagenreihe entlang ging und mehrmals laut ausrief, daß für Nadja Kissilew ein Telegramm da sei.

»Nadja« – dieser Name schlug gewaltig an Klesings Ohr. Als der Beamte ihn und den anderen Namen zum zweiten Male ausrief, notierte sich der Agent rasch diesen zweiten Namen, dann ließ er das Fenster herunter und steckte den Kopf hinaus. Da kam beim Nachbarfenster auch ein Kopf zum Vorschein. Es war ein hübscher, blonder Frauenkopf.

»Das Telegramm ist an mich gerichtet. Bitte, mein Herr, geben Sie es mir.«

So bat eine tiefe, klangvolle, derzeit ein wenig bebende Stimme. Natürlich, man wird erregt, wenn man während einer Bahnfahrt, noch dazu Nachts, ein Telegramm erhält.

Der Beamte zögerte mit der Übergabe. »Gnädige können sich legitimieren?« fragte er.

»Sogleich,« antwortete die Dame und verschwand vom Fenster. Nach kurzer Zeit kam sie wieder zum Vorschein und reichte dem Herrn ein Papier. Es war ein Reisepaß.

Der Beamte winkte einen Bediensteten, der eine Laterne trug, herbei und warf einen Blick auf das Papier. »Sehr wohl, meine Gnädige,« sagte er alsdann, reichte ihr den Paß und das Telegramm, griff artig an seine Mütze und zog sich zurück.

Um diese Zeit verließ Klesing sein Coupé.

»Achtung! Es wird verschoben,« schrie ihm der diensthabende Beamte, der soeben vorübereilte, zu, und da gab es auch schon dem ganzen, noch ungeteilten Zuge einen Ruck, lösten sich etliche Wagen los und rollten samt der Lokomotive auf die Strecke hinaus.

Im letzten dieser Wagen, die da entführt wurden, befand sich Nadja.

Einen Augenblick lang schaute Klesing dem verschwindenden Wagen nach, dann ging er in das Telegraphenbureau des Bahnhofes.

Aber er fand den Beamten dort nicht. Es war nur ein Diener anwesend, ein nicht übermäßig intelligenter Mensch, der sich, was ja übrigens von seinem Standpunkte aus ganz richtig war, nicht dazu herbeiließ, irgendwelche Auskünfte zu geben, sondern den Fremden an den Inspektor wies, der ja ohnehin gleich kommen müsse.

Wer aber nicht kam, das war der Herr Inspektor.

Sehr erklärlich. Es galt ja, etliche vierzig Personen unterzubringen, höhere Beamte, welche von einer Konferenz kamen und natürlich bequem versorgt sein wollten.

Da hatten denn die Herren vom Dienst alle Hände voll zu tun, und Klesing war gezwungen, sich in Geduld zu fassen und schließlich die Hoffnung aufzugeben, den Inhalt des Telegramms zu erfahren.

Fatal war ihm das natürlich, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, daß der Text der Depesche ja später festgestellt werden konnte, und machte sich, als der Zug langsam wieder zur Station zurückkehrte, bereit, wieder sein Coupé aufzusuchen.

Er hatte sich dessen Nummer gemerkt, aber es hätte dessen nicht bedurft, sah er doch dicht daneben Nadjas schönes, es wollte ihm dünken jetzt etwas blasses Gesicht hinter der spiegelnden Fenstertafel. Er hielt gerade darauf zu, als etwa ein Dutzend Herren sich zwischen ihn und sein Ziel schoben.

Die Schaffner hatten schon die Wagentüren geöffnet – die Herren stiegen ein. Klesing begriff natürlich, daß er für sich allein nicht ein ganzes Coupé beanspruchen könne, aber seinen Platz wollte er doch wieder haben, und deshalb drängte er sich vor. Aber er kam schon zu spät. Das Coupé war bereits besetzt.

»So öffnen Sie doch hier,« rief er dem Schaffner zu und zeigte auf Nadjas Coupé. Da tauchte der Beamte neben ihm auf und erklärte bestimmt, die Dame reise im Frauenabteil und dürfe nicht behelligt werden.

Im zweitnächsten Wagen seien noch Plätze genug.

Was wollte Klesing machen? Er ging, es war schon die höchste Zeit, wohin man ihn gewiesen hatte, schwang sich ärgerlich auf den hohen Tritt und lag im nächsten Augenblick auf dem Eisenbahnkörper. Eine Orangenschale, welche auf dem Tritt gelegen, und die man später auf der Sohle seines Stiefels fand, hatte ihn zu Fall gebracht.

Er wußte es nicht, daß der Zug ohne ihn weiterfuhr. Als er aus seiner tiefen Betäubung zu sich kam, befand er sich in der Wohnung des Stationsvorstandes unter den Händen eines Arztes, der soeben die Bemerkung machte, daß es ein Wunder sei, daß er sich beim schweren Aufschlagen auf das Trittbrett des Wagens nicht die Schädeldecke zertrümmert habe.

Klesing machte sich übrigens aus dem Zustande seiner Schädeldecke viel weniger als aus dem Umstande, daß die Russin nun allein davongefahren sei, und das sprach er, vielleicht in nicht ganz lichtvoller Weise, aus, weshalb der Arzt ihm beruhigend zuredete und ihm bis auf weiteres vollkommenste Ruhe verordnete.

Trotz oder vielleicht wegen seines erregten Widerspruches zwang man ihm die Ruhe dadurch auf, daß man ihn allein ließ, das heißt so gut wie allein ließ, denn es blieb nur ein Packer bei ihm, ein Tscheche, der keine Ahnung davon hatte, was der kranke Mann zu ihm sagte.

Erst gegen halb sechs Uhr Morgens kam der Stationsvorstand wieder, um nachzusehen, wie es mit dem Verunglückten stehe. Er fand ihn wohl matt und fiebernd, aber doch in einem Zustande, der ihn nicht daran zweifeln ließ, daß der Mann bei klarem Bewußtsein sei. Und da kam es zu Tage, was er denn eigentlich wolle, und wer und was er sei, und da gingen endlich die Depeschen nach Granica, nach Krakau und jene andere nach Wien ab.

Und etliche Stunden später fuhr der bandagierte, verschwollene Klesing, nachdem er auch noch einen Brief an Herrn v. Eichen geschrieben, eine Depesche aus Krakau und von dem Stationschef etliche Winke erhalten hatte, weiter gegen Norden.

Unterwegs hatte er noch einmal die Krakauer Depesche gelesen, davon ein Duplikat auch an das Wiener Sicherheitsbureau abgegangen war. Sie lautete:

»In dem Zuge, der um 5.26 hier eintraf, befand sich die bewußte Persönlichkeit nicht. Jeder folgende Zug wird im Auge behalten werden.«

Absender dieses Telegramms war der dem Krakauer Bahnhof zugeteilte Polizeibeamte.

In Trzebinia erfuhr Klesing, daß eine blonde Dame in Trauer den Wiener Zug verlassen habe und auf der russischen Strecke weitergefahren sei, und in Granica brachte er in Erfahrung, daß die bewußte junge Dame richtig die Grenze passiert habe.

Und als er, den Gegenzug erwartend, mit einem österreichischen und einem russischen Kollegen in der Bahnhofsrestauration saß, erfuhr er so ganz nebenbei, daß drei Tage zuvor eine ältliche Frau, die, aus Frankreich kommend, nach Rußland zurückkehrte, beim Wechseln des Zuges von einem russischen Polizeiagenten in Empfang genommen und von einer hierzu bestimmten Frau einer Leibesvisitation unterzogen worden sei, wonach ihr erst die Weiterreise gestattet worden war.

Diese Frau, die Gattin eines nach Sibirien Verschickten, heiße Malachow und stünde gleich allen, die mit ihr verkehren, unter dem Verdachte politischer Umtriebe.

Nun, Frau Malachow interessierte Klesing sehr wenig.

Er berichtete Durand auch nur ganz flüchtig von diesem seinem Gespräche mit den beiden Polizeiagenten.

Und als er darauf zu reden kam, befanden sich er und Durand auch nicht mehr in der Restauration des Oderberger Bahnhofes, sondern fuhren in einem der letzten Wagen des Zuges, in welchem das junge Mädchen sich so sehr vor dem blassen Manne fürchtete, welcher zuerst ihren Gruß nicht erwidert und gleich danach munter neben ihr gestanden hatte.

Das ängstliche junge Ding schlief in dieser Nacht nicht mehr, und sie wußte ganz genau, daß auch ihr Reisegefährte nicht schlief, denn wenn dieser sich auch völlig regungslos verhielt, so atmete er doch nicht wie einer, der ruhig schläft, sondern eher wie einer, dem die Luft zu knapp wird. Deshalb war die Kleine herzlich froh, als man beim Morgengrauen nach Trzebinia kam, wo sie den Zug verließ.

Und nebst ihr und anderen verließen ihn auch Durand und ein Mann, dessen halber Kopf von Binden verhüllt war.

Aber nur Durand trat an das Coupé heran, in welchem Colmar fröstelnd in der Ecke kauerte.

»Na, sieht man Sie endlich!« knurrte dieser verdrossen, als Durands Gesicht vor ihm auftauchte. »Wo waren Sie denn?«

»Ich habe mich bei meinem Tee ein wenig verspätet und konnte gerade noch in den letzten Wagen springen,« war Durands Erklärung, und dann setzte der Doktor hinzu: »Aber wenn Sie von jetzt an das Vergnügen meiner Gegenwart genießen wollen, so müssen Sie den Wagen wechseln. Ich fahre nämlich nicht nach Krakau.«

Dabei hatte Durand das Coupé betreten und bemerkt, wie sehr erschrocken Colmar war.

»Ja, es hieß doch –« stammelte er.

Durand zuckte die Schultern. »Was wollen Sie? Wir müssen oft unsere Dispositionen ändern.«

Colmar hatte sich erhoben und griff, gleich Durand, nach seinen Sachen.

»Also kommen Sie mit?« fragte Durand.

»Was soll ich denn tun?« entgegnete der andere verbissen.

»Ah! Sie sind doch ein freier Mensch. Und Sie wollten doch nach Krakau fahren. Ich will Sie daran nicht hindern.«

»Und wohin fahren Sie?«

»Das weiß ich noch nicht.«

Wie es in des Malers Augen aufblitzte!

»Jedenfalls bleibe ich bei Ihnen,« sagte er jetzt viel ruhiger, als er es noch soeben gewesen war.

Und danach verließen die beiden den Zug.

Der Mann mit dem verbundenen Kopf war nirgends mehr zu sehen.

Aber er war doch ganz nahe. Er stand hinter einem hochbeladenen Gepäckwagen und beobachtete die beiden.

»Ja, wie ist das denn? Sie können ja gar nicht über die Grenze,« sagte Durand, plötzlich stehen bleibend, zu Colmar.

»Warum denn nicht?« meinte dieser.

»Sie haben ja keinen Paß.«

Über des Malers Gesicht verbreitete sich eine jähe Röte, als er entgegnete: »O doch. Ich habe ja vorgehabt, zu reisen, und so bin ich mit allem dazu Nötigen versehen.«

»Na, das trifft sich gut,« meinte gleichmütig Durand und betrat das jetzt recht unfreundlich aussehende Bahnhofsgebäude.

Er sah ihn nicht, aber er fühlte den grimmigen Blick Colmars, der langsam, ganz langsam hinter ihm her ging.


 << zurück weiter >>