Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Durand gegen Mittag wieder in das Zimmer des Oberpolizeirats eintrat, fand er daselbst auch Herrn v. Mühlheim, der, von Unruhe erfüllt, gekommen war, um sich danach zu erkundigen, ob sich das Dunkel, welches über der ebenso seltsamen als peinlichen Affäre lag, denn noch nicht ein wenig gelichtet habe.
Ach nein, es hatte sich noch keineswegs gelichtet. War doch nicht einmal dieser immerhin verdächtige Wasili Alexin des Mordes oder auch nur der Beihilfe zum Morde, falls überhaupt solch ein Verbrechen an König begangen worden war, ernstlich zu verdächtigen.
Einstweilen wußte man überhaupt noch gar nichts, als daß Nadja K. und ihr Landsmann einander und auch König gekannt hatten. Erwiesen war das bislang freilich noch nicht, aber annehmen durfte man es.
Jedenfalls mußte man Alexin festhalten und nach Nadja K. forschen und – falls ersterer nicht reden wollte – zu ergründen suchen, welche Ursache sein Grimm gegen König habe und welcher Art die »Schurkerei« war, die er, gerade am Verlobungstage Königs, hatte verhindern wollen.
Als Durand den beiden Herren Bericht erstattet hatte über das nicht uninteressante Verhör, dem er soeben beigewohnt, verließ er sie, um nacheinander zwei im Hause befindliche Kollegen aufzusuchen.
Der eine, welcher sämtlicher nordslawischen Idiome mächtig war, übersetzte ihm die wenigen, teilweise auch schon durch Abreißen des Papiers verstümmelten Zeilen, welche der Rest des Briefblattes, das man bei Alexin gefunden, noch enthielt.
Sie ergaben keinen einzigen verständlichen Satz. Es kam einmal etwas wie eine Anspielung auf einen Schwerkranken vor, und Warschau schien darin in Beziehung gebracht zu sein zu einer anderen Örtlichkeit, deren Name mit »Co« begann. Das Brieffragment gab also keinerlei Aufklärung.
Der zweite der Herren, die Durand aufsuchte, war ein ehemaliger Offizier und jetzt noch ein passionierter Jäger, und in diesen beiden Eigenschaften bezüglich der Beurteilung von Waffen vollkommen verläßlich. Er gab, nachdem er den Lauf des Revolvers, den man bei Alexin gefunden, untersucht hatte, sein Gutachten dahin ab, daß erst ganz kürzlich daraus ein oder mehrere Schüsse abgegeben worden seien, und nannte überdies noch einen Waffenkundigen ersten Ranges; dieser gab dasselbe Gutachten ab.
Daß das gefundene Porträt bereits vervielfältigt sei, in etlichen Stunden schon in der Hand des ganzen hauptstädtischen Sicherheitskorps und am nächsten Morgen bis über die Grenzen hinaus versandt sein würde, davon hatte Durand sich auch bald überzeugt.
Als er nach seinen verschiedenen Orientierungsgängen in sein eigenes Amtszimmer zurückkehrte, erwarteten ihn dort die Vorstände der Lohnfuhrwerksinnungen.
In der Villa Mühlheim wußte man nämlich nicht, mit welcher Art von Wagen König gekommen war, auch hatte ihn weder jemand aus dem Hause, noch einer der Festgäste wegfahren sehen. Dies hatte der Kommerzienrat, auf Durands Veranlassung hin, bereits erhoben, und das Resultat dieser Erhebung hatte er soeben vorhin Herrn v. Eichen und Durand mitgeteilt.
Letzterer, wenn auch ein negatives Resultat voraussehend, hatte sich schon am vorhergehenden Abend die Vorsteher der Einspänner- und Fiakerbesitzer bestellt. Sie waren gestern schon verständigt worden, zu welchem Zwecke sie bei der Polizei zu erscheinen hatten, und hatten die ihnen aufgetragenen Erhebungen bereits angestellt.
Und nun brachten sie eine Liste von elf Kutschern, welche am 3. März Gäste zur Villa Mühlheim gebracht hatten.
Nachdem Durand die Versicherung erhalten hatte, daß die betreffenden Kutscher sich Nachmittags um fünf Uhr im Zimmer Nummer 9 einfinden würden, war diese Angelegenheit einstweilen erledigt, und der junge Kriminalist fand ein wenig Zeit zum Aufatmen. Da er seit dem Frühstück nichts genossen hatte, dachte er jetzt daran, in irgend ein nahes Restaurant zu gehen, als ihm einige Zeilen von Herrn v. Eichens Hand zugestellt wurden. Sie lauteten:
»Man hat wieder einen eingebracht, der ein herrenloses Rad unter der Hand versetzte. Ich schicke ihn Ihnen zum Verhör. Herr v. Mühlheim ist soeben mit der Überzeugung weggegangen, daß die Polizei sehr wenig vermag. Im Grunde hat er recht. Wir wissen ja wirklich noch gar nichts, und es sind schon siebenunddreißig Stunden vergangen, seit man den Verschollenen zum letzten Male gesehen hat. Im übrigen ist M. entzückt von Ihnen.«
Durand zuckte, während er die letzten Bemerkungen las, die Achseln. Herr v. Mühlheims Entzücktsein kam ihm ja sehr gelegen, aber mit dem Stande der anderen Angelegenheit war auch er recht unzufrieden.
Er rief durch ein Klingelzeichen den Amtsdiener herein, der ihm Herrn v. Eichens Schreiben gebracht und sich dann zurückgezogen hatte. »Man will mir jemand vorführen. Ist der Häftling schon da?«
»Ja, Herr Doktor.«
»Mit dem Wachmann, der ihn festgenommen hat?«
»Jawohl.«
»Gut. Schicken Sie mir den Wachmann herein.«
Eine Minute später trat der Berufene in das Zimmer.
»Also was ist's mit Ihrem Mann? Wo und wann haben Sie ihn festgenommen?«
Daraufhin berichtete der Wachmann folgendes.
Er hatte gegen acht Uhr Morgens in Erfahrung gebracht, daß an der Grenze der Brigittenau ein verwahrlostes Individuum bei einem Branntweinhändler am vorhergehenden Abend ein Fahrrad versetzt hatte. Dem Manne schien es sehr eilig damit, zu Gelde zu kommen. Er hatte sich mit der Hälfte der Summe begnügt, die man ihm für das Pfand angeboten hatte, und war darauf eingegangen, sich die andere Hälfte im Laufe des nächsten Vormittags zu holen.
Dem Branntweinschenker kam nachträglich die Sache nicht recht richtig vor, und so beeilte er sich, am nächsten Morgen den vorüberkommenden Rayonposten davon zu verständigen. Gegen elf Uhr hatte dieser schon, wie alle seine Kollegen, Kenntnis davon, daß es sich bei dem mysteriösen Döblinger Fall vermutlich auch um ein gestohlenes Fahrrad handle, und so paßte er um so eifriger auf, ob der Branntweinschenker nicht etwa doch noch den Besuch des Radverpfänders bekomme. Es war zwischen jenem und dem Wachmann ein Zeichen verabredet worden, welches diesem verriet, daß die betreffende Persönlichkeit im Laden sei.
Wenige Minuten nach zwölf Uhr wurde dieses Zeichen gegeben, und wieder etliche Minuten später wurde der Verpfänder des Rades festgenommen.
Das war es, was der Wachmann zu berichten hatte. Er setzte noch hinzu, daß das Rad stark verbogen, und eine der Pneumatiks arg beschädigt sei, und daß der Eingebrachte behaupte, es in einem Donautümpel gefunden zu haben.
»Also bringen Sie Ihren Mann herein,« sagte Durand, als der Wachmann mit seinem Bericht zu Ende gekommen war.
Der Häftling war einer von jenen Tausenden von Individuen, welche jede Großstadt besitzt. Die Armut, die mindestens zum Teil verschuldete Armut, hatte ihn merkbar schon seit langem in ihren Krallen. Er sah halb verhungert und wie ein Trinker aus; sein Atem verriet schon von weitem, welcher Art der Geist sei, mit dem er sich sein Elend erträglich zu machen suchte. Er war ein Mann, der vielleicht noch nicht vierzig Jahre erlebt hatte, den jedoch Entbehrungen aller Art wie einen Sechziger aussehen ließen.
Eines nur nahm sofort zu seinen Gunsten ein, der traurige, aber freie Blick, den er nach höflichem Gruße auf Durand heftete. Er blieb in demütiger Haltung ganz nahe der Tür stehen.
»Kommen Sie nur näher,« sagte Durand freundlich.
Der Mann trat ihm ein paar Schritte näher, und nun begann ein recht gemütliches Verhör, ein Verhör, das so recht deutlich Zeugnis dafür ablegte, ein wie warmes, echter Menschenliebe zugängliches Herz Durand besaß.
»Also, wie heißen wir denn?«
Der Gefragte tat einen vernehmlichen Atemzug, und dann antwortete er leise: »Ich heiße Alfred Horst.«
Durand schaute ein wenig verwundert auf den sehr reduziert aussehenden Mann, der mit solch ungewöhnlich angenehmer Stimme und in ganz ungezwungenem Hochdeutsch redete.
»Also Alfred Horst,« fuhr er fort. »Wie alt und wo geboren?«
»Dreiundvierzig Jahre. Geboren auf Schloß Derenberg in Kärnten.«
»Ihr Beruf?«
Über des Mannes Gesicht zog ein tiefes Rot.
»Sie haben wohl derzeit keinen Beruf?«
»Nein, ich verdiene schon seit vergangenem September nichts Nennenswertes mehr.«
»Warum denn nicht? Sie sind ja, wenigstens anscheinend, gesund und haben eine gewisse Bildung.«
Alfred Horst schwieg. Er hatte den Kopf tief gesenkt.
»Na, reden Sie doch. Warum sind Sie seit September stellenlos?«
Durand war aufgestanden. Er legte seine schöne, feine Hand auf Horsts verstaubten, fleckigen Ärmel.
Da spürte er, wie der hagere Arm darunter zitterte, sah er, wie des Mannes ganze Gestalt bebte. Und noch etwas sah er, sah das Ausgehungertsein dieses ganzen schlotterigen Menschen.
»Wachmann, ich glaube, der Mann braucht dringend Nahrung,« sagte Durand und nahm aus seiner Börse einen Gulden, mit welchem der Wachmann das Zimmer verließ.
»Setzen Sie sich,« wandte sich Durand wieder an den Verhafteten, »und sagen Sie mir, solange wir allein sind, weshalb Sie schon lange brotlos sind.«
Dabei führte er den Mann zu dem Stuhle, welcher neben dem Amtstische stand, und drückte ihn darauf.
Und jetzt erhob Alfred Horst den Kopf und sagte, mit Tränen in den Augen und in der Stimme: »Ich glaube, Sie denken sich's ohnehin schon, weshalb ich keine Beschäftigung mehr gefunden und warum ich es schließlich aufgegeben habe, nach einer solchen zu suchen.«
»Vielleicht denke ich schon an das Richtige,« entgegnete Durand und sah mitleidsvoll auf sein Gegenüber, das, er merkte es recht gut, an einem Geständnis würgte. »Nicht wahr, Sie stehen unter Polizeiaufsicht?«
Alfred Horst nickte.
»Und solche Leute beschäftigt man nicht gern.«
Wieder nickte der jetzt sehr bleiche Mann. »Bis Ende Dezember habe ich mich bemüht, Arbeit zu erhalten,« sagte er leise, »aber man hat mich da, wo man nach Papieren fragt, nirgends angenommen. Hie und da fand ich für ein paar Tage, oft nur für ein paar Stunden eine Beschäftigung beim Schneeschaufeln, beim Eisaufladen oder beim Holzmachen. Auch Marktweibern habe ich geholfen und habe hie und da einen Taglöhner vertreten, aber dazwischen gab es wieder viele Tage, an denen ich kein Brot und kein Bett und kein Feuer sah.«
»Sie sind wohl derzeit auch obdachlos?«
»Seit zwei Wochen nächtige ich im Freien.«
»Wo denn?«
»In einer Sandgrube an der Grenze des Praters.«
»Und womit haben Sie sich das Leben gefristet?«
»Durch Betteln, wenn ich, der ich jetzt mit dem wenigsten hauszuhalten verstehe, keinen Kreuzer mehr besaß.«
»Sie haben es dereinst wohl nicht verstanden, mit Ihrem Gelde hauszuhalten?« fragte Durand, und die feinen Züge des Verhafteten studierend, setzte er hinzu: »Sie sind in einem Schlosse geboren. Sie nannten mir vermutlich nicht Ihren ganzen Namen?«
Der Mann lächelte bitter. »Ich habe ihn fast schon vergessen,« sagte er leise. »Einst nannte ich mich Horst v. Derenberg; es leben jedoch noch einige unbescholtene Leute dieses Namens, deshalb habe ich ihn abgelegt. Wie paßte er auch jetzt noch zu mir?« Er sah auf seine armseligen Kleider, auf seine zerrissenen Stiefel nieder und strich sich über seinen verwilderten Bart. Der Ausdruck von Ekel, welcher sich dabei in seinem Gesichte zeigte und der von tiefer Selbstverachtung sprach, berührte Durand recht schmerzlich.
Er legte seine feinen, weißen Finger auf die schmutzige Hand des Verhafteten. »Sagen Sie mir noch, weshalb Sie verurteilt worden sind.«
»Ich habe gestohlen.«
»Gestohlen!«
»Ich war, nachdem ich mein und auch teilweise meiner Verwandten Geld verspielt hatte, Schreiber bei einem Advokaten in Graz geworden. Sieben Jahre lang führte ich so ein armseliges, aber ehrbares Leben, dann wurde ich krank, lag etliche Wochen im Spital und war, als ich herauskam, ohne Verdienst. Natürlich, es gibt immer viele, die auf eine Stelle reflektieren. Ich will nicht davon reden, wie eifrig ich nach einem neuen Verdienst suchte – Sie glaubten es mir vielleicht doch nicht. Als ich nimmer wußte, wie ich weiterleben könne – ich war damals noch nicht auf die Idee gekommen, daß ich auch Taglöhnerarbeit tun könne – stahl ich, bestahl meinen früheren Brotherrn.«
»Und büßten dafür wie lange?«
»Vier Monate.«
Man konnte zwei tiefe Atemzüge hören, dann war es ganz still in der großen Amtsstube.
Nach einer Weile fragte Durand: »Wo haben Sie das Rad ge–nommen.«
Horst v. Derenberg war aufgestanden. Die Aufregung schüttelte ihn förmlich, als er, unwillkürlich die Hände faltend, sagte: »Werden Sie mir die romantische Geschichte denn auch glauben? – Sie ist so unwahrscheinlich, so ganz unwahrscheinlich.«
»Ich werde glauben, was Sie mir jetzt sagen werden,« entgegnete Durand und schaute gütig lächelnd zu dem vor ihm Stehenden auf.
Da setzte Horst sich wieder und begann: »Vorgestern nacht war es. Ich kauerte in meiner Sandmulde und wartete auf den Schlaf. Aber ich fror – ich hatte fast nichts genossen den ganzen Tag, da ist man doppelt empfindlich. Meine Wohnung ist, wie ich schon erwähnte, eine verlassene Sandgrube, denn um diese Zeit steht das Grundwasser dort zu hoch, als daß man abbauen könnte. Auch die Tümpel der Donau, deren es dort mehrere gibt, sind jetzt fast bis zum Rande gefüllt. Wie ich so ganz still in meiner Mulde kauere, höre ich's am Weg oben knirschen – nicht unter Schuhsohlen, nicht unter Tritten. Es kam ein Radfahrer daher. ›Der hat sich gehörig verirrt,‹ denke ich und war in Sorge um ihn, denn die Nacht war ziemlich finster, der Weg schlecht, und der nahe Tümpel tief. Gerade überlege ich, ob ich ihn nicht warnen soll, und erhebe mich zu diesem Zweck, da hält er, gar nicht weit von mir, an und springt ab, und dann geschieht, was ich am wenigsten erwartet hatte: er stößt das Rad in den Tümpel. Das Wasser spritzt hoch auf, und der Mann geht eilig weiter. Es war ein elegant gekleideter Herr. Er trug einen dunklen, pelzverbrämten Rock und eine Pelzmütze.«
»Einen pelzverbrämten Rock und eine Pelzmütze?« wiederholte Durand und winkte dem in seinem Berichte Einhaltenden fortzufahren.
Da sagte dieser: »Sehr deutlich konnte ich den Mann wohl nicht sehen, trotzdem er, als er sich so eilig entfernte, dicht bei mir vorüberkam. Als alles wieder still geworden war, stieg ich zur Straße hinauf und ging zu jener Stelle, an welcher er das Rad in das Wasser gestoßen hatte. Es war nicht mehr zu sehen. Sobald es Tag wurde, holte ich mir eine der Holzstangen, welche die Arbeiter in der Grube hatten liegen lassen, und suchte mit dieser das Rad zu heben, aber ein Bauer, der in der Ferne auftauchte, zwang mich, von meinem Versuche abzulassen. Während des ganzen Tages beschäftigte mich der Gedanke an das versenkte Rad. Ich fand auch gestern, wie so oft, keinen Verdienst, aber eine Frau schenkte mir ein Stück Brot. Damit und mit einem Strick, den ich gefunden hatte, kehrte ich in meine Grube zurück. Von dem Strick machte ich eine Schlinge an die Holzstange und suchte, als die Dunkelheit eintrat, abermals nach dem Rade. Und nun störte mich niemand, und ich fand es. Die Schlinge hatte sich richtig in der Lenkstange verfangen. Ein Schlauch war geplatzt, und mehrere Teile der Maschine hatten sich verbogen, aber immerhin hatte sie noch einigen Wert. Ich führte sie zu dem Branntweinschenker, bei dem ich mir Wärme zu kaufen pflege, und bot sie ihm an, aber er wollte sie nur als Pfand nehmen, und so ließ ich sie ihm denn als Pfand.«
Alfred Horst v. Derenberg schwieg.
Durand war aufgestanden. Er ging ein paarmal, in Gedanken versunken, durch das Zimmer.
Als er endlich vor Horst stehen blieb, sagte dieser schwer aufatmend: »Sie glauben mir natürlich nicht.«
Durand lächelte. »O doch. Ich glaube Ihnen. Sagen Sie mir jetzt noch, um welche Stunde beiläufig das immerhin Merkwürdige geschah.«
»Daß der Mann sein Fahrrad in das Wasser stieß?«
»Ja.«
»Es mag gegen ein Uhr gewesen sein.«
»Können Sie das mit einiger Sicherheit behaupten?«
»Sicher ist es, daß Mitternacht schon sehr lange vorbei war.«»Woraus schließen Sie das?«
»Man kann bis dorthin, wo ich nächtigte, die Uhr der Leopoldikirche schlagen hören. Diese Uhr hatte, lang bevor sich das Seltsame ereignete, zwölf geschlagen.«
Durand dachte eine Weile nach, dann fragte er: »Wie lang etwa war der Rock, den jener Radfahrer trug?«
»Er war ganz kurz.«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Bestimmt. Ich sah den Mann ja doch ziemlich deutlich.«
»Und der Rock war also mit Pelz besetzt?«
»Ja, das heißt sein Kragen und seine Ärmel. Ich meine auch, eine Verschnürung darauf gesehen zu haben. Aber freilich, ich sah den Mann im ganzen kaum zwei Minuten in größerer Nähe. Länger brauchte er kaum, um sein Rad zu versenken.«
»Sein Rad!« sagte Durand nachdenklich.
»Da fällt mir ein –« begann Horst zögernd.
»Nun?«
»Der Mann interessiert Sie wohl sehr?« fuhr Horst fort. »Dann möchte ich noch eine Wahrnehmung mitteilen.«
»Und die wäre?«
»Er schien sehr aufgeregt zu sein.«
»So!«
»Einen Augenblick lang glaubte ich, er werde sich seinem Rade nachstürzen.«
»Was veranlaßte Sie zu diesem Glauben?«
»Er erhob – wie man's in der Aufregung zuweilen tut – plötzlich den Arm.«
»Nicht die Arme?«
»Nein, nur einen Arm, den rechten. Aber er ließ ihn gleich wieder sinken.«
»Und tat sich nichts an?«
»Nein, er ging sehr eilig weiter.«
In diesem Augenblick kehrte der Wachmann zurück, Er brachte Brot und Schinken und ein Glas Wein mit.
Er setzte all dies auf einem Nebentische nieder und legte das restliche Geld vor Durand hin.
»Das Rad ist doch draußen?« fragte ihn Durand.
»Jawohl.«
»Bringen Sie es herein. – Und Sie,« wandte er sich an Horst, »Sie sollen jetzt essen.«
Horst v. Derenberg nickte dankend und setzte sich dann zu dem für ihn so seltenen Mahle, dem er mit schwer zu verhehlender Gier zusprach, während Durand das Rad aufmerksam betrachtete.
Es stammte aus einer Berliner Fabrik, deren Adresse auf einem der metallenen Teile eingeätzt war. Das Nummertäfelchen, welches damals noch jeder Fahrer auf seinem Rade haben mußte, fehlte.
»Die Nummer des Rades haben wohl Sie entfernt?« fragte Durand den eifrig Essenden.
Dieser aber beteuerte, daß das Rad ein solches Kennzeichen gar nicht besessen habe.
Der Wachmann zog die Augenbrauen hoch. Er glaubte offenbar nicht an das, was der Mann sagte.
Durand jedoch zweifelte nicht an der Wahrheit dieser Aussage, dem schien es sogar recht wahrscheinlich zu sein, daß der andere das Rad dieses Zeichens beraubt hatte, der andere, der dieses Rad jedenfalls nur verschwinden lassen wollte, weil es etwas aussagen konnte.
Als Horst gesättigt war, wurde er in polizeilichen Gewahrsam gebracht. Das Rad ließ Durand nach dem Döblinger Polizeiamt schaffen, denn dort sollte Frau Winter die beiden Räder besichtigen. Durand selber begab sich nach rasch eingenommenem Mittagsmahl zur Station der freiwilligen Rettungsgesellschaft, woselbst er mit Doktor Josephi, welchem sein Besuch schon angekündigt war, eine Besprechung hatte.
Dieser schilderte ihm, was er bezüglich des Falles König wahrgenommen, kurz und klar.
Ehe Durand den Arzt verließ, stellte er noch einige Fragen an ihn.
»Sie waren mit König befreundet?«
»Ich rechnete mich mindestens zu seinen intimen Bekannten.«
»Der Doktor war Radfahrer?«
»Jawohl.«
»Sind Sie es auch?«
»Nein.«
»Da interessieren Sie sich wohl kaum für Räder?«
»Wenig.«
»Und würden Königs Maschine natürlich nicht erkennen, falls sie wieder zum Vorschein käme?«
»Ist sie auch gestohlen worden?«
»Ja.«
»Nein, gewiß würde ich darüber nichts aussagen können, denn ich habe sie niemals aufmerksam angesehen. Aber etwas würde ich diesbezüglich doch aussagen können.«
»Nun?«
»König hat sich seine Maschine von irgend einer größeren Reise mitgebracht. Sie muß demnach ausländisches Fabrikat sein.«
»Ah! Woher er sie brachte, wissen Sie nicht?«
Josephi dachte eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf. »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»War sie etwa deutsches Fabrikat?«
Josephi zuckte die Schultern. »Ich weiß wirklich nichts Näheres darüber.«
»Und seit wann etwa besaß König sein Fahrrad?«
»Seit etwa drei Jahren,« antwortete Josephi, nachdem er ein wenig nachgedacht hatte. »Ja, ja, in diesem Frühjahr wird es drei Jahre, daß er seine Reise nach Norddeutschland und Dänemark machte.«
»Hat er dabei Berlin berührt?«
»Wohl möglich.«
»Können Sie mir jemand nennen, dem Königs damalige Reiseroute besser bekannt ist als Ihnen?«
»Vielleicht kennt sie einer der Redaktionskollegen des Unglücklichen.«
»Unglücklichen!« wiederholte gedehnt und ein wenig lächelnd Durand. »Herr Doktor, soeben erwähnten Sie, daß Sie sich zu seinen intimen Bekannten rechnen durften; da könnte Ihnen ja doch einiges aus seinem Empfindungsleben bekannt geworden sein. War er nicht vielleicht sehr glücklich sogar?«
Auch Josephi lächelte jetzt. »Gewiß. Er liebte zum Beispiel Fräulein v. Mühlheim recht herzlich. Derlei wollten Sie doch erfahren?«
Durand nickte. »Derlei, ja – aber neben einer ›recht glücklichen Liebe‹ hat – wir wissen das, Herr Doktor – noch manch andere Liebe Raum im Leben eines Mannes –«
»Zuweilen auch im Leben einer Frau,« warf Josephi gleichmütig ein, um dann zu fragen: »Was haben Sie denn da?«
Durand zog nämlich das Pastellbildchen aus der Tasche und hielt es ihm hin.
»Herr Gott, ist die schön!« platzte der Doktor enthusiastisch heraus.
»Das Original haben Sie niemals gesehen?«
»Niemals,« versicherte sehr bestimmt der Arzt, und es klang recht deutlich das Bedauern über diese Tatsache mit. »Sie bringen dieses schöne Mädchen mit König – eventuell« – er sagte das ganz langsam – »eventuell sogar mit seinem Verschwinden in Verbindung?«
Durand nickte. »Mit seinem Verschwinden,« wiederholte er, »ja. Deshalb meine Frage. Sie waren erstaunt darüber, aber jetzt scheinen Sie sie nicht mehr ganz ungereimt zu finden?«
Josephi antwortete nicht sogleich. Nach einer Weile aber sagte er, mehr zu sich als zu seinem Besucher: »Alles ist möglich. Ein Weib kann uns zum Narren und zum Schurken machen.«
»Es könnte sich in unserem Fall vielleicht doch um eine Mystifikation handeln,« warf Durand bedächtig ein.
Josephi fuhr sich aufgeregt durchs Haar. »Sie nehmen es also gar nicht als für so sicher an, daß König tot ist?«
Durand zuckte die Achseln. »Ich werde das erst sicher annehmen, wenn ich seine Leiche sehe.«
»Und dieses schöne Weib –?«
»Ist nahezu sicher mit ihm in Verbindung gewesen.«
Mit diesen Worten erhob sich Durand, steckte das Bild wieder zu sich, griff nach seinem Hut und empfahl sich.
Er ließ den guten Doktor in heller Verwunderung zurück.
In der Redaktion, wohin sich Durand nun begab, erfuhr er zweierlei, daß König daselbst als geistig sehr bedeutender Mensch hochgeschätzt, aber als Mensch schlechtweg nur wenig gekannt war.
Wohl hatten alle seine Kollegen freundschaftlich mit ihm verkehrt, daß aber dieser Verkehr dennoch ein ganz oberflächlicher gewesen war, ergab sich jetzt; denn ehrlicherweise konnte keiner der Herren, welche sich nach und nach im Zimmer des Chefredakteurs eingefunden hatten, ein sicheres Urteil über den Charakter des Mannes abgeben, der doch über fünf Jahre dem Redaktionsverbande des Blattes angehört hatte und mit welchem sie somit naturgemäß oft verkehrt hatten.
In zwei Punkten nur trafen sich ihre Meinungen: darin, daß sie sämtlich ihren verschollenen Kollegen für einen unbestechlichen und strengen Kritiker und Kunstkenner ersten Ranges und – für menschenscheu hielten.
»Er hat sich wenigstens niemals aus rein geselligen Anlässen zu uns gehalten,« bemerkte einer der Herren.
Und ein anderer fügte hinzu: »Auch die Wiener Gesellschaft kannte ihn nicht. Wir haben uns oft darüber gewundert, daß er sich nirgends sehen ließ. Gar seit zwei Jahren muß er ein richtiges Einsiedlerleben geführt haben.«
So und ähnlich hatten sich die Herren geäußert. Über die Erwerbung oder das Aussehen seines Rades wußte keiner von ihnen etwas auszusagen.
Der Hausmeister, bei dem König, der häufig auf seinem Rad zur Redaktion fuhr, dieses einzustellen pflegte, erklärte, er würde es nicht erkennen können, falls man es ihm zeigte.
So war denn auch dieser Gang resultatlos gewesen.
Nur die Bemerkung, daß König seit etwa zwei Jahren wie ein Einsiedler gelebt haben müsse, gab Durand zu denken.
Hatte vielleicht jene Nadja diese vermeintliche Einsamkeit geteilt?
Nach dem Besuch in der Redaktion fuhr Durand nach seinem Bureau. Er traf gegen halb fünf Uhr dort ein und fand schon mehrere der vorgeladenen Kutscher daselbst seiner wartend an.
Die Leute sagten in ganz bestimmter Weise aus, daß sie keinen Herrn des Aussehens, wie es die Photographie ihnen wies, gefahren hätten, und jeder von ihnen wußte anzugeben, welches das Ziel seiner nächtlichen Fahrt gewesen war. Bis auf einen einzigen hatten sie alle ihre Fahrgäste direkt bis an das ihnen angegebene Haus gebracht. Nur einer der Kutscher hatte seinen Fahrgast in den ersten Stadtbezirk, und zwar bis zur Elisabethbrücke geführt, wo der Herr ausstieg, ihn bezahlte und gegen den Wienfluß hin verschwand.
»Und das war bestimmt nicht dieser Herr?« fragte noch einmal Durand den Kutscher und hielt ihm noch einmal das Bildnis Königs hin.
Aufmerksam betrachtete der junge Mensch noch einmal die Photographie und erklärte dann, ebenso bestimmt wie zum ersten Male, daß sein Fahrgast so nicht ausgesehen habe.
Als die Kutscher gegangen waren, faltete Durand den Zettel, auf welchem ihre Namen, ihre Wagennummern und ihre Standplätze notiert waren, zusammen und steckte ihn in seine Brieftasche. Er schloß alsdann eine Lade seines Schreibtisches auf. Darin lagen die Dinge, die man bei Alexin gefunden hatte: der Revolver, das Brieffragment und die Börse.
Durand nahm die Börse heraus und untersuchte sie, wie er es schon in Döbling getan hatte, noch einmal recht genau. Es war eine recht hübsche, aber doch ganz gewöhnliche Börse. Sie hatte kein Fabrikzeichen und konnte ebensogut in der Kärntnerstraße zu Wien als in der Lubyanskaja zu Moskau gekauft sein. Es befand sich auch nichts anderes darin als etliche Guldenstücke und einige kleinere Münzen.
Die Börse schwieg, wie das Rad schwieg, wie alles schwieg, das sich auf diesen merkwürdigen Fall bezog.
»Und es sind schon dreiundvierzig Stunden vergangen, seit man König zum letzten Male gesehen hat,« sagte Durand, auf seine Uhr blickend, laut vor sich hin, und dann sagte er noch etwas, sagte: »Aber nur Geduld, Herr v. Mühlheim, in irgend einer Stunde wird man es dennoch wissen, wie die Sache sich verhält, die jetzt so rätselhaft ist.« –
Etliche Minuten nach dieser Reflexion fuhr Durand nach Döbling. Daselbst fand er die zwei Personen, welche man zum Zwecke einer Gegenüberstellung mit Wasili Alexin vorgeladen hatte: den Zahntechniker Theimer und die Quartiergeberin des jungen Russen.
Ersterer hatte sich den Verhafteten schon angesehen und bestätigte, daß dieser zwei Monate hindurch bei ihm Beschäftigung gehabt, jedoch nicht bei ihm gewohnt habe. »Am 18. Jänner habe ich ihn entlassen,« gab er an.
Durand, der ihn vernahm, fragte, weshalb dies geschehen sei.
»Er ist mir unheimlich geworden.«
»Warum denn?«
»Und zuwider.«
»Auch das noch?«
»Ja. Ich habe mir, vielleicht ganz ohne Grund, eingebildet, daß der mir von ihm angegebene Name nicht sein richtiger sei.«
»Es muß Sie denn doch etwas auf diese Idee gebracht haben.«
»Freilich. Er bekam Briefe unter der Chiffre ›W. K.‹ Er holte sich diese Briefe immer von der Hauptpost ab. Sie kamen, wie gesagt, unter der Chiffre ›W. K.‹ an ihn. ›W.‹ stimmt ja, das ›K.‹ aber machte mich stutzig.«
»Mich auch,« bemerkte Durand trocken.
Theimer sah ihn nach dieser Bemerkung neugierig an, fuhr jedoch, als nichts weiter folgte, in der Schilderung seines Verhältnisses zu seinem gewesenen Gehilfen fort.
»Er hat mir überdies wenig genützt,« sagte er. »Er hätte schon etwas leisten können, geschickt ist er ja, aber er versteht es nicht, mit Kunden umzugehen, und hat keine Ahnung davon, was die Zeit wert ist.«
»Ist also träge oder gar faul.«
»Arbeitsscheu ist er, ganz einfach arbeitsscheu. Wo er sich drücken konnte von einer Arbeit, hat er es getan und hat dafür vom ›Recht auf Arbeit‹ und vom ›Recht auf Genießen‹ meinen Hausleuten und auch meinen Kunden vordeklamiert. Eine Dame ist aus Furcht vor ihm ausgeblieben.«
»Warum denn aus Furcht?«
»Weil er sich so exzentrisch gebärdet hat. Russe ist er auch noch dazu, da hat sie ihn kurzweg für einen Nihilisten gehalten. Manches Mal, wenn er Morgens gekommen ist, hat er auch geradezu unheimlich ausgesehen, ganz bleich, und war so unruhig, wie wenn er just von einem Attentat käme und die ganze Polizei auf den Fersen hätte.«
»Und hat vermutlich nur einen Anfall gehabt,« meinte Durand.
»Was für einen Anfall?« fragte Theimer verwundert.
»Einen epileptischen.«
Der Zahntechniker fuhr von seinem Sitz empor und rief schier entsetzt aus: »Die Epilepsie hat er? Und davon hat er mir kein Wort gesagt?«
»Was ziemlich leicht begreiflich ist, wenn er einen Posten bei Ihnen haben wollte,« warf Durand gleichmütig ein. »Epileptiker brauchen nämlich auch einen Verdienst, denn sie wollen doch auch leben.«
»Aber mein Geschäft, denken Sie nur mein Geschäft – das ist ruiniert, wenn es unter die Leute kommt, daß ein Mensch, den jeden Augenblick der Krampf hinwerfen kann, meinen Kunden die Zähne zieht.«
Der Mann war ganz aufgeregt. Desto ruhiger war Durand.
»Da muß man halt solch einem Unglücklichen nicht solche Arbeit zuweisen. Er hätte sich ja auch in aller Stille und Abgeschlossenheit bei Ihnen betätigen können, aber freilich, wenn er faul und Ihnen unheimlich war –«
»Der arme Kerl!« seufzte der im Grunde sehr gutmütige einstige Brotherr Alexins oder wie sonst dieser Russe heißen mochte, und nachsinnend setzte er hinzu: »Jetzt wird mir manches klar: seine scheue Art, sein oft so starrer Blick.« Der wackere Zahnkünstler hatte sich erhoben. »Was meinen Sie,« fragte er, »wenn ich ihn doch wieder nähme? Er ist ja geschickt, und seine Arbeitsunlust sehe ich jetzt auch mit anderen Augen an. Er ist vielleicht oft müde gewesen wegen seiner verheimlichten Krankheit.«
Durand schaute freundlich zu dem gutherzigen Menschen auf, der so eifrig redend vor ihm stand. »Ein echtes Wiener Herz!« sagte er, ihm die Hand reichend.
»Na ja, Sie sprechen ja selber für ihn,« meinte Theimer gerührt lächelnd, »da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als meinen Russen womöglich gleich mitzunehmen. Ja aber,« fuhr er sich plötzlich besinnend fort, »warum ist er denn eigentlich hier? Er ist wohl verunglückt? Er ist so bleich gewesen, trotzdem er ruhig geschlafen hat, als ich bei ihm war.«
»Er ist in einem anderen Sinn verunglückt – und deshalb ist er hier.«
Durands Ernst erschreckte den Mann, der sich soeben für Alexin so erwärmt hatte. »Er ist wohl unterstandslos eingebracht worden?« fragte er.
»Er hat gestohlen,« sagte Durand.
»Gestohlen? Ah, das glaube ich nicht,« entgegnete der andere.
»Warum glauben Sie es nicht?«
»Ich habe ihn zwei Monate im Hause gehabt, und bei mir liegt viel herum, das einen, der fürs Stehlen Sinn hat, reizen muß, und es ist mir, solange dieser Alexin bei mir war, nichts, aber auch gar nichts weggekommen. Ich bin überzeugt davon, daß seine Zunge schlechter ist als sein Charakter.«
»Redet nicht etwa jetzt nur das Mitleid aus Ihnen?« forschte Durand.
»Nein, ich bin überzeugt davon, daß dieser junge Mensch exzentrisch ist, und weiß, daß er viel verrücktes Zeug redet, aber daß er gemein handelt, das glaube ich nicht. Er könnte vielleicht jemand niederschießen, aber ein Dieb wird er nie sein.«
»Niederschießen,« wiederholte Durand und senkte, für eine Weile in Nachdenken verharrend, die Augen, dann stand er auf. »Sie denken jetzt zu gut von diesem Wasili Alexin. Er hat in der Tat gestohlen, hat es überdies schon selber und zwar in merkwürdig naiver Form eingestanden. Freilich will er es im Rausche getan haben, aber als er Nutzen aus seinem Diebstahl zog, da war er ganz sicher nüchtern.«
Theimer sah bestürzt auf den Beamten, der ihm rasch sympathisch geworden war, und der jetzt so hart von dem unglücklichen Russen redete. Und als Durand schwieg, schaute der wackere Mann ihm traurig in die Augen und entgegnete: »Da muß Alexin tief gesunken sein, seit ich ihn so Knall und Fall entlassen habe.«
Durand zuckte die Achseln.
»Habe ich hier noch etwas zu tun?« fragte Theimer.
»Nichts mehr.« Durand reichte ihm dabei die Hand.
»Kann ich für Alexin nichts tun?«
»O ja. Er steht ja einstweilen erst in Untersuchung.«
Theimer legte zwei Zehnguldennoten auf den Amtstisch. »Die Gefängniskost ist vermutlich für Alexin nicht geeignet,« sagte er.
Wieder zuckte Durand die Schultern.
»Was hat er denn gestohlen?« fragte Theimer, als er schon an der Tür stand.
»Ein Fahrrad.«
»Ein Fahrrad! – Nun, das hat er dann nur gestohlen, um es zu Geld zu machen, denn benutzen kann er es nicht. Er ist kein Fahrer.«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Er hätte für mich des öfteren Geschäftsfahrten machen sollen und hat es nicht tun können. Vermutlich hat ihn seine Krankheit davon abgehalten, das Radfahren zu lernen. – Werden Sie es mich wissen lassen, wenn Alexin frei wird?«
»Wollen Sie sich dann seiner annehmen?«
»Ja. Vielleicht ist er nur so tief gesunken, weil ich ihn davongejagt habe. Jedenfalls hat sich bezüglich seiner viel für mich aufgeklärt und – hat's mit seinem Namen keinen Haken, so will ich es noch einmal mit ihm versuchen.«
Durand hätte dem weichherzigen Manne noch mitteilen können, daß Alexin, schon ehe er das Rad hatte verkaufen können, seinen Hunger auf recht kostspielige Art gestillt hatte, und daß dies auf ein zweites Verbrechen deute, aber er unterließ einstweilen diese Mitteilung. Eine Frage jedoch hatte er noch zu stellen, die Frage, ob Theimer wisse, daß Alexin mit einer jungen Dame verkehrt habe.
Darüber wußte Theimer jedoch nichts auszusagen, er sprach aber die Vermutung aus, daß die Briefe, welche der Russe während der Zeit erhalten hatte, in welcher er in seinem Hause beschäftigt gewesen war, von einer Frauenhand adressiert gewesen seien. Den Aufgabeort der Briefe wußte er nicht anzugeben. Alexin hatte nur einmal einen Umschlag neben sich liegen gehabt, und dessen chiffrierte Adresse hatte Theimers Aufmerksamkeit damals so in Anspruch genommen, daß er auf die Marke nicht geachtet hatte.
»Und Alexin hat niemals solch einen Brief oder auch nur solch ein Kuvert bei Ihnen vergessen?« fragte Durand.
Das verneinte Theimer mit aller Bestimmtheit, dazu bemerkend, daß ja eben das Geheimnis, welches der Russe aus seinem Herkommen, seinem Vorleben und seinen verwandtschaftlichen und anderen Beziehungen machte, ihm Alexin schließlich unheimlich erscheinen ließ.
Als Theimer; gegangen war, ließ Durand die beiden Räder in das Zimmer bringen, und Frau Winter, welche schon lange anwesend war, hereinrufen.
Durand hatte schon Vormittags das Rad besichtigt, welches Alexin gestohlen hatte. Es war ein elegantes Rad, stammte aus einer Züricher Fabrik, und es war ihm ein wenig auffallendes, flaches, schwarzledernes Täschchen angeschnallt, nicht unter dem Sitz, wie dies bei manchem Rade der Fall ist, sondern an der Lenkstange. Auch diesem Rade fehlte die Nummer.
Frau Winter betrachtete die beiden Räder lang und aufmerksam, aber sie konnte nicht aussagen, welches davon oder ob überhaupt eines davon dem Doktor König gehört habe. »Ich weiß nur, daß an seinem Rad kein solches Tascherl war,« sagte sie endlich.
»Nun also,« meinte Durand, »da ist also dieses Rad sicher nicht das seinige.«
»Ich bitt', Herr Doktor. Das Tascherl ist aber ganz neu,« warf die alte Frau schüchtern ein. »Da könnt's wohl sein, daß sich's der Herr Doktor von der Reise mitgebracht hat. Es schaut ja auch ganz fremdländisch aus, und er hat ja mehr solche Sachen mitgebracht.«
»Da haben Sie recht, liebe Frau,« gab Durand gemütlich zu, löste die Tasche vom Rade und untersuchte sie auf das genaueste. Sie war tatsächlich ganz neu. Sie war jedoch nicht, wie ihre Dünnheit vermuten ließ, leer. Auf ihrem Boden lag etwas, das Durand auf den ersten Blick für ein Federmesser hielt, das aber ein Schlüssel war.
Es war ein merkwürdiger, ein ungewöhnlicher Schlüssel. Sein Bart steckte in einer Scheide, die sich bei einem Druck querüber legte und den Bart herausspringen ließ. Dieser zeichnete sich aber keineswegs durch eine absonderliche Form aus. Es war ein ganz gewöhnlicher Hausschlüssel.
»Hat der Ihrem Herrn gehört?« fragte Durand, Frau Winter den Schlüssel vorweisend.
Sie schüttelte den Kopf.
»Solch einen Schlüssel hab' ich nie bei ihm geseh'n.«
Das war das Resultat des nochmaligen Verhörs der Frau Winter. Ähnlich wenig zu Tage fördernd war die Einvernahme von Alexins Quartiergeberin. Diese, eine einfache, gutmütige und etwas beschränkte Person, konnte nur angeben, daß der Russe seit Ende Januar bei ihr wohne, daß er, wenn er nüchtern war, sich bescheiden und friedfertig zeigte, und daß er, wenn er Geld hatte, was etliche Male der Fall gewesen war, in »Saus und Braus« lebte und wohl auch immer seine Schulden abzahlte.
Wie er, der zuletzt keine eigentliche Beschäftigung hatte, zu dem Gelde gekommen war, das er so flott verausgabte, hatte er niemand anvertraut.
In der Nacht vom 3. auf den 4. März war er gegen ein Uhr, mit einem Rausch und dem Rade, heimgekommen, hatte einen Anfall gehabt und war am 4. März erst gegen Abend ausgegangen. Das Rad hatte er mitgenommen. Seither war er nicht mehr in seine Wohnung zurückgekehrt. Die Frau hatte sich deswegen keine Gedanken gemacht, denn er war schon etliche Male über Nacht fortgeblieben. Briefe und Besuche hatte er nie empfangen.
Mehr und anderes konnte Alexins Quartiergeberin über ihn nicht aussagen, konnte nur noch – als sie ihm gegenübergestellt wurde – bestätigen, daß dieser Mann es sei, der bei ihr gewohnt hatte.
Nach dieser Konfrontation, während welcher der Russe sich wohl verdrossen, aber doch auch gleichgültig benommen hatte, wurde die Frau entlassen.
Nun befand Durand sich zum zweiten Male, und zwar diesmal allein, dem Revolvermanne gegenüber.
Dieser hatte sich von seinem Anfall schon so ziemlich erholt und stand nun, die schmächtige Gestalt leicht vorgebeugt, erwartungsvoll da.
Durand rückte sich einen Stuhl zurecht und bedeutete Alexin, daß auch er sich setzen könne.
»Nun, haben Sie sich's überlegt?« begann Durand.
»Was denn?« fragte der junge Mensch verdrossen.
»Ob Sie die Wahrheit sagen wollen.«
»Ich sagte sie bereits.«
»Die ganze Wahrheit?«
»Ich sagte über alles aus, wonach man mich fragte.«
»Man muß Sie also nach noch mehr fragen.«
»Bitte!«
Der Russe nahm eine bequeme Stellung an. Durand, bedenkend, daß er es mit einem kranken Menschen zu tun habe, ließ ihn gewähren, fragte sich jedoch im stillen, ob die Sorglosigkeit, deren Ausdruck er da vor sich sah, wirklich vorhanden oder ob sie nur gut gespielt sei.
»Ich frage Sie also,« fuhr er fort, »woher das Geld stammt, das Sie in der vergangenen Nacht ausgegeben haben.«
Alexin senkte den Blick. Er wandte auch das Gesicht zur Seite. Wenn er damit das tiefe Rot verbergen wollte, das sich über seine Züge verbreitete, gelang ihm dieses Vorhaben nicht.
»Reden Sie,« ermahnte ihn Durand.
Aber Alexin verharrte in Schweigen.
»Es wird sich nicht immer ein Anfall zu gelegener Zeit einstellen, wenn Sie diese Frage beantworten sollen,« sagte Durand kühl. »Worauf warten Sie denn also?«
Wieder keine Antwort.
»Je eher und williger Sie die Wahrheit sagen, desto besser wird es für Sie sein, anderenfalls –«
Spöttisch lächelnd sagte der Russe: »Ich fürchte mich nicht.«
»Woher nahmen Sie jenes Geld?« wiederholte Durand, erhob sich und tat, als ob er gehen wolle.
Alles Freundliche war aus seinem Wesen gewichen.
Der Russe zeigte jetzt Ängstlichkeit. Er spürte vielleicht, daß er einem Frager gegenüberstand, der ein gewisses Wohlwollen für ihn hatte, und überlegte es sich, daß nicht jeder Verhörende so sein dürfte.
Auch er hatte sich jäh erhoben. »Bitte, bleiben Sie,« bat er.
Die beiden Männer standen sich jetzt knapp gegenüber, und ihre Blicke ruhten ineinander.
»Wie gut seine Augen sind,« empfand Alexin.
»Wie scheu er blickt,« dachte Durand.
»An dem Rade befindet sich ein Täschchen,« begann der Russe nach einer ziemlich langen Pause.
»Ja, Sie haben davon schon einmal gesprochen.«
»Darin fand ich das Geld.«
»Das haben Sie recht ungeschickt erfunden,« klang es eisig an sein Ohr.
»Es ist doch so,« beharrte Alexin trotzig auf seiner Aussage.
Durand lachte laut auf. »Meinen Sie wirklich, daß es einen Menschen auf Erden gibt, der Ihnen das glaubt?«
Alexin zuckte die Achseln.
»Was wollten Sie von Doktor König?« fragte Durand ohne irgendwelche Pause; er wollte eben Alexin damit überrumpeln.
Dieser schrak denn auch wirklich merklich zusammen und brauchte lange, ehe er eine Antwort beisammen hatte, und diese lautete ganz unverschämt. »Das ist meine allereigenste Angelegenheit,« sagte er.
»Mensch, reden Sie, reden Sie die Wahrheit!« drang Durand auf ihn ein. »Der Besitz des Geldes und des teilweise entladenen Revolvers wirft einen bedenklichen Schatten auf Sie.«
»Man kann mir trotzdem nur die Entwendung des Rades beweisen,« sagte frech der Russe.
»Und beweisen, daß Sie vor kurzem Gebrauch von Ihrem Revolver gemacht haben,« setzte Durand ruhig hinzu.
»Vor kurzem?« Alexin lächelte spöttisch.
»Darüber liegt bereits ein Sachverständigenurteil vor.«
»Mir ganz egal,« meinte der Russe gleichmütig.
War er wirklich so völlig ruhig? Oder spielte er nur so ganz ausgezeichnet den Gemütsruhigen?
Durand konnte es trotz scharfer Beobachtung nicht ergründen.
»Wollen Sie die Richtigkeit dieses Urteils bestreiten?« fragte er.
»Ich bestreite es nicht. Aber was besagt das?«
»Unter Umständen gar nichts,« gab Durand zu.
»Nun also! Ich kann ja letzter Tage auf Sperlinge geschossen haben.«
»O ja. Zuweilen ist es aber günstig, wenn man Zeugen hat bei solchem Schießen auf – Sperlinge. Haben Sie Zeugen?«
Wasili Alexin war unruhig geworden, was Durand natürlich nicht entging.
»Haben Sie Zeugen dafür?« fragte er noch einmal.
»Ich verweigere jede fernere Auskunft,« antwortete der Russe, stellte sich an das Fenster und starrte in den düsteren, glasgedeckten Hof hinaus.
Durand zuckte die Achseln und brach das Verhör ab. –
Als er auf die Straße trat, war er recht verwundert, denn es herrschte da eine ganz gewaltige Kälte, und ein heftiger Schneesturm trieb die wenigen Menschen, welche sich unterwegs befanden, zur Eile an.
Der Winter war noch einmal zurückgekehrt.
Durand fand das Verdeck des Wagens, in welchem er hergekommen war, und das des milden Wetters wegen offen gewesen war, jetzt geschlossen und die Pferde durch Decken geschützt. Der frierend hin und her trippelnde Kutscher empfing ihn mit den Worten: »Ist das ein abscheuliches Wetter!«
Vollkommen mit ihm einverstanden, nickte Durand und nannte ihm Frau Winters Adresse.
Er fand sie daheim und hatte eine kurze Besprechung mit ihr, dann fuhr er nach Hietzing.
In wenig mehr als einer halben Stunde hatte er sein Ziel erreicht.
Er beeilte sich, auf sein Zimmer zu kommen, verwahrte rasch den gefundenen Schlüssel und kleidete sich dann schnell um.
Es war nämlich schon nahezu acht Uhr geworden, und um diese Stunde pflegte man in der Villa Mühlheim zum Abendessen zu gehen.
Als er jedoch nach beendeter Toilette in das Speisezimmer trat, fand er dieses noch leer. Der hell erleuchtete Raum sah überaus traulich aus, aber plötzlich war er nicht mehr traulich. Das empfand Durand, der, um den prächtig überschneiten Park zu betrachten, an eines der drei Fenster des großen Raumes getreten war. Er hatte das reizvolle Winterbild nur wenige Momente lang betrachtet, als er davon abgelenkt wurde.
Vom Wintergarten her, der in den Speisesaal mündete, ließ sich Edwinens Stimme hören.
»Herzchen,« sagte sie zärtlich, »du mußt wieder die alten Lebensgewohnheiten aufnehmen. Du mußt wenigstens mit unseren Hausgenossen wieder zusammentreffen und auch sonst wieder alles tun, was du sonst getan hast. So überwindest du die erste und traurigste Zeit noch am ehesten. Wir wollen ja alles tun, um dir dein Leid zu erleichtern.«
Darauf antwortete eine müde, sanfte Stimme: »Ja, du Liebe, ich spüre es selber, daß ich mich nicht länger abschließen darf, denn ich würde, bliebe ich so ganz meinem Grübeln überlassen, wahnsinnig werden.«
Durand war nicht der einzige, der dieses traurige Zwiegespräch mit angehört hatte und der davon bis ins tiefste Herz hinein von Mitleid erfüllt war.
Gerade als sich Edwinens Stimme vernehmen ließ, war vom Korridor her Colmar in das Zimmer getreten. Er hatte wohl sogleich die Stimme Edwinens vernommen, denn er schloß leise, ganz leise die Tür hinter sich und blieb mit weit vorgebeugtem Kopfe lauschend stehen. Er konnte Durand nicht gewahren, denn der stand in der tiefen Fensternische, und zwischen ihm und Colmar wallte ein Spitzenvorhang nieder. Durand aber sah ihn eintreten, sah, wie auch er den herzbewegenden Worten lauschte, und sah noch mehr. Er sah, daß dieser überelegante Herr, den er, freilich ohne eigentlichen Grund, für einen ganz oberflächlichen Menschen gehalten hatte, noch viel mehr von Lenas Leid ergriffen wurde als er selber.
Colmars feine Hände ballten sich wie in körperlichem Schmerz, und seine Zähne bohrten sich in seine Lippen. Und diese Lippen waren, wie sein ganzes hübsches, interessantes Gesicht, bleich geworden.
Ein schwerer Atemzug, den er tat, klang bis zu Durand hinüber, und dann ging Colmar wieder leise aus dem Zimmer hinaus. Es mochte ihm dieses erste Zusammentreffen mit Lena nach dem Verschwinden ihres Bräutigams recht peinlich sein.
Es war ja auch Durand peinlich. Dennoch kam es ihm auch wieder gelegen, das unglückliche Mädchen, das er nur aus den Schilderungen Edwinens kannte, nun auch persönlich kennen zu lernen. Deshalb blieb er und ging den Schwestern, welche jetzt hinter der offenen Glastür sichtbar wurden, langsam entgegen.