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17. Kapitel.
Kriminalkommissar ›Brandt‹

Rudolf Schrader hatte einen sehr unruhigen Tag und eine schlaflose Nacht hinter sich. Als er am Morgen erwachte, fand er sich zu seinem Erstaunen statt im Bette auf dem Stuhle vor dem Tisch. Seine Glieder schmerzten ihm, und er fühlte einen dumpfen, schweren Druck im Kopf. Was war denn geschehen? So etwas war ihm doch noch nie passiert. Das böse Gewissen regte sich in ihm, und er versuchte, sich die Vorgänge des gestrigen Abends klar zu machen. Er war doch vollkommen nüchtern und munter gewesen! Mühsam erhob er sich und hielt den Kopf unter die Wasserleitung. Ein wenig vermochte er nun seine Gedanken zu sammeln. Er hatte gestern, wie immer nach dem Abendessen, ein Glas Bier getrunken und war dann mit einem Male so müde geworden.

Von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, öffnete er den Bierkrug. Er rief nach Eva und zog, als keine Antwort kam, die Uhr. Neun vorbei – da war die Kleine schon zur Schule. Unruhig schweifte sein Blick im Zimmer umher. Er griff nach der Brieftasche, und er atmete befreit auf, als er alles an Ort und Stelle fand. Na, natürlich, wer sollte denn auch auf den Gedanken kommen, daß er …

»Ah, bah!« dachte er, »wer wird so ein Angsthase sein! Es passiert doch jedem Menschen mal, daß die Nerven erschlaffen.«

Er schüttelte die schweren Gedanken ab und ging in die Küche, um sich eine Tasse starken Kaffee zu brauen. Der Genuß desselben gab ihm neuen Lebensmut. Jetzt konnte er sogar über seine Furchtsamkeit lachen. Was er für ein Esel war, sich so ins Bockshorn jagen zu lassen! Seine Nerven brauchten Ruhe nach den wilden Tagen seines bisherigen Lebens. Er mußte reisen, andere Menschen kennen lernen. Er hatte es ja dazu. Die Erde mußte ihm doch nun ihre Schätze erschließen, nachdem er sich den Zauberstab, dessen er zu ihrer Hebung bedurfte, mit so vielen Opfern erkauft hatte.

Und wieder nahm er den vergilbten Plan vor und wieder versuchte er, die geheimnisvolle Lösung zu finden. Aber wie er sich auch den Kopf zerbrach, es wollte und wollte ihm nicht glücken. Und zwischen den Zahlen, die anfingen, ihm vor den Augen zu tanzen, erhob sich plötzlich ein blutiges Haupt, die gebrochenen Augen anklagend und beschwörend auf ihn gerichtet. Und im Hintergrunde erblickte er das Blutgerüst, den Richter mit dem Henkerbeile und sich selbst am Fuße des Richtblockes. Das Armesünderglöcklein wimmerte, und aus dem schrecklichen Medusenhaupte vor ihm hallte ihm ein »Wehe, wehe!« entgegen.

Ein namenloses kaltes Entsetzen kroch ihm über das Herz, es quoll ihm erstickend zum Halse, die Haare sträubten sich ihm und die Augen sahen starr auf die gräßliche Fata morgana. Plötzlich eilte er ans Fenster, riß es weit auf und sog mit der Gier eines Erstickenden die frische Luft ein. Zum Teufel, das war ja Wahnsinn! Träumte er am hellen, lichten Tage? Aber das Entsetzen ließ sich doch nicht so leicht abschütteln – gebrochen wankte er nach dem Sofa und verfiel dort in einen unruhigen Schlaf.

Als er etwas gekräftigt sich erhob, war es Eins. Eva mußte gleich kommen. Aber die Zeit verging. Es war schon beinahe zwei Uhr und Eva war noch nicht da. Die Unruhe und Besorgnis des schrecklichen Vormittags wollte aufs neue Besitz von ihm ergreifen, aber er schüttelte sie gewaltsam ab. Er wartete noch bis drei – Eva kam nicht. Es wurde Abend. Er hatte sich ein einfaches Mahl bereitet und ging dann zeitig zu Bett. Morgen früh wollte er sich nach Eva erkundigen. – – – – – –

Es war gegen neun Uhr des anderen Tages, als es bei ihm anklopfte: In der Erwartung, daß es der Briefträger sei, öffnete er, prallte aber erschrocken zurück, als ihm ein fremder Herr entgegentrat.

»Herr Rudolf Schrader? Gestatten Sie, daß ich nähertrete?«

Und ehe der Verblüffte eine Antwort geben konnte, war der frühe Besucher an ihm vorbei in das Zimmer gedrungen.

Jetzt erst fragte Schrader rauh nach seinem Begehr. Mit einigen entschuldigenden Worten stellte sich der Mann vor.

»Brand, Kriminalbeamter.«

Ein fahles Grau überzog das Antlitz des Verbrechers. Fluchtsuchend glitten seine Augen nach der Tür. Der Beamte blätterte in einem dickleibigen Notizbuche.

»Ich komme wegen des Aufenthaltes Ihrer Halbschwester Eva, wegen der Sie sich wohl schon Gedanken gemacht haben. Sie sollten eigentlich schon gestern benachrichtigt werden, aber der Beamte, der damit beauftragt worden war, wurde plötzlich krank. Ich kann mir denken, daß Sie fieberhaft auf Nachricht warten.«

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte Schrader, der wieder Mut faßte.

»Sehr liebenswürdig! – Also, wissen Sie, – die Schülerin Eva Schrader, Tochter der verstorbenen Frau Anna Schrader, ist gestern mittag beim Verlassen der Schule plötzlich ohnmächtig geworden und mußte, da man ihre Adresse nicht kannte, in das Krankenhaus geschafft werden.«

»Ach Gott, ist sie sehr krank?« erkundigte sich Schrader, sehr angelegentlich.

»Ich kann darüber weiter nichts berichten, indessen darf die Kleine heute und morgen keine Besuche empfangen. So, das wäre alles,« sagte der Beamte und klappte sein Buch zu, ohne indessen Anstalten zu machen, zu gehen. Vielmehr lehnte er sich bequem in seinen Stuhl zurück und begann von seinen dienstlichen Sorgen und Verpflichtungen zu erzählen. Er erging sich kritisierend über die letzten schweren Fälle. Ueber eine schwere Urkundenfälschung und eine Kindesunterschiebung kam er auf den Raubmord, begangen an der Witwe Schrader, zu sprechen.

»Hoffentlich doch wohl keine Verwandte von Ihnen? Ich meine, wegen der Aehnlichkeit der Namen? Ja, sehen Sie, da hat auch der Dummkopf, der Meißner, wieder schön danebengehauen! Verhaftet da einen alten Mann, der kaum kriechen kann und nebenbei in die Ermordete verliebt war wie ein Primaner, baut ein Kartenhäuschen von Scheinbeweisen zusammen und spielt sich als Sherlock Holmes auf. Dieser Schwachkopf, der sich einbildet, klüger zu sein, als ich! Aber, wenn ich das Geld erst gefunden habe und meine Belohnung von fünfzehn Mille, dann …«

Hastig war Schrader aufgesprungen.

»Welches Geld? Von welchem Gelde sprechen Sie?« Die Erregung des Mannes schien der wohlgefällig Dasitzende nicht zu beachten.

»Ach, das ist eine eigentümliche Geschichte. Der Mann der ermordeten Schrader hat nämlich vor zwölf Jahren auf dem Hamburger Friedhöfe in Ohlsdorf 150 000 Mark vergraben, die er seinem Chef gestohlen hatte, aber den Ort, die Bezeichnung des Versteckes hat man bis auf den heutigen Tag vergebens gesucht. – Was ist Ihnen denn?« fragte besorgt der Beamte.

»Mir? Gar nichts. Doch ja, ich habe eben an eine wichtige Verabredung gedacht, die ich beinahe vergessen hätte. Entschuldigen Sie, bitte, vielmals, aber ich habe keine Zeit mehr zu verlieren.«

Kopfschüttelnd schritt der so deutlich Hinauskomplimentierte die Treppe hinunter. Dann aber glitt ein Lächeln über seine Züge. Ein Griff nach dem Spitzbarte, und – Detektiv Witte rieb sich schmunzelnd sein bartloses Gesicht.


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