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Die Gewohnheit unterdrückt mehr Revolutionen als alle bewaffneten Mächte zusammen.
Wertheimer
Mohammed verstand es, den Vertrag von Ḥudaibiya meisterhaft auszunutzen. Schon auf dem Rückweg hielt er bei jedem Stamm, der nach oder von Mekka kam, an. Jeder erfuhr die große Neuigkeit: Mohammed der Prophet hat mit dem Volke der Quraiš Frieden geschlossen. Er wird künftig an den Wallfahrten teilnehmen wie alle Araber, er will den heiligen Stein besuchen, denn auch für Allāh ist die Kaʿba eine heilige Stätte.
In Medina angelangt, entsandte Mohammed nach allen Himmelsrichtungen seine Boten und setzte durch sie die große Schar seiner Anhänger in Bewegung, damit jeder erfahre: Mohammed hat die Kaʿba für heilig erklärt, Mohammed pilgert zum heiligen Stein, Mohammed pflegt alle Bräuche, die die Araber bei der Wallfahrt nach Mekka zu befolgen gewohnt sind. –
Von Sippe zu Sippe, von Oase zu Oase verbreitete sich mit Windeseile die Kunde: Mohammed, der alle Wüstengesetze verletzte, Mohammed, der während der heiligen Monate die Karawanen überfiel, der die Macht der Sippen brach und die Heiligkeit der Brunnen und Palmen antastete, will das Gesetz der Wüste wieder anerkennen, will gleich allen anderen nach Mekka pilgern. Nur wenige kannten den Wortlaut des Vertrages. Man kannte nur die Auffassung, die Mohammed verbreiten ließ. Diese Auslegung besagte klar, daß Mohammed und die Quraiš, daß der Islam und das Volk der Araber wieder eins sein sollten.
Die Folgen dieser geschickten Auslegung zeigten sich bald. Mohammed war wieder als gleichberechtigtes Mitglied in die Gemeinschaft der Araber aufgenommen worden. Und plötzlich zeigte sich mit überraschender Deutlichkeit, daß die Zukunft Arabiens ausschließlich dem Islam gehören würde. Man konnte dem Islam keinen einzigen geistigen Faktor mehr entgegenstellen. Er hatte die wenigen lebensfähigen Bestandteile des arabischen Kultus zwanglos in sich aufgenommen und war jetzt in der Tat allumfassend. Er akzeptierte die Kaʿba. Was konnte man noch gegen ihn einwenden?
Die Idole der Kaʿba waren eigentlich schon längst tot, man glaubte nicht mehr an sie. Man hielt sich nur noch an die Tradition. Diese lebendige Tradition des uralten Heiligtums der Kaʿba nahm nun der Islam in sich auf. Der Übertritt zum neuen Glauben bedeutete jetzt keinesfalls mehr einen Bruch mit dem Geist und der Tradition des Volkes. Es wurde den Arabern leichter gemacht, sich zum Islam zu bekehren, als allen anderen Völkern der Welt. Der Islam verlangte keinerlei Opfer. Man durfte wie seit Generationen alljährlich zum großen Jahrmarkt von Mekka pilgern, man durfte den schwarzen Stein küssen und alle Zeremonien der Wallfahrt vollziehen – man hatte dafür nur eine neue Bezeichnung gefunden – man nannte es: Islam. – Allerdings mußte man auf die alten steinernen und hölzernen Idole verzichten und statt ihrer den unsichtbaren, großen Allāh anerkennen.
Das war nicht schwer, denn Allāh war der alte Gott der längst vergangenen Generationen, der Urgott der Wüste, der Gott des Stammvaters Abraham. Mohammed war unermüdlich in der Hervorhebung dieser Eigenschaft Allāhs. Er verlangte ja nichts als die Aufhebung der späteren Mode, der späteren Entartung, der Idole, an die die Väter der Araber ja niemals recht geglaubt hatten. Das klang einleuchtend. Es war schmeichelhaft für das Herz der Araber, den halbvergessenen Gott ihrer Väter als den wichtigsten und obersten Gott aller Völker, aller Länder zu sehen.
Für den Verzicht auf die alten Götter gab Mohammed den Menschen ein soziales Gesetz, eine Organisation, die in ihrer Durchdachtheit der bisherigen Organisation der arabischen Sippen gleichkam. Außer diesem Gesetz gab Mohammed seinen Anhängern das Bewußtsein von der Unsterblichkeit der Seele, von der Vergeltung im Jenseits. Diese beiden Lehren waren dem Araber bisher völlig unbekannt gewesen. Doch Mohammed verstand sie mit erstaunlicher Suggestion, mit der unerhörten Kraft seines magischen Wortes in die Gehirne der Gläubigen einzuhämmern. Es gab für die Beduinen in der Tat keinen Grund mehr, den Islam abzulehnen. So siegte die arabische Tradition über den Islam und der Islam über das Volk der Araber.
Das übersahen die stolzen Quraiš, das hatte der listige Suhail ibn ʿAmr im Vertrag von Ḥudaibiya nicht vorausgeahnt. Auch die Muslims erwarteten diese Wirkung nicht. Nur einer erkannte die Tragweite des Abkommens: Mohammed, der nicht nur der Gesandte Gottes, sondern auch der klügste Mensch in der Wüste war.
Die Folgen des Vabanquespiels des Propheten machten sich bald bemerkbar. Seine geschickt eingeleitete Propaganda brachte den verdienten Erfolg. Die Sippen machten von ihrem vertraglichen Recht Gebrauch: Sie sprachen sich offen für oder gegen Mohammed aus. Eine nach der andern erschienen sie jetzt in langen Karawanen vor Medina, legten das Glaubensbekenntnis ab, empfingen den Segen des Propheten und schworen, die Gesetze ihrer Väter hoch und heilig zu halten, Pilgerfahrten nach Mekka zu unternehmen und den großen Allāh, den Gott der alten Araber, anzubeten.
In den zwei Jahren, die dem Frieden von Ḥudaibiya folgten, bekehrten sich mehr Menschen zum Islam als seit dem Beginn der Sendung. Die alten Götter waren zertrümmert. Der Islam wuchs wie eine Lawine und erreichte über Nacht nie geahnte Dimensionen. Die Sippen eiferten miteinander im Bekenntnisdrang, denn auch sie ahnten den Beginn einer neuen Epoche. Mohammed brauchte seine Krieger nicht mehr zum Kampf zu überreden. Man wußte, wo Mohammed kämpft, sind den Frommen Beute und Gottes Segen sicher. Immer größer wurden die Feldzüge, immer reicher die Beute, immer feuriger die Begeisterung der Beduinen, die in den Kampf zogen.
Der unerwartete Erfolg verwirrte aber den Propheten nicht. Er verhielt sich abwartend und vorsichtig; denn jetzt wollte er nichts mehr riskieren. Er mußte sichergehen und konnte nur nach sorgsamen Vorbereitungen sein Ziel erreichen.
Mit peinlicher Korrektheit und Ehrlichkeit – ganz wie ein seriöser Kaufmann – erfüllte er den Schmachvertrag mit Mekka. Auch hier zeigte er, daß er nicht nur in der Heiligkeit, sondern auch in der hohen Kunst der Politik allen Wüstenbewohnern weit überlegen war, denn er erfüllte die Abmachung von Ḥudaibiya so konsequent und so ehrlich, daß die Mekkaner ihn zuletzt selber bitten mußten, den Vertrag nicht allzu wörtlich zu nehmen.
Dies geschah auf folgende Weise: Abū Buṣīr aus dem Stamme Taqīf, wohnhaft in Mekka, floh eines Tages, die Lust an Abenteuern und die Liebe zu Gott in sich entdeckend, nach Medina. Die Mekkaner erfuhren es und schickten zwei Krieger nach Medina mit der Bitte, den geflohenen Abū Buṣīr vertragsgemäß auszuliefern. Ohne Zögern gab der Prophet ihrem Verlangen nach und lieferte den Flüchtling aus. Unterwegs gelang es aber dem Gefangenen, einen seiner Wächter zu erschlagen und in die Wüste zu fliehen. Dort lebte er halb vom Raub und halb von Bettelei, bis er einige Leidensgenossen fand, die gleich ihm aus Mekka geflohen waren und die der Prophet vertragsgemäß ausgeliefert hatte. –
Die Sklaven und Armen der Stadt Mekka flohen jetzt immer häufiger nach Medina, wo es für die Frommen weder Armut noch Sklaverei gab. In der Wüste bildeten sie unter Führung von Abū Buṣīr bald eine gefährliche Horde von etwa siebzig Mann. Diese Bande suchte sich nun den großen Karawanenweg zwischen Mekka und Syrien als Wirkungsfeld aus, und da sie arm war, nichts zu verlieren hatte und sich durch keinerlei Verträge gebunden fühlte, überfiel sie im Namen Allāhs die großen Karawanen, raubte das Gut der Mekkaner und verbreitete weithin Schrecken und Furcht. Die Mekkaner sahen sich um die Früchte ihres Vertrages gebracht. Der Handel von Mekka war wieder gefährdet. Abū Buṣīr war tapfer und listig, er verstand es, sich in den rauhen Bergen zu verbergen und spottete jeder Verfolgung. – Mohammed aber zuckte mit den Achseln, schüttelte den Kopf und erklärte, nichts gegen die freien Muslims, die vertragsgemäß nicht zu seiner Gemeinde gehören durften, unternehmen zu können. Schließlich mußten die Mekkaner, um die Ruhe in der Wüste wiederherzustellen, Mohammed darum bitten, den Vertrag von Ḥudaibiya zu revidieren und die Flüchtlinge offiziell in seine Gemeinde aufzunehmen. Mohammed erklärte sich damit einverstanden. Von diesem Tage an hörten die Überfälle und Plünderungen in der Wüste auf.
Das hob das Ansehen des Propheten außerordentlich. Für Mohammed selbst bestand kein Zweifel mehr, daß er bald der alleinige Herrscher über Arabien sein würde. Für den einstmals so ärmlichen mekkanischen Kaufmann wäre das eine große Befriedigung gewesen, für den Propheten Mohammed, für den letzten Gesandten Gottes auf Erden war das nur der Anfang, nur ein bescheidener Auftakt zu einer viel größeren Laufbahn.
Seit dem ersten Tage der Sendung, seit der ersten Predigt war der Islam universal gedacht. Gott hatte seinen Propheten allen Völkern der Welt als den letzten Verkünder der Wahrheit gesandt. Und wenn Gott seinem Propheten, der aus dem Nichts kam und ein Nichts war, die Herrschaft über Arabien schenkte, so konnte er ihm auch alle Länder und Völker des Orients, ja der ganzen Welt unterwerfen. Die jugendliche Kraft, das jugendliche Feuer war im Propheten ungeschwächt lebendig. Die Herrschaft über Arabien nahm er als eine Selbstverständlichkeit hin. Ebenso natürlich erschien ihm seine künftige Herrschaft über die Welt. Kaum der Herrschaft über Arabien sicher, entwickelten sich in dem Propheten neue, weit kühnere Pläne. Sein Blick richtete sich nach den Grenzen Arabiens. Um Mohammed lag die große Welt von Iran und Byzanz. Diese beiden Gegner hatten nach jahrzehntelangen Kämpfen endlich Frieden geschlossen. Beide sollte Gott dem Propheten schenken. Wie immer war der Anfang tastend und vorsichtig. Eines Tages sandte der Prophet aus Medina sechs Boten an die sechs Herrscher der Welt um Arabien: an den Kaiser von Byzanz, an den Kaiser von Iran, an den König von Abessinien, an den Statthalter von Ägypten, an den König von Ḥira und an den Fürsten von al-Yamāma in Zentralarabien. In den Briefen wurden die Potentaten der Welt aufgefordert, sich dem Islam und seinem Propheten zu unterwerfen. Das Schicksal der Boten wurde bereits erwähnt. Die Herrscher der Welt beachteten sie nicht. Sie wußten auch zuwenig von den merkwürdigen Wandlungen, die sich in den letzten Jahren innerhalb Arabiens vollzogen hatten. Der Prophet hatte kaum etwas anderes erwartet.
Die ungläubige Welt sollte ihre Mißachtung teuer bezahlen. Denn die Welt und alle ihre Völker waren ein Geschenk Gottes an den wahren Glauben und seinen Verkünder. Die Boten, die zu den Herrschern der Welt entsandt wurden, verließen Medina am 11. Mai des Jahres 628.
An jenem Tage wurde die Weltmacht des Islam begründet. An jenem Tage begann der Prophet die Welt um Arabien zu erobern.