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Wenn das Islam ist, sind wir nicht alle Muslims.
Goethe
Eine fromme islamische Legende berichtet, wie Mohammed in der Nacht, als er vor Allāhs Augen treten durfte, vom Allmächtigen das Gebot empfing, der Mensch müsse täglich zum Lobe Allāhs fünfzig Gebete sagen. Nur dann könne er der Gnade Allāhs gewiß sein. Mohammed neigte sich vor dem Allmächtigen, versprach, die Menschen zu zwingen, täglich fünfzig Gebete zu sprechen, und verließ den Palast des Herrschers der Welten.
Im sechsten Himmel angelangt, traf der Gesandte Gottes Moses den Propheten. Der lange Aufenthalt Mohammeds im Palaste des Allmächtigen hatte in Moses die Neugierde erweckt: Welche Befehle würde Mohammed wohl für die Menschheit erhalten haben? Und da Moses ein großer Prophet war, brauchte er sich seiner Neugier nicht zu schämen, er trat zu Mohammed und fragte, was Gott ihm befohlen habe. »Allāh hat befohlen, daß der Mensch täglich fünfzig Gebete aufsage«, sprach Mohammed. Da schüttelte Moses den Kopf und sagte: »Ich bin ein alter, in Ehren ergrauter Prophet, ich kenne die Menschen gut, sie werden keine fünfzig Gebete aufsagen.« Und Mohammed, der Achtung hatte vor den Worten seines Vorgängers, kehrte zum Throne des Allmächtigen zurück und sagte: »O Herr der Welten, die Menschen werden keine fünfzig Gebete täglich aufsagen.« Und in seiner Gnade erließ der Herr den Menschen fünfundzwanzig Gebete. Und wieder sagte Moses zu dem Gesandten Gottes: »Die Menschen werden auch keine fünfundzwanzig Gebete aufsagen.« Und wieder begab sich Mohammed zum Throne des Allmächtigen und bat für die sündige, schwache Menschheit und fand von neuem Gnade. Mehrmals mußte Mohammed den Weg vom sechsten Himmel zum Throne des Barmherzigen zurücklegen, denn weise und erfahren war Moses und gnädig der Allmächtige. Endlich erreichte die Zahl der Gebete, die Gott den Menschen vorschrieb, fünf, und selbst der skeptische Moses mußte zugeben, daß das nicht viel war.
Diese Legende ist äußerst charakteristisch für das Wesen des Islam. Es ist die Religion der maximalen Möglichkeiten und der minimalen Forderungen, eine Religion, die in ihren Geboten, Thesen und Vorschriften den Gipfel der äußeren Einfachheit erreicht hat. Diese äußere Einfachheit ist aber innerlich von einem in seiner Konsequenz unüberbietbaren, messianisch-theokratischen Zug beseelt.
Sehr wenig verlangte Mohammed von den Gläubigen, dieses wenige war aber zugleich außerordentlich viel. ›Gott will euch den Glauben erleichtern, denn der Mensch ist schwach‹ (1,181), heißt es im Koran, und die Gebete der neuen Lehre waren in der Tat auf ein Minimum reduziert. Dieses Minimum war dazu noch auf die toleranteste Weise ausgelegt. Man brauchte keine Priester, keine Tempel, selbst das Gebet war unter Umständen nicht obligatorisch. ›Es wird euch vergeben, wenn ihr das Gebet auf Reisen, in fremden Ländern vernachlässigen müßt.‹ Auch Pilgerzüge und Fasten dürfen umgangen werden. Krankheit, Armut und dergleichen sind ausreichende Gründe.
Das Leben der totemistischen Araber war dagegen voller Verbote. Eine Reihe von Speisen durfte nicht angerührt werden. Auch hier verkündet der Koran: ›Eßt alles, was Gott euch gesandt hat und was gesund ist, mit Ausnahme von Aas, Blut und Schwein sowie aller Tiere, die am Altar der Heiden geopfert werden, denn das ist Schmutz‹ (5,1-4). Für die Rettung des Menschen sind alle äußerlichen Erfordernisse des Glaubens unwesentlich, Gott verzeiht ihre Vernachlässigung. ›Woran wird Gott den Frommen erkennen?‹ heißt es in einer Überlieferung, und die Antwort lautet: ›An der Liebe zu Kindern, Hausgenossen, Nachbarn und allen Menschen. Wollt ihr euch Gott nähern, so liebt seine Geschöpfe.‹
Der Islam erkennt sogar, wohl als einzige Weltreligion, an, daß auch den Angehörigen fremder Glaubensbekenntnisse der Weg zur Rettung nicht verschlossen ist. Die berühmte fünfte Sure verkündet wörtlich: ›Wahrlich Muslime, Juden, Christen und Sabäer, alle, die an Gott und die Auferstehung glauben, die gute Taten verrichten und gerecht sind, ihnen allen wird Gottes Lohn zuteil werden, sie werden alle keine Furcht und kein Leid kennen‹ (5,73). Es wurde dem Menschen leicht gemacht, den Islam anzunehmen. Die menschliche Art war in das religiöse System einbezogen, und nur hin und wieder, wie ferne Blitzlichter, erschienen Verse, die das tiefe Wesen dieses Glaubens erläuterten. ›Besiege das Böse durch das Gute‹, heißt es in Sure 11,116, und der ganze Glaube kann eigentlich auf einen einzigen Satz reduziert werden: ›Willst du dich Gott nähern? Lebe rein und sei gerecht‹ (Sure 35,19).
Je leichter, faßlicher und toleranter die äußeren Auslegungen waren, desto schwieriger war der zuerst kaum angedeutete innere Weg der Gläubigen. Diesen inneren Weg hat am besten der große Mystiker des Islam, Ǧalāl ad-Dīn Rūmī, formuliert: ›Du bekommst gleichzeitig die Seele eines Tieres und die Seele eines Engels. Wirf ab die Seele des Tieres und übertriff die Seele des Engels.‹
Doch ist der Weg zur Vollendung schwer. Nicht jeder kann ihn beschreiten. Mohammed wußte das und wollte nicht, daß der sündigen Menschheit der Weg ins Paradies verschlossen bleibe. »Es wird eine Zeit kommen, da man uns verzeihen und uns freisprechen wird, selbst wenn wir nur ein Zehntel von dem erfüllen, was der Herr befohlen hat«, tröstete Mohammed.
Das merkwürdigste an Mohammed war das friedliche Beisammenleben seiner zwei Charaktere: des ekstatischen Propheten und des kühlen Praktikers. Er allein kannte den Weg, den andern mußte er vorerst noch verborgen bleiben. Zuerst, in den Anfängen des Islam, kam es nur darauf an, die Menschheit, die arabische Menschheit, für den Monotheismus einzufangen. War das vollbracht, war diese primitive Voraussetzung des Islam erfüllt, so konnte das Weitere, das vorläufig fest verschlossen in Mohammeds Innerm ruhte, in Angriff genommen werden.
Mohammed beeilte sich nicht. Sein meteorhafter Aufstieg war im Grunde genommen ein schrittweises Vordringen. Er begann sehr bescheiden. Jahr für Jahr entwickelte er den Islam zu seiner weltumfassenden Bedeutung. Hier tritt eine tiefe, innere Verwandtschaft Mohammeds mit Luther zutage. Beide holten zu Beginn weit aus, beide betraten schüchtern, langsam und vorsichtig den Weg, dessen Ende ihnen selbst nur halb bewußt war, beide entwickelten nach und nach ihre Lehre, waren Meister der Vorsicht, der Umsicht, der Zurückhaltung, gleichzeitig aber von Bekennermut, fester Überzeugung getragen, von der sie um kein Jota abwichen und die sie mutig zu verteidigen wußten. Merkwürdigerweise waren auch beide die Schöpfer einer Sprache, die überhaupt erst die Fundierung des Glaubens ermöglichte. In der Tat erinnert auch das Werk Mohammeds, rein äußerlich gesprochen, an das Werk Luthers. Hie und da die Abneigung gegen den toten Ritus, die Verlebendigung des Innenlebens, die Ablehnung der Mittelsmänner zwischen Mensch und Gott. Hie und da auch eine innere Keuschheit, die Fähigkeit der kühlen Berechnung aus tiefer innerer Überzeugung, dies alles mit beispielloser Unerschrockenheit gepaart. ›Hier stehe ich, Gott helfe mir‹, unzählige Male wurde dieses Bekenntnis Luthers von dem arabischen Propheten inmitten der steinernen Idole der Kaʿba ausgesprochen. Dies geschah um das Jahr 600, viele Jahrhunderte vor dem Auftreten des nordischen Reformators.
Der Geist Mohammeds war aber keineswegs demütig, bescheiden oder tolerant. Er schuf einen Glauben, und dieser Glaube war gleichzeitig eine Forderung. In Mekka war der Glaube an einen einzigen Gott verkündet worden, und nur wenige Quraiš hatten die Gefahr dieses Bekenntnisses richtig erkannt. Wenn es nur einen Gott gab und Mohammed sein einziger Prophet war, so lag es nahe, anzunehmen, daß über kurz oder lang der Prophet als der einzige Verkünder des Gotteswillens zugleich die alleinige Herrschaft über die Menschheit beanspruchen würde. Wenn der einzige Gott nur durch einen Mund sprach, so mußte alles, was aus diesem Munde kam, als göttlicher Befehl erfüllt werden. Der Glaube an den einzigen Gott, der Glaube an seinen Propheten erhob also den Anspruch auf Weltherrschaft. Und da bisher der Glaube mit dem Propheten identisch war, wurde der Anspruch auf die Weltherrschaft von dem Menschen Mohammed für sich persönlich in Anspruch genommen. Dieses war auch die kühnste Forderung des Islam: »Ich bin ein Mensch wie die andern« (41,5), verkündete Mohammed, und doch beanspruchte dieser einfache Mensch die Weltherrschaft, die absolute, durch nichts geschmälerte Herrschaft über die gesamte Menschheit.
Diese Forderung ergab sich mit absoluter, logischer Konsequenz aus den so toleranten, biegsamen Grundthesen des Propheten. Nie hat der Prophet in Mekka diese Dogmen ausgesprochen, nie deutete er auch nur darauf hin. Als er aber den Staat der Gläubigen gründete, ergab sich die alleinige, unumschränkte Herrschaft des Propheten von selbst. Denn der Islam hatte Anspruch auf Weltherrschaft. Jetzt in Medina sollte dieser Anspruch durchgesetzt werden.
Mohammed ward das gegeben, was nur wenigen Propheten, Denkern, Philosophen und Gottsuchern vor und nach ihm vergönnt war: der Sprung in die Praxis. Und es erwies sich, daß er, wohl als einziger unter all diesen Männern des Geistes, in Ehren die größte Prüfung bestand, die die Welt von einem Propheten verlangen kann – daß er seine Theorie in die Praxis umsetzte. Aus dem abstrakten Wort des Korans errichtete Mohammed das Gebäude eines Staates, einer praktischen Weltanschauung, einer Weltmacht. Der Sprung in die Praxis heißt Medina.
Der Weg, der zu diesem Sprung führte, war aber ein geistiger Weg. Innerhalb einer in sich gespaltenen, nur äußerlich glänzenden Welt entstand, von keinerlei Machtfaktoren begleitet, der Anfang aller Welten: das Wort. Und das Wort, der Geist, von einem nüchternen Praktiker getragen, widerstand einer ganzen Schar vielleicht gleich hochstehender feindlicher Praktiker, die alle Machtfaktoren der damaligen Zeit in ihrer Hand vereinten, außer einem einzigen: dem Wort.
Der Sieg des Islam ist der Triumph des Geistes. Der Anspruch auf die Weltherrschaft, den der Geist hier erhob, mußte reale Substanz enthalten, mußte ein geistiges und gleichzeitig praktisch durchführbares Programm besitzen, ein Ziel, um dessentwillen sich die Erschütterung der Menschheit lohnte.
Welches war nun das Ziel Mohammeds? Im Vergleich zu den religiösen Systemen des Altertums enthielt dieses Ziel vielleicht nichts wesentlich Neues. Doch wurde dieses Alte jetzt mit nie dagewesener Konsequenz, mit triebhafter Begeisterung ins Praktische überführt. Diese erstmalige praktische Verwirklichung einer abstrakten, religiösen Lehre ist die eigentliche neue Note des Islam in der Weltgeschichte. Die praktische Theologie, die Mohammed verfocht, vereinte in Medina Politik, Staat und Religion zu einem einheitlichen Ganzen, das in Jahrhunderten nicht mehr auseinanderzureißen war.
Im Gegensatz zu allen Staatsbildungen des alten Orients war der Staat Gottes, der Staat des Islam, ein demokratisches Gebilde. Diese Demokratie war aus dem uralten Geiste der Wüste entstanden. Mohammed zerrüttete das Staatswesen, den Partikularismus der freien Sippen. An Stelle der zahllosen Sippen der Araber sollte eine große Sippe des Islam treten, die zuerst Arabien und dann die ganze Welt zusammenfassen sollte. Die innere Organisation dieser großen Sippe der Gläubigen entsprach haargenau der Struktur eines Wüstenstammes. Alle Stammesangehörigen sind einander gleich, und ebenso gleichwertig, frei und gleichberechtigt sind auch alle Gläubigen des Islam.
Die Regierungsform des Islam entspricht in großen Zügen gleichfalls der Regierungsform der Sippen. Dem Sippenführer gehört nur bedingte Gewalt, er ist an die Traditionen gebunden, er ist nur der erste in dem Rat der Weisen. Ähnlich im Islam. Auch hier kennt man eigentlich keinen Monarchen. Man kennt nur den Verwalter des Prophetentums, der vor den Weisen des neuen Glaubens verantwortlich ist und jederzeit abgesetzt werden kann. Das Gesetz aber, die Tradition, die alles umfaßt, geht hier wie dort auf den Gründer der Sippe, in diesem Falle auf Mohammed zurück. Als er verachtet durch die Steppen Arabiens zog, erkannte er das primitive System der Wüstendemokratie, erprobte es und verlieh ihm Weltgeltung. Und das System armseliger Beduinen erwies sich als fähig, der Welt des Orients einen charakteristischen Stempel aufzudrücken, ja bis in die Neuzeit hinein sein Schicksal zu beeinflussen.
Mohammed und dem Islam gebührt aber das Verdienst, die Demokratie, das heißt die These der absoluten Gleichberechtigung der Menschen, zum erstenmal im Weltmaßstab entwickelt zu haben. Die Gleichberechtigung aller Menschen blieb im Islam ein Lebensgrundsatz, der bis zum Sturz des Kalifates aufrechterhalten wurde. Rassen, Klassen und Schichten tauchten für Jahrhunderte in diesem weltumfassenden System unter.
Die Gleichberechtigung der Menschen war im Islam theologisch fundiert, denn die Demokratie des Islam war eine theokratische Demokratie. Die Menschen waren Sklaven Gottes und als Sklaven einander gleich. Eisern waltete über jedem einzelnen das Gesetz Gottes. Die Gleichheit des Islam war nicht mit Freiheit verbunden, wie auch der vorislamische Araber alles andere als frei war. Das Ideal des Islam entsprach eigentlich dem Ideal aller orientalischen Eroberer und Hordenführer: Unterwerfung des Menschen unter ein ehernes und einfaches Gesetz, vor dem alles, was sich Mensch nennt, gleich gilt.
Die Imperien des Orients waren im wesentlichen alle auf diesem Gesetz aufgebaut. Dschinghis Khan, Tamerlan, sie alle wollten nichts anderes. Ihre Imperien entstanden und zerfielen. Nichts konnte ihren Untergang aufhalten. Der Islam aber blieb. Seine Demokratie, seine Gesetze, sein unendlich soziales, bis in alle Einzelheiten durchdachtes Weltbild blieb erhalten. Denn hinter dem Islam stand der freie, ungehemmte, im Rahmen des Gegebenen schöpferische Geist. Dieser Geist konnte nicht untergehen.
Einst ernannte Mohammed den Krieger Muʿād zum Statthalter der Provinz Jemen. »Wonach wirst du dich richten in Fragen des Regierens?« erkundigte sich der Prophet. »Nach dem Gesetz des Korans«, antwortete Muʿād. »Und wenn du dort keine Antwort findest?« – »Dann nach deinem Beispiel.« – »Wenn aber auch das nicht ausreicht?« – »Dann werde ich mich nach meinem eigenen Geist richten«, antwortete Muʿād. Da lobte der Prophet den Krieger und stellte ihn als Beispiel hin für die andern. Denn wie kein zweiter wußte der Prophet, daß man die Menschen mit Waffen, Befehlen und Strafen regieren kann, daß aber die Führung des Menschen nur durch den freien Geist ermöglicht wird.
Dieser Geist der grenzenlosen, freien, unvergänglichen Wüste gab dem Propheten die Herrschaft über die Welt des Orients.
Der Anfang dieser Herrschaft war Medina.