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Durand erwachte erst gegen zehn Uhr. Er hatte selbst da noch nicht ausgeschlafen und überlegte gerade, ob er sich nicht noch ein wenig Ruhe gönnen solle, da hörte er die Stimme des Kommerzienrats und gleich danach diejenige Wilhelms.
»Meine Töchter sind vorhin von Baden wieder zurückgekommen,« rief Mühlheim. »Ersuchen Sie Fräulein Edwine, daß sie zu mir kommen möge.« Er mochte am Ende des Korridors stehen, und Wilhelms etwas hohe Stimme antwortete darauf vom Stiegenhause her irgend etwas Unverständliches, worauf Mühlheim entgegnete: »Wie, das Fräulein ist im Garten? Da stören Sie sie nicht. Ist Lena auch unten?«
»Nein, Fräulein Edwine ist allein,« lautete die Antwort, welche Durand vielleicht nur deshalb ganz gut verstand, weil er jetzt mit aller Aufmerksamkeit darauf wartete, was Wilhelm auf seines Gebieters zuletzt gestellte Frage antworten werde.
Jetzt überlegte er nicht mehr, ob er schon aufstehen oder ob er noch liegen bleiben solle.
Er fiel sozusagen in seine Kleider hinein, und nachdem er Kopf und Gesicht einer ebenso eiligen als gründlichen Behandlung mit kaltem Wasser unterzogen hatte, war er sehr bald mit seiner Toilette fertig und hatte dazwischen sich noch die Zeit genommen, mehrmals einen hastigen Blick zum Fenster hinauszuwerfen. Aber er konnte in dem noch kahlen Garten, der sich da unten ausbreitete, kein menschliches Wesen gewahren.
Ehe er das Zimmer verließ, und auch später noch, benahm er sich ein bißchen sonderbar.
Er horchte, ob sich niemand auf dem Gange oder im Stiegenhause rege. Als alles still blieb, öffnete er leise seine Tür, die er ebenso sachte wieder hinter sich schloß, und eilte so geräuschlos als möglich die Stiege hinab.
Er kam denn auch ungesehen aus dem Hause und gewann ebenso unbemerkt von den Bewohnern der Villa die vorderste Partie der Gebüsche, welche die breite Rasenfläche einsäumten, die sich hinter dem Landhause hindehnte.
Jetzt hatte Durand keine gar so große Eile mehr. Sich immer hinter Bäumen und Stauden haltend, sandte er seine Blicke auf die Suche nach der jungen Dame aus, welche den guten Gedanken gehabt hatte, so schnell aus Baden wieder zurückzukommen.
Aber er war schon kreuz und quer durch die ganzen Anlagen gegangen, und noch immer gewahrte er die Dame nicht, um derenwillen er sich so sehr beeilt hatte.
Plötzlich aber stand er dicht vor ihr.
Er hatte einen mit Latschenkiefern und sonstigen Alpenhölzern bepflanzten Hügel umschritten, dessen einer Abfall an eine Kastanienallee grenzte, die unweit dieses Hügels an einem Tor des Gartens endete und sich anderseits bis in die Nähe der Villa hinzog.
Am Fuße dieses Hügels also sah Durand die junge Dame plötzlich vor sich. Sie jedoch bemerkte sein Herankommen nicht. Die Hände im Schoß gefaltet, den Blick zur Erde gerichtet, im hübschen, lieblichen Gesicht jenen Ausdruck peinvoller Spannung, den aussichtsloses, schmerzliches Grübeln erzeugt, so saß sie ganz versunken in quälenden Gedanken da. Mit dem romantischen Hintergrunde, den die gähnende Tropfsteingrotte, die sich hinter ihr befand, abgab, hätte diese Frauengestalt ein prächtiges Modell für eine Personifikation ohnmächtigen Weltleides gegeben.
Einige Sekunden lang betrachtete der neue Ankömmling das hübsche, gar so traurige Mädchen, dann sagte er leise, mit weicher Stimme: »Meine liebe, liebe Edwine!«
Da erhob sie langsam, wie im Traum, das tief geneigt gewesene Gesicht, darin ein jähes Rot aufstieg.
Als ihr ihre Augen sagten, daß sie nicht geträumt habe, taumelte sie mit einem leisen Schrei empor und legte aufschluchzend ihre Arme um den Hals des jungen Mannes, der, selber tief bewegt, sie an sein Herz zog.
»Eugen, ich verstehe dein Hiersein nicht!« Das waren ihre ersten Worte, nachdem sie sich ein wenig gefaßt hatte.
Er lächelte. »Es hat sich ganz einfach gemacht,« erklärte er. »Dein alter Verehrer und mein alter Freund, Herr v. Eichen, hat mich – natürlich ohne meinen Namen zu nennen – deinem Vater zur Untersuchung des traurigen Falles vorgeschlagen, und so bin ich denn da, bin mit Einwilligung deines Vaters sogar für eine Zeit dein Hausgenosse.«
»Du also bist jener Durand, von dem Lisi behauptet –?«
»Ich weiß nicht, was sie behauptet hat, ich weiß nur, daß ich derzeit der sehr, sehr glückliche Eugen Durand aus Nancy bin, dessen Vater Seidenhändler und ein Jugendfreund des Kommerzienrats v. Mühlheim war.«
Herr Durand aus Nancy erinnerte in diesem Augenblick keineswegs an den ernsten, scharfausschauenden, jede Winzigkeit abwägenden Mann, der er im Dienste immer war – er sah jetzt in seiner Liebesseligkeit um reichlich ein halbes Dutzend Jahre jünger und so überschwenglich froh aus, daß es gar nicht zur Situation paßte, denn diese blieb jedenfalls sehr ernst, trotzdem sie augenblicklich so reizend war.
»Du also suchst nach den Spuren dessen, der das Verbrechen an König begangen hat?« fragte Edwine sehr verwundert.
Ihr Liebster war rot geworden, aber er sah ihr ruhig in die Augen, und ruhig war die Art, in der er sagte: »Ja, Edwine, ich, Doktor juris Gröden, tue hier die Dienste eines Detektivs, und ich werde sie nicht nur mit großer Gewissenhaftigkeit, ich werde sie auch mit großem Interesse tun, denn ich hoffe nicht nur dich dadurch zu erringen, ich hoffe auch der Gerechtigkeit einen ansehnlichen Dienst dadurch zu leisten. – Und auch deiner Schwester möchte ich dienen,« setzte er herzlich hinzu, »der Armen, die gewiß nichts als die qualvolle Ungewißheit so schnell wieder heimgetrieben hat. Ist es nicht so?«
Edwine drückte ihm die Hand. »Es ist so und – du wirst uns helfen. Du wirst Licht in diese schreckliche Sache bringen. O, wie ich dir vertraue! Und – weißt du, daß Papa entzückt von dir ist?« sagte sie, fast schelmisch lächelnd. »Und er kennt dich doch erst seit Stunden! – Aber,« setzte sie seufzend hinzu, »wie kann ich nur jetzt froh sein, wo Lena so leidet, König so elend endete!«
»Wir wissen noch nicht, ob er endete,« sagte auffallend kühl der, welcher eigentlich Gröden hieß, der jedoch nach wie vor zunächst Durand bleiben mußte.
Seine ihm heimlich Verlobte sah ihn erstaunt an. »Wie du redest, wie eigentümlich du redest!« sprach sie vorwurfsvoll. »Kann man denn jetzt noch daran zweifeln, daß der Arme tot ist?«
Durand zuckte die Achseln.
Da fuhr Edwine in der Art einer, die genau überlegt, ehe sie redet, fort: »Es spricht ja doch alles dafür, daß man ihn getötet und die Leiche dann beiseite geschafft hat.«
»Beiseite! Wo ist dieses so kurzweg genannte Beiseite?«
»Ja, weiß denn ich es?«
»Laß gut sein, Liebste. Strenge dein Gehirn nicht ganz unnötig an. Es kann sich's keiner vorstellen, wo diesmal dieses Beiseite sein könnte. Man hat mir gesagt, daß König gegen elf Uhr von hier fortging. Stimmt das?«
»Es stimmt.«
»Und daß er sein frühes Fortgehen damit motivierte, er müsse noch vor zwölf Uhr, vor Drucklegung des Blattes, in der Redaktion sein?«
»Ja, so sagte er.«
»Er ist jedoch nicht in der Redaktion gewesen, hat – wie man die Sache jetzt ansehen muß – gar nicht die Absicht gehabt, in den ersten Bezirk zu fahren, sondern ist nach seiner Wohnung gefahren, wo er –« Durand redete nicht weiter. »Es ist ganz zwecklos, dir den Kopf warm zu machen mit dem, was und wie ich über den Fall denke. Sage mir nur noch zweierlei.«
»Was denn?«
»Hat König auch gesagt, daß er am Dritten Nachmittags eine größere Summe Geldes behoben hat?«
»Nein. Ich wenigstens weiß nichts davon. Wie hast du es erfahren?«
»Sein Bankier brachte es gestern abend der Behörde zur Kenntnis. Es waren sechstausend und etliche hundert Gulden.«
»Merkwürdig. Wozu brauchte er denn jetzt solch eine Summe?«
»Und jetzt meine zweite Frage.«
»Nun?«
»Bist du überzeugt, daß er deine Schwester wirklich liebte, so recht innig, so ganz ausschließlich – so – nun – halt so, wie ich dich liebe, so, daß er an eine andere gar nicht denken mochte, daß keine andere auch nur die geringste Gewalt über sein Herz oder seine Sinne erlangen konnte?«
Bei dieser Frage, welche zugleich eine Liebeserklärung war, sah Edwine sehr glücklich aus, aber das Nachdenken verscheuchte bald ihr Glücksempfinden oder trübte es wenigstens.
»Wie du mich liebst – ich glaube, ganz so hat König Lena nicht geliebt, wie ja auch ihre Liebe nicht der meinigen gleicht. Er war herzlich lieb gegen sie; sie selber nannte seine Liebe ›onkelhaft‹, und sie – nun sie schwärmte ihn an und bewunderte ihn und« – wieder huschte ein schelmisches Lächeln über Edwinens liebliches Gesicht – »das tu' doch ich nicht, wiewohl ich dich für den klügsten und besten Mann der Welt halte,« setzte sie hinzu und sah ihn mit einem Blick an, aus dem die herzlichste Bewunderung sprach. »Wie hätte denn ihre Liebe auch der unserigen gleichen können?« fuhr sie fort. »Bedenke doch, er war um mehr als zwanzig Jahre älter als sie – daher rührte wohl auch seine Ruhe und stete Gleichmäßigkeit. Ich wenigstens habe ihn nie leidenschaftlich gesehen. Gestern aber fehlte es ihm allerdings an der gewohnten Ruhe, derenhalben ihn Erich stets den ›Olympier‹ nannte.«
»Wie war er gestern?«
»Aufgeregt, entschieden aufgeregt.«
»Nun – am Verlobungstage!«
»O, nicht freudig aufgeregt. Ganz im Gegenteil – er mußte das bei solcher Gelegenheit übliche Frohsein förmlich heucheln.«
»Ah, ihr habt das gemerkt?«
»Lena sagte es ihm direkt, daß er peinvoll aufgeregt sei, und drang in ihn, es ihr zu sagen, was ihn denn quäle.«
»Nun?«
»Er sagte, sie würde es später einmal erfahren. Sie war sehr betrübt, als er im Wintergarten von ihr Abschied nahm. – Aber was hast du denn?«
Edwine hatte diese Frage mit Recht sehr verwundert gestellt, denn bei ihrer letzten Bemerkung war Durand ein wenig zusammengefahren.
Er beantwortete auch ihre Frage nicht. Er war jedoch schon wieder ganz gelassen, als er die ihr ziemlich überflüssig scheinende Bemerkung machte: »Ah – richtig! Ihr habt einen Wintergarten?«
Er hatte sich zugleich erhoben und horchte gegen das Haus hin. »Ich glaube, es kommt jemand,« sagte er.
»Natürlich habe ich dich nur zufällig auf meinem Morgenspaziergang getroffen und habe dir von Nancy erzählt.«
Es kam wirklich jemand. Wilhelm war es, den Lisi heruntergeschickt hatte, damit er Fräulein Edwine hinaufbitte, weil Fräulein Lena wach geworden sei.
Wilhelm wunderte sich nicht darüber, daß Herr Durand mit seiner jungen Herrin in der Kastanienallee spazieren ging. Er hatte freilich gemeint, Herr Durand, der erst im Morgengrauen heimgekommen war, schlafe noch, fand es aber recht vernünftig von ihm, daß er lieber in dem sonnigen Garten als im Bett Erholung von der durchschwärmten Nacht suchte.
Durand geleitete die junge Dame ins Haus und verabschiedete sich im Flur recht zeremoniös von ihr, bat, als sie gegangen war, Wilhelm, er möge ihm das Frühstück auf sein Zimmer bringen, und erkundigte sich, ob Herr v. Mühlheim zu sprechen sei.
Der Herr Kommerzienrat war jedoch ausgefahren und wurde erst zum Mittagstisch wieder erwartet.
So ging denn Herr Durand auf sein Zimmer, frühstückte, besah sich dann den Wintergarten, den Wilhelm ihm wies, und verließ später auch das Haus.