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Die singende Wüste

Mein Zelt, durch das der Wind weht, ist lieblicher als ein prächtiges Schloß.

Umm Yazīd, Die Mutter des sechsten Kalifen

Waren nun diese Beduinen, die keinen Staat und keinen Zwang kannten, überhaupt noch ein einheitliches Volk? Was band sie zusammen? Was veranlaßte diese unzähligen, einander bekämpfenden Sippen, sich zuweilen als ein einheitliches Volk zu betrachten?

Ein altes arabisches Gedicht gibt darauf folgende Antwort: ›Vier Gnadengeschenke gab Gott dem Araber. Zuerst den einfachen Wüstenturban, der ihm besser steht als eine Krone, dann das Zelt, das bequemer ist als ein Palast, dann das Schwert, das ihm mehr Schutz verleiht als die höchste Mauer. Das vierte und beste Geschenk des Himmels aber ist die schöne Kunst des freien Gesanges. Dies ist das köstlichste Gut des Arabers.‹ Diese Antwort mag vielleicht merkwürdig erscheinen. Sie ist aber richtig. Die Einheit der rohen arabischen Sippen beruht nur auf der Kraft des arabischen Wortes, des arabischen Liedes.

Das Lied beherrscht die Wüste. Es gibt wohl auch heute kein zweites Volk, das gleich inbrünstig der Schönheit des Wortes, der lyrischen Impression ergeben wäre wie der Araber. Dieses einfache Wüstenvolk verfügt über eine Sprache von unerhörtem Reichtum. Was für andere Völker Architektur, Malerei und Musik waren, bedeutete für die Araber ihre Sprache.

Der Araber beherrscht seine Sprache meisterhaft. Er kennt alle hundert Synonyme des Kamels oder des Schwertes, gebraucht freudig die schwierigsten Redewendungen und verachtet aufrichtig die armseligen Völker, die nicht über eine ebenso reiche Sprache verfügen. Der Araber ist peinlich genau darauf bedacht, die Reinheit seiner Sprache zu wahren. Von klein auf werden die Araberkinder in die Kunst des schönen Wortes eingeweiht. Ein einfaches Beduinenweib verprügelt ihre Kinder einer falschen grammatikalischen Wendung wegen. Denn das Wort ist heilig, es verbindet alle Araber und macht sie zu einem Volk.

Wer über die Araber herrschen will, muß zuerst das Wort meistern. Zwar hat jede arabische Sippe ihren Dialekt, der für die Nachbarsippen schwer verständlich ist, doch über allen Dialekten thront die Sprache der Wüstendichtung, die literarische Sprache der Araber, die der Angehörige jeder Sippe beherrschen muß, sofern er für einen Araber gelten will. Diese Sprache ist die Sprache der arabischen Dichtung, und seine Dichtung liebt der Araber mehr als Turban, Schwert und Zelt. Jeder Araber, ohne Ausnahme, kann dichten, und alle haben das größte Interesse an den Fragen der Literatur. Was für den heutigen Menschen Sport, Politik und Zeitung ist, war für den Araber die Poesie. Sie war Ausdruck des Schönheitssinns, der öffentlichen Meinung, der politischen Nachrichten und beschäftigte sich inhaltlich mit allem, was den Araber interessierte.

Jeder Araber dichtet. In der Wüste, auf den Höckern des Kamels während des einsamen Ritts durch die flache Landschaft, vergehen die Stunden eintönig und grau. Der Araber hockt auf dem Kamel. In rhythmischem Schritt bewegt sich das Tier durch die Wüste. Und um nicht einsam zu sein, um nicht einzuschlafen, um dem Wüstengrauen zu entgehen, beginnt der Araber die Wüste, die vor ihm liegt, das Kamel, auf dem er reitet, den Himmel, der sich endlos über ihm dehnt, und seine eigene Kraft zu beschreiben. Er spricht langsam und monoton zuerst – frei und ungebunden. Später bekommt seine Rede feste Form, wird gebunden und wiederholt den gleichmäßigen Rhythmus des Kamelschrittes. Im Takt des Kamelschrittes entwickelt sich die Beduinenlyrik, und all die komplizierten Versmaße der Araber sollen im Grunde genommen nichts weiter sein als Varianten des einsamen Kamelschrittes in der weiten Wüste.

Der Dichtung und Schönheit des Wortes mißt der Araber ungeheure Bedeutung bei. Das Wort ist Magie, es ist mächtig; wer es beherrscht, ist stärker als der Krieger. Der wahre Dichter kann mit dem Worte zaubern, vermag Krankheiten zu heilen oder heraufzubeschwören. Selbst wenn ihm dies nicht gelingt, bleibt seine Macht groß genug. Der gelungene Scherz eines Dichters genügt manchmal, um das Ansehen eines Arabers bei allen Wüstenstämmen zu untergraben. Der Spott des Dichters ist gefürchteter als das Schwert des Helden.

Jeder Stamm hat seinen eigenen Dichter, der für ihn ins Feld zieht. Vor dem Kampf zwischen zwei Stämmen treten die Dichter hervor, preisen in Liedern ihren eigenen Stamm und verspotten die Gegner. Andächtig lauschen die Araber. Es kam vor, daß der Stamm, dessen Dichter unterlag, stumm von dannen zog, ohne den Kampf mit der Waffe überhaupt aufzunehmen. Denn was nützt das Schwert, wenn das Lied nichts taugt?

Die Dichterturniere waren das größte Ereignis der Wüste. Unerhörte Ehren wurden dem preisgekrönten Dichter zuteil. Mit großen goldenen Buchstaben wurde sein Lied auf schwarze Tücher gestickt und am Eingang des Göttertempels aufgehängt.

Selten kann ein arabischer Dichter lesen und schreiben. Seine Gedichte muß er improvisieren. Sind sie gut, so behält sie der Zuhörer von selbst. Je schneller man die Gedichte behält, um so höher steigt der Ruhm des Dichters. Der Dichter bestimmt über vieles in der Wüste, und wem die Gabe der schönen Rede nicht verliehen ist, der kann nie in der Wüste regieren. Nur wer das Volk durch die Kraft des magischen Ausdrucks hinreißt, wer seinen Gegner durch Spott vernichtet, wer durch ein gelungenes Wort seinen Stamm preist, kann zum Führer eines Volkes werden, in dem die Dichtung Zeitung, Film und Buch der Neuzeit ersetzt. Das Ohr der Wüste gehört dem Sänger, der, ganz nebenbei, auch ein tüchtiger Krieger sein muß.

siehe Bildunterschrift

1. Mekka. Ansicht der heiligen Moschee vom Ostminaret.
Quelle: de.wikipedia.org

Liebe, Bluthaß, romantische Kämpfe, Stammesstolz und zahlreiche Schilderungen des Wüstenlebens, des Kamels, des Pferdes füllen die Beduinenlyrik. Doch wichtiger als diese wunderbaren, wenn auch nur dem Araber vollständig begreiflichen Lieder sind die Dichter selbst, mit ihren romantischen Schicksalen und Abenteuern, die am besten das Ideal des Beduinen verkörpern.

Einer der berühmtesten alten Araberdichter war ʿAmr ibn ʿAbd al-Bakrī, genannt Ṭarafa. Er lebte im Reiche der Ghassaniden, am Hofe des Königs von Ḥīra. In Ḥīra sang er fröhliche Lieder von Wein und Frauengunst, insbesondere aber von seinem Kamel, das ihm wichtiger war als alles andere. Ṭarafa war ein Freund des Spottes; er scherzte über Wein, Frauen und Gott. Der König aber lächelte huldvoll. Eines Tages verfaßte nun Ṭarafa ein Spottlied über den König selbst. Da hörte der König auf zu lächeln. Sein Gesicht wurde finster, und er begann über die angemessene Strafe für Majestätsbeleidigungen nachzugrübeln. Endlich beschloß er, den frechen Dichter mit dem Tode zu bestrafen. Man darf aber einen gottbegnadeten Dichter nicht hinrichten. Des Dichters Blut ist zu teuer, um von dem Scharfrichter vergossen zu werden. Selbst der König konnte es nicht wagen, öffentlich einen Dichter mit dem Tode zu bestrafen. Er berief deshalb Ṭarafa, gab ihm einen Brief und sagte: »Bringe diesen Brief zu meinem Statthalter in Bachrain. Viel Lohn und Ehre sollen dir dort zuteil werden.«

Ṭarafa war ein Dichter, er konnte nicht lesen. Er nahm den Brief und ging damit in die Wüste. Unterwegs traf er einen sehr weisen Mann, dessen Weisheit sogar ausreichte, um das geschriebene Wort zu entziffern. Der weise Mann las den Brief, denn Briefgeheimnisse gab es damals noch nicht, und sagte: »Oh, Ṭarafa, geh nicht nach Bachrain, in dem Briefe steht, daß der Statthalter dich dort wegen eines Spottgedichtes lebendig begraben soll. Zerreiße deshalb den Brief und wirf ihn in den Fluß.« Da antwortete der Dichter Ṭarafa:

»Lesen ist eine große Kunst, eine große das Schreiben.
Nicht die Wogen des Stromes herab soll Geschriebenes treiben.
Künftig Ṭarafas Lieder auch soll man lesen und schreiben. –

Ich will nicht, daß etwas Geschriebenes durch meine Schuld vernichtet wird. Lieber sterbe ich, als etwas Geschriebenes zu zerstören.« Er setzte seinen Weg fort und starb eines qualvollen Todes zu Ehren der Schreibkunst.

Noch romantischer ist das Leben des Dichters ʿAntar ibn Šaddād, aus dem Stamme ʿAbs, dessen Mutter eine Negerin war, und der nur infolge seiner großen Heldentaten vom Vater die Gleichberechtigung mit seinen weißen Brüdern erwerben konnte. Trotzdem spotteten die weißen Sippen der Araber über den schwarzen Sohn einer Sklavin. ʿAntar aber pflegte zu sagen: »Meine Seele gleicht den Körpern meiner weißen Mitmenschen, mein Körper aber gleicht ihrer Seele.« Wer aber diesen Spott nicht verstand, dem sagte ʿAntar: »Zu einer Hälfte bin ich edel von Geburt, die andere Hälfte deckt mein Schwert.« Das ganze Leben lang kämpfte ʿAntar gegen seine Widersacher, beschenkte Freund und Feind und reimte seine Verse im Takt des Schrittes seines weißen Kamels. Um seiner Verse willen verehrten die Araber ʿAntar. Ihre Freundschaft und Liebe aber verweigerten sie dem schwarzen Sohn einer Sklavin.

ʿAntars Brauch war es, jedem, sogar einem Unbekannten, alles zu schenken, was ihm gefiel, und nur das als sein Eigentum zu betrachten, was er mit dem Schwert erobert hatte. Und obgleich die Araber ʿAntar nicht liebten, beschlossen sie, ihn für seine Tapferkeit, Weisheit und Fröhlichkeit ʿAntar al-Hākī zu nennen, was ʿAntar der Glückliche bedeutet. Doch ʿAntar widersetzte sich. »Ich habe einen Feind«, sprach er, »und ich kann mich nicht glücklich nennen, bevor ich ihn gefunden und vernichtet habe.« – »So vernichte ihn doch schneller«, sprachen die Leute, »denn wir sind ungeduldig, dich den glücklichen ʿAntar zu nennen.« Lange Zeit suchte ʿAntar den Feind. Tage und Nächte ritt er durch die Wüste, fragte alle aus, die ihm begegneten, und flehte die Götter um Rache an. Doch der feige Feind verstand sich zu verbergen. Deshalb benannte ihn ʿAntar: ›Das fliehende Glück‹. Schließlich erbarmten sich die Götter ʿAntars und zeigten ihm am Horizont der Wüste den Feind. Da erbebte ʿAntar freudevoll: Endlich erfüllt sich meine Sehnsucht, dachte er und begann sich zum Zweikampf zu rüsten. Auch der Feind hatte ʿAntar erkannt und suchte sein Heil in der einzigen Gegenwehr der Feigen, in der Flucht. Doch kräftig war das Kamel ʿAntars. Schon holte es den Fliehenden ein, schon schwang ʿAntar seinen Speer über dem Haupt des Feindes. Da wandte sich der Feind um und rief: »Oh, ʿAntar, schenke mir doch deine Waffen.« Und ʿAntar konnte der Bitte nicht widerstehen, warf dem Feind die Waffen vor die Füße und suchte das Weite, damit das ›fliehende Glück‹ ihn nicht mit den eigenen Waffen ermorde.

Als die Beduinen von diesem Ereignis hörten, lobten einige den Feind für den Edelmut, mit dem er ʿAntar hatte entweichen lassen, die meisten aber lachten über den schwarzen Mann mit der weißen Seele. Als aber der Monat des Festes gekommen war, webten die Frauen Arabiens eine große schwarze Decke, und die Weisen Arabiens zeichneten darauf mit goldenen Buchstaben den Namen des fröhlichen Dichters ʿAntar. Und sie befahlen den Kriegern, die Decke am Eingang des Göttertempels, vor der heiligen Kaʿba, aufzuhängen. ʿAntar selbst hieß aber seitdem ʿAntar der Narr, was in der Sprache der alten Völker gleichbedeutend ist mit ʿAntar der Dichter.

Solche und ähnliche Geschichten wurden in der Wüste vielfach erzählt. Sie handeln alle von heldenmütigen Dichtern, die mit der Welt kämpfen und sie durch die Kraft ihrer Lieder bezwingen. Sie waren das Sinnbild der arabischen Tugend.

Der bedeutendste, der genialste unter diesen Dichtern war aber der Königssohn Imruʾ al-Qais ibn Ḥuǧr. Imruʾ al-Qais führte ein abenteuerliches Leben. Dichterischer Frivolität wegen wurde er von seinem Vater verstoßen und zog mit seinen Freunden in die Wüste. Dort sang er Lieder und eroberte die Gunst der Frauen. Als aber sein Vater von der Sippe Banū Asad ermordet wurde und keiner der Brüder Imruʾ al-Qaīs den Mord rächen wollte, beschloß dieser verstoßene Sohn, sein Leben der Rache für den Vater zu widmen. Jahrzehntelang durchmaß er ruhelos die Wüste, bekämpfte die Banū Asad, verbarg sich zuletzt in der romantischen Burg des Juden Samuel und kam endlich an den Hof des Kaisers von Byzanz. Dort gelangte er zu großen Ehren und wurde zum Philarches von Palästina ernannt. Er starb schließlich in Ankyra, vom Kaiser vergiftet, dessen Nichte er verführt hatte. Sein Leben liefert den Stoff für zahlreiche, romantische Legenden, in deren Mittelpunkt er und sein treuer Freund Samuel stehen. In der Burg Ablaq, die Samuel gehörte, so erzählt eine Legende, verbarg Imruʾ al-Qaīs sein köstlichstes Gut, fünf Panzerhemden, die ihn unbesiegbar machten. Als Imruʾ al-Qaīs nach Byzanz ging, verlangte der König von Ḥīra, der Jude Samuel möge ihm die Panzerhemden Imruʾ al-Qaīs ausliefern. Doch Samuel al-Wafi, der Treue, verweigerte die Preisgabe und starb nach romantischen Kämpfen eines qualvollen Todes. Die Beduinen haben Samuel und Imruʾ al-Qaīs auch heute noch nicht vergessen.

Imruʾ al-Qaīs, ʿAntar, Ṭarafa und viele andere ritterliche Dichter erfüllen die Geschichte der Araber. Sie waren das Sinnbild des alten, romantischen Arabiens, der Beduinen, der Zelte, der steinernen Idole und der Blutrache. Arm war Arabien und von der Menschheit mißachtet. Wüste, Wildnis, Barbarei war Arabien. Niemand wollte sich seiner erbarmen, niemand beachtete es. Nur der Beduine liebte sein Land wie das Kind die Mutter, liebte das ritterliche Spiel der Wüstenkämpfe, liebte die Dichterturniere und die zahllosen Lieder der fahrenden Dichter. Kein Wunder, daß, als dem Lande der Gesandte Gottes gegeben wurde, ihn manche nur für einen Dichter hielten.


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