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Das Schicksal einer Idee

Nur das Kleine im Leben geht gut aus, alles übrige ist tragisch.

Keyserling

Mohammed warf die Idee vom Staate Gottes in die Welt.

Was ist aus dieser Idee geworden?

Nicht ohne Kampf war es Abū Bakr gelungen, die Erbschaft des Propheten zu übernehmen. Der Tod Mohammeds spaltete die Frommen der Stadt Medina. Die Sippe Hāšim, das Fleisch und Blut des Propheten, verlangte, daß einer der Ihren, in diesem Falle ʿAlī, das Erbe des Propheten antreten solle. Das gleiche verlangten die Anṣār, die den Propheten geschützt hatten. Auch sie stellten einen Kandidaten auf, und zwar den Führer der Ḫazraǧ Saʿd ibn ʿUbāda. Unter höchst dramatischen Umständen war es schließlich Abū Bakr gelungen, die Huldigungen beider Parteien auf sich zu vereinen. Kennzeichnend für das allgemeine Chaos, das in Medina herrschte, ist die Tatsache, daß man vergessen hatte, die Leiche des Propheten zu bestatten. Erst sechsunddreißig Stunden nach dem Tode, als die Leiche bereits zu verwesen begann, schritt man zur Beisetzung. Diese sechsunddreißig Stunden benutzte Abū Bakr zur Gründung des arabischen Kalifates.

Der Tod Mohammeds war nicht nur für Medina ein Signal zum allgemeinen Wirrwarr. Alle Wüstenstämme fielen plötzlich vom Islam ab und verweigerten die Steuerzahlung. Doch war Abū Bakr nicht umsonst der älteste Freund und Mitkämpfer des Propheten gewesen. Mohammeds Geist lebte in Abū Bakr fort. Einige wenige Feldzüge genügten, um die Einheit des Staates wiederherzustellen. Hiernach ging Abū Bakr an die Vollstreckung des Propheten-Testamentes, an die Eroberung der Welt. Diese Welt bedeutete für Abū Bakr zunächst Iran und Byzanz. Gegen beide schickte er seine Regimenter.

Im März des Jahres 633, kaum ein Jahr nach dem Tode des Propheten, überschritt die Armee des ersten Kalifen die Grenzen von Iran. Der Führer dieser Armee war Ḫālid ibn al-Walīd. Achtzehntausend Krieger folgten ihm. Im Irak kämpfte er gegen die Armee des persischen Statthalters al-Hurmuzān. Diese sogenannte ›Kettenschlacht‹ endete mit dem Sieg des Islam. Nach kaum einem Jahr gehörte halb Mesopotamien dem Kalifen.

Dann folgte der syrische Feldzug. Wieder führte Ḫālid die Gläubigen und schlug bei Yarmūk das vielfach überlegene Heer der Byzantiner. Die Nachricht von diesem gewaltigen Sieg erreichte den Kalifen Abū Bakr, als er bereits im Sterben lag. Nur zwei Jahre hat Abū Bakr regiert. Alles, was er tat, war die Ausführung der Pläne und Absichten des Propheten. ›Durch Abū Bakr fiel Mohammeds Schatten auf die Erde‹, sagten seine Biographen. Seine einzige selbständige Tat war die Festlegung der Staatsform, und auch diese lag im Sinne des Propheten. Der Islam sollte eine wählbare Monarchie sein. Abū Bakr verstand es, ʿAlī und die Seinen auszuschalten, und veranlaßte, daß ʿUmar, der energischste unter den Muslims, zu seinem Nachfolger gewählt wurde.

ʿUmar war der Paulus des Islam. Er gab der Idee vom Staate Gottes deutlich umrissene und weithin sichtbare Formen. Finanzen, Verwaltung, Justiz, alle von Mohammed nur angedeuteten Elemente eines geordneten Staates, sind von ʿUmar geschaffen und weiterentwickelt worden. Umringt von Muhāǧirūn und Anṣār, regierte ʿUmar von der Stadt Medina aus ein Riesenreich. Seine bewegte Vergangenheit eines Schmugglers, Kaufmanns und Soldaten kam ihm jetzt zustatten. Er wußte in allen Regierungsfragen Bescheid, entschied persönlich auch die kleinste Angelegenheit und regierte rast- und ruhelos zehn Jahre über ein von seiner Wucht erschüttertes Reich. ʿUmar war auf dem besten Weg, die Idee vom einheitlich demokratischen und dennoch absolutistischen Staate Gottes zu verwirklichen. Seine Armeen drangen siegreich in die Länder des Unglaubens. Bei Qudīsīya, im Herzen Iraks, fand die entscheidende Schlacht zwischen Persien und dem Islam statt. Drei Tage dauerte der Kampf. In der vierten Nacht, in der ›Nacht des Jammers‹, gewannen die Araber das Übergewicht. Als sie sich anschickten, die Perser zu verfolgen, schlug einer der Muslims dem persischen Leitelefanten den Rüssel ab. Das Tier, durch den Schmerz zur Raserei gebracht, stürzte sich auf die persische Armee, und alle anderen Elefanten folgten ihm, so daß bei den persischen Truppen eine heillose Verwirrung ausbrach. – Rustam, der Regent des persischen Reiches, fiel im Kampf. Mit ihm fiel das diamantenbesetzte Tigerfell, die kaiserliche Standarte des Iran, in die Hände der Sieger.

Der Weg nach Persien war frei. Nur noch wenige Jahre brannten die Feuer Zarathustras. Die Fluten des Islam löschten sie aus. Der Kleinkrieg in den Provinzen konnte nichts mehr daran ändern. Im Jahre 651 fiel, von allen verlassen, von der Hand eines Meuchelmörders getötet, Yazdagard III., der letzte Kaiser des Iran. »Wir kannten die Araber nur als Bettler und Landstreicher, Gott wollte, daß wir sie als Krieger kennenlernen mußten«, sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Noch rascher als über Persien war der Sieg des Islam über Syrien und Palästina. Nur mit Mühe konnte der greise Kaiser Herakleios das heilige Land des Christentums und die Stadt Jerusalem schützen. Überall drangen die Muslims vor. Im Jahre 636 verließ der schwerkranke, sterbende Herrscher die heilige Stadt. Er führte das heilige Kreuz mit sich und dachte nicht mehr an eine Rettung. Wenige Jahre später konnte ʿUmar in ärmlicher Kleidung auf einem alten rothaarigen Kamel, umringt von siegreichen, goldbedeckten Generälen, in Jerusalem einziehen. An ʿUmars rechter Seite ritt der Patriarch von Jerusalem, und ʿUmar befahl, ihm königliche Ehren zu erweisen, denn ein tolerantes Gesetz sollte das Christentum schützen. In der Tat wurde kein Einwohner der Stadt Jerusalem des Glaubens wegen getötet.

Als Jahrhunderte später die Kreuzritter die heilige Stadt bezwangen, sollte kein Muslim, keine Frau und kein Kind verschont bleiben. Ein fürchterliches Blutbad krönte den Sieg der Kreuzritter. – Nach der Eroberung Jerusalems durch den Islam erbaute aber ʿUmar eine große Moschee an der Stelle des alten Tempels. Dies wurde die drittheiligste Moschee des Islam.

Ebenso rasch erfolgte die Eroberung Ägyptens. ʿAmr ibn al-ʿĀṣ, der Dichter, Diplomat und Satiriker, drang mit viertausend Mann in das Niltal ein. Die Bevölkerung empfing ihn mit Jubel, denn er brachte Befreiung von dem Sektenkampf und der erdrückenden Last der Steuern. Nur Alexandrien leistete einigen Widerstand. Als sich aber nach dem Tode des Herakleios der byzantinische Hof erbittert um sein Erbe zu streiten begann, konnte der listige arabische Dichter als Sieger in die glänzende Hauptstadt des großen Alexanders einziehen.

Der Eroberer Alexandriens, der stolze ʿAmr, sandte in die barbarische Wüstenstadt Medina lange Berichte über den Glanz seines Sieges. Er schrieb: ›Ich habe eine glänzende Stadt mit zwölftausend Vergnügungsstätten und vierzigtausend Juden erobert.‹

Die Mengen von Gold und Reichtum, die jetzt von allen Seiten zum Hofe des Kalifen strömten, änderten nichts an der patriarchalischen Art seines Lebens. Zwar sparte ʿUmar nicht, sondern ermöglichte der neuen Aristokratie von Medina ein glänzendes, sorgenfreies Dasein. Dotationen, Renten und Güter wurden unter die Frommen verteilt. Der Kalif selbst begnügte sich jedoch mit dem Allernotwendigsten. Die puritanischen Lehren Mohammeds hatten in seinem Wesen Wurzel gefaßt. Er setzte zum Beispiel den großen Krieger Ḫālid ibn al-Walīd, der für den Islam viele Siege erfochten hatte, nur deshalb ab, weil er kein sittenstrenges Leben führte. Als er erfuhr, daß Saʿd, der Eroberer Persiens, sich in Kūfa einen Palast bauen wollte, schrieb er an den verdienten Feldherrn: ›Ich habe gehört, daß Du Dir einen Palast in der Art der Paläste des Khosrau II. errichten willst. Beabsichtigst Du vielleicht auch, an der Tür dieses Palastes eine Wache aufstellen zu lassen, damit sie den Bittstellern, die zu Dir kommen, den Weg versperrt?‹ Auf diesen Brief hin wurde der neuerbaute Palast zerstört. Wenn sich ein General nach siegreich beendetem Feldzug, mit den frisch erbeuteten Edelsteinen geschmückt, beim Kalifen zeigte, hob dieser einen Stein vom Boden und warf ihn voll Wut nach dem Krieger. Denn strenge Zucht, Bescheidenheit und das Gebet sollten die Führer des neuen Staates schmücken.

In der Politik vertrat ʿUmar das unerbittliche Prinzip des Tafḍīl, der Vorherrschaft der frommen Anṣār und Muhāǧirūn über die gesamte Gemeinde der Gläubigen. Nur wer an der Seite des Propheten gelebt hatte, war würdig, den neuen Staat zu führen. Unter dem Kalifat ʿUmars wurde die ausgedehnte Familie der Anṣār und Muhāǧirūn zur Regierungsclique des neuen Staates. Aus ihren Reihen entstammten die Feldherrn, Vorbeter und Provinzgouverneure, sie empfingen den größten Beuteanteil und betrachteten den Staat Gottes als gegebene Domäne der Helfer des Gesandten Gottes. Wer seinerzeit, auf der Suche nach Reichtum und Beute, sich Mohammed angeschlossen hatte, wer an irgendeinem Wüstenraubzug unter Mohammeds Führung teilgenommen hatte oder gar bei Badr oder Uḥud verwundet worden war, durfte jetzt sein Leben lang im Schutze frommer Erinnerungen schmarotzen.

Gold, Reichtum und Belohnungen aller Art waren der Lohn für die Frommen. Die alten Begriffe der arabischen Aristokratie waren völlig umgestoßen worden. Die edlen Familien von Mekka, die es versäumt hatten, sich dem Propheten rechtzeitig anzuschließen, wurden in den Staub getreten. Über den Riesenstaat, über die Armee und über den Reichtum herrschte die Gemeinde der Frommen. Mit Verachtung blickten die gläubigen Medinenser auf die neubekehrten Herren aus Mekka, auf die ehemaligen Feinde von Badr und Uḥud. Die Macht von Mekka war augenscheinlich für immer gebrochen, und die Frommen von Medina hatten außerdem den wichtigsten aller Vorteile, sie durften aus ihrer Mitte den Führer des neuen Staates, den Kalifen, wählen. Allmählich, für die Beteiligten selbst beinahe unmerklich, wurde die Regierungsschicht von Medina zu Schmarotzern und Kletten der Staatskasse. Nur wenige von ihnen fühlten, welche Verantwortung seit dem Tode des Propheten auf ihren Schultern ruhte. Die meisten wußten nur, daß sie jetzt für die einstigen Entbehrungen reichlichen Lohn einheimsen durften. ʿUmar war einer der wenigen, der den Islam auf dem Weg des Propheten weiterführte und die große Idee, die einst Mohammed begeistert hatte, zielbewußt zu entwickeln wußte.

Als ʿUmar im Jahre 644 dem Anschlag eines christlichen Handwerkers zum Opfer fiel, ernannte er keinen Nachfolger, sondern wahrte die Idee der wählbaren Monarchie. Sechs der ältesten Mitkämpfer des Propheten sollten aus ihrer Reihe den neuen Kalifen wählen.

Die Wahl der sechs Weisen war keineswegs glücklich. Sie ernannten ʿUṯmān, den greisen Schwiegersohn des Propheten, zum Kalifen. ʿUṯmān war alt, fromm, leicht beeinflußbar und höchst ungeeignet für Regierungsgeschäfte. Ihm gebührt allerdings das große Verdienst der endgültigen Zusammenfassung des Korans. Er sammelte die einzelnen Kapitel des göttlichen Buches und entfernte manches daraus, was die Bewohner Medinas als Gottes Wort verkündet wissen wollten. Das brachte ihm vielfach den Haß seiner Mitbürger ein.

Der alte ʿUṯmān war der tragische Wendepunkt des Islam. Auch er vertrat den Gedanken vom Staate Gottes, von der ewigen Gleichheit der Menschen und von der Führung der puritanischen, frommen Republik Gottes durch die Schüler des Propheten. Und doch trifft ihn die Schuld, daß der Staat Gottes nicht durch Jahrhunderte hindurch seinen ursprünglichen Charakter bewahrt hat.

ʿUṯmān entstammte einem vornehmen mekkanischen Haus, er war ein Blutsverwandter der Umaiya und liebte die Stadt seiner Geburt gleich dem Propheten. Doch gipfelte seine Liebe zu Mekka in der Liebe zu seiner glänzenden, alten und edlen Familie. Als seine Herrschaft begann, erschienen nach und nach immer mehr seiner armen, getretenen, mißachteten Verwandten aus Mekka in Medina. Sie alle waren reine, vollblütige Umaiya. Der fromme Greis konnte sich den Einflüssen der Verwandtschaft nicht entziehen und schenkte ihren Beteuerungen, daß sie überzeugte Muslims seien, Glauben.

Unter dem Schutze ʿUṯmāns wagten sich die Umaiya von neuem ans Licht der islamischen Öffentlichkeit. Sie bereuten ihre Sünden. Der Kalif konnte infolgedessen nicht umhin, seine tüchtigen Neffen zu Gouverneuren der Provinzen zu ernennen und ihnen politische Macht zu verleihen. Das bedeutete seinen Untergang. Die fromme Regierungsclique von Medina fühlte den Boden unter ihren Füßen schwinden. Die schlimmsten Feinde des Propheten, die Söhne Hinds, gelangten zur Macht. Mit ihnen wollten die frommen Muhāǧirūn und Anṣār die Macht über den Islam nicht teilen. Es bedeutete ja beinah einen Rückfall ins Heidentum, daß, wenige Jahre nach dem Tode des Propheten, seine schärfsten Gegner führende Stellen im Islam erhielten. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich in Medina, und dieser Sturm vernichtete den greisen Kalifen.

Als man ʿUṯmān gewählt hatte, erwartete man von ihm die übliche Antrittsrede der Kalifen. Viel Volk hatte sich in der Moschee versammelt und machte dem alten ʿUṯmān ehrfurchtsvoll Platz, als er die Kanzel bestieg. ʿUṯmān verblieb eine halbe Stunde auf der Kanzel, blickte ratlos in die Menge und brachte kein Wort heraus. Schließlich wurden die Gläubigen ungeduldig, und nach längerem Zögern entschloß sich der gebrechliche Greis auf der Kanzel zu dem gewagten Satz: »Aller Anfang ist schwer.« Nach diesen Worten verließ er zum Erstaunen der Menge tief seufzend die Kanzel und begab sich in sein Haus.

Es stellte sich nun heraus, daß nicht nur der Anfang schwer war, das Ende des alten ʿUṯmān sollte noch um vieles schwerer sein. Eines Tages erschienen einige Beduinen vor dem Hause ʿUṯmāns und beschimpften ihn, weil er die Umaiya an die Macht gelassen hatte. Dann drangen sie in sein Gemach ein und verlangten seine Abdankung. ʿUṯmān war zwar ein schwacher Mensch, er verstand aber seine Würde zu wahren. Ohne die Eindringlinge zu beachten, las er weiter im Koran. Da ermordete man ihn ohne viel Umstände. Die wenigen Mekkaner, die ihn zu verteidigen suchten, mußten aus der Stadt fliehen.

Das Amt des Kalifen übergab die fromme Clique von Medina ihrem würdigsten Vertreter ʿAlī, dem Vetter des Propheten, dem ersten unter den Gläubigen. So erfüllte sich zum ersten- und letztenmal im Islam der Traum der Hāšims. Ein Vetter des Propheten trat das Erbe Mohammeds an. Dreimal war ʿAlī vom Thron abgedrängt worden. Er hatte aber nie aufgehört, sich als alleinigen rechtmäßigen Erben zu betrachten. Die Kalifen, die ihm den Thron nahmen, versuchten ihn dafür stets reichlich zu entschädigen. Schätze häuften sich um ihn, und je größer sein Reichtum wurde, um so stärker vermehrte sich die Zahl seiner Anhänger. Jetzt, als es hieß, die Macht gegen die mekkanischen Eindringlinge zu verteidigen, scharten sich die Gläubigen um ihn. In den Provinzen des neuen Reiches, wohin ʿAlī die frommsten Medinenser als Gouverneure entsandte, wollte man ihn aber nicht anerkennen. Im Gegenteil, an der Spitze eines großen Heeres zog ihm ʿĀʾiša, die Mutter der Gläubigen, entgegen. Hiermit wurde der Bürgerkrieg im Staate Gottes zur Tatsache. In der blutigen sogenannten Kamelschlacht siegte ʿAlī über die Aufständischen. ʿĀʾiša wurde gefangengenommen und mit allen Ehren nach Medina gebracht. Als ʿAlī nunmehr endlich die Herrschaft über das Kalifat antreten wollte, erhob sich am Horizont der arabischen Politik ein neuer Name. Dieser Name war Muʿāwiya ibn Abi Sufyān, Statthalter von Syrien. Alles, was der frommen Regierungsschicht in Medina verhaßt war, gipfelte in der Person Muʿāwiyas. Er war ein Mekkaner, ein Umaiya und der leibliche Sohn von Abū Sufyān und Hind. Nur durch die Nachgiebigkeit und Schwäche ʿUṯmāns kam er auf einen leitenden Posten der Verwaltung. Seine Frömmigkeit war mehr als zweifelhaft, sein Haß gegen die Medinenser dagegen grenzenlos. Dafür war Muʿāwiya ein geborener Aristokrat, der an Herrschaft und List des Herrschens gewöhnt war. Er verkörperte alle Eigenschaften der Quraiš und streckte jetzt seine machtgierigen Hände nach dem Throne des Kalifen aus.

Der mutige, fromme und wenig gefestigte ʿAlī war kein ebenbürtiger Gegner für ihn. Bei Ṣiffin am Euphrat traf Muʿāwiya mit der Armee der Anṣār und Muhāǧirūn zusammen. Das Heer ʿAlīs war dem Heer der Aufständischen bei weitem überlegen. Drei Tage dauerte der Kampf, und das Heer ʿAlīs siegte. Da banden die Truppen Muʿāwiyas Koranverse an ihre Lanzen, und dieser bescheidene Ausdruck der Frömmigkeit genügte, um die fromme Armee zum Stillstand zu bringen. ʿAlī wagte nicht gegen das Wort Gottes zu kämpfen. Er ließ sich auf Verhandlungen ein und zog den kürzeren. Auf dem großen Schlachtfeld von Ṣiffin unterlag die Idee vom Staate Gottes der List eines Umaiya.

Noch einmal versuchte die Idee des Propheten gegen die nüchterne Welt der Politik in den Kampf zu ziehen. Auf dem Schlachtfeld von Ṣiffin löste sich von der Armee ʿAlīs eine Schar der Allerfrömmsten, in denen die Idee vom gerechten Staate Gottes noch lebendig war. »Wir wollen ausziehen auf dem Pfad Gottes«, erklärten sie und wurden deshalb ›Ḫāriǧiten‹, das heißt die Auswanderer, genannt. In den Wirren des Bürgerkrieges waren sie bald die einzigen, die den reinen Glauben hochhielten. Sie waren in Geist und Tat die direkten Erben des Propheten.

Am 21. Januar des Jahres 661 fiel der Kalif ʿAlī, von der Hand eines Fanatikers ermordet. Mühelos übernahm Muʿāwiya das Kalifat, die Herrschaft über die Welt der verhaßten Haschimiten. Es ist eine unübertreffliche Ironie der Weltgeschichte, daß gerade das Haus Umaiya, die verbissensten Gegner Mohammeds, aus dem Werk des Propheten den größten Nutzen zogen. Denn mit dem Antritt der Umaiyas wurde das Kalifat erblich.

Drei Bewegungen versuchten die Idee vom freien Staat Gottes zu retten. Es waren zuerst die Ḫāriǧiten, die edelsten unter den Gläubigen, dann die fromme, machtdurstige, reichgewordene Clique von Medina und schließlich die direkten Erben des Propheten, die Nachkommen ʿAlīs. Alle drei Bewegungen wurden von den ersten beiden Kalifen des Hauses Umaiya in Blut erstickt. Am verzweifeltsten kämpften die demokratischen Puritaner des Islam, die letzten Vertreter des reinen Glaubens, die Ḫāriǧiten. Sie wurden auch am nachdrücklichsten bekämpft und schließlich fast ausgerottet. Es gelang nur wenigen unter ihnen, die Idee, die sie trieb, den künftigen Generationen zu übermitteln.

Ein tragisches Schicksal erwartete auch die frommen Mitkämpfer des Propheten. Im letzten Augenblick, als das Heer des neuen Kalifen gegen Medina rückte, fanden sie ihren Mut wieder. Ehrwürdige Greise, Muhāǧirūn und Anṣār, stürzten sich mit jugendlicher Kraft in die Schlacht. Plötzlich entsannen sich alle der Zeiten, als der Prophet selbst die Schlachten leitete. Es wurde selten mit ähnlichem, fanatischem Haß gekämpft wie vor den Toren von Medina. Die Greise hatten die Kunst, ehrenhaft zu leben, vielfach vergessen, doch verstanden sie jetzt heldenhaft zu sterben. Die Stufen des großen Hofes der Prophetenmoschee bedeckten sich mehr und mehr mit dem Blut der ältesten Freunde des Gesandten Gottes. Der Kalif siegte trotz des heldenmütigen Widerstandes. Seine Reiter benutzten die Moschee als Stall für ihre Pferde.

Auch die Enkel des Propheten, die Söhne ʿAlīs, Ḥusain und Ḥasan, fielen in dem hoffnungslosen Kampf mit den Umaiyas. Die Schar der ʿAlīden wurde zerstört, die Šīʿat-Alī – die Partei ʿAlīs – war damit für immer vom Herrscherthron verdrängt. Doch hörte sie während der ganzen Geschichte des Islam niemals auf, in blutigen Kämpfen auf ihr Recht hinzuweisen. Auch heute noch ist der Name Muʿāwiyas oder der seines Nachfolgers Yazīd der schwerste Fluch im Munde eines frommen Schiiten.

Vierzig Jahre dauerte der Bürgerkrieg. Nach seiner Beendigung herrschte im Lande des Propheten das Haus Umaiya. Der Hof des Kalifen wurde zum Hof eines Kaisers. Paläste, prunkvolle Zeremonien, Feste, Gelage, Wein und schöne Frauen erfüllten das Leben des Kalifen, des Schatten Gottes auf Erden, des Statthalters des Gesandten Gottes.

Die Idee vom Staate Gottes schien besiegt.

Noch lebt sie aber.


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