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Pessimisten behaupten, in Hamburg regne es bei jedem Wetter, aber auch der beste Schönmaler kann unmöglich die Behauptung aufstellen, es gäbe hier mehr schöne Tage als anderswo.
Besonders in den Straßen, die abseits von den großen Bogenlampen liegen, prägt der ewige Regen der Hafenstadt den schmucklosen Gebäuden einen düsteren Charakter auf. Nur selten lockt ein vereinsamtes Kaffeehaus mit Lichterglanz und ›Künstlerkonzert‹. Die Leute, die zur Nachtzeit eiligst mit hochgeschlagenem Kragen dahinwandern, haben ihr Vergnügen im Zentrum der Stadt oder in dem berüchtigten St. Pauli gehabt and streben nunmehr ihren Heimstätten zu, ohne ihrer Umgebung mehr Beachtung zu schenken, als unumgänglich nötig ist.
Ganz so eilig schien es der Mann nicht zu haben, der in der Nacht, die den beschriebenen Ereignissen folgte, trotz des strömenden Regens dahinschritt.
Den Kragen des nicht allzu modernen Ueberrocks hatte er hochgeschlagen und den Hut tief in die Stirn gedrückt. Trotzdem kaum mehr als die Nasenspitze aus der Vermummung hervorschaute, mußte er dennoch fürchten, von irgend jemand erkannt zu werden. Um den Polizisten, der verdrießlich die Straßenecke behütete, machte er sogar einen großen Bogen und fuhr erschrocken zusammen, wenn er Schritte hinter sich hörte. Der Mann in dem fadenscheinigen grauen Paletot schien das personifizierte böse Gewissen zu sein.
Immer zögernder wurden seine Schritte. Jetzt stand er vor einem Hause still und musterte scheuen Blickes seine Umgebung. Ringsum war's still, kein Mensch zu erblicken. Nur dem Hause gegenüber saß ein zerlumpter Mensch auf den Stufen der Treppe, der in dieser unbequemen Stellung schlief, unbekümmert um den Regen, der mit einer ewig klagenden Melodie sein Lied sang.
In dem Augenblick aber, als der stille Wanderer den Schlüssel in das Schloß steckte, verstummten die Schnarchtöne des anscheinend Obdachlosen, und seine Augen, die gar nicht so verschlafen aussahen, blinzelten scharf zu dem Manne hinüber, der jetzt die Haustür öffnete und blitzschnell dahinter verschwand. Der Schlüssel knirschte von innen und verschlang fast den Schall eines kurzen, grellen Pfiffes, den der Mann, schnell aufspringend, ausgestoßen hatte. Rasche, gedämpfte Schritte kamen näher – die Hunde hatten das Wild gestellt und ihm den Rückweg abgeschnitten.
Unhörbar schlich der Ahnungslose die Treppen empor, zitternd zusammenschreckend, wenn eine Diele knarrte. Jetzt stand er vor der Tür des dritten Stockes still. Der Schlüssel knarrte in dem rostigen Schlosse – er schlüpfte ins Zimmer.
»Franz!«
»Anna!«
Die beiden Rufe klangen ineinander und umschlossen eine Fülle von Klagen, Vorwürfen und Schuldbewußtsein. Wie anders standen sich jetzt die beiden gegenüber! Die müden, verhetzten, scheuen Züge des Mannes schienen nicht dem Gatten anzugehören, der mit einem Scherzworte auf den Lippen am Morgen von ihr Abschied genommen hatte. Aufschluchzend sank sie an die Brust des Verirrten.
»Fasse dich, Anna, die Zeit drängt. Alle unsere Tränen können das Ungeheuerliche nicht ungeschehen machen, und doch, wie gerne würde ich mein armseliges, verlorenes Leben dafür hingeben! Versuche, mich ruhig anzuhören, wir haben nicht viel Zeit vor uns.«
Die schwer geprüfte Frau sank auf einen Stuhl und sah dem Gatten zum ersten Male voll ins Gesicht. Schrader schlug die Augen zu Boden und sprach hastig weiter, um der furchtbaren Anklage seines Weibes nicht begegnen zu müssen.
»Anna, das Geld habe ich vergraben, als ich merkte, daß Lange verhaftet worden war. Ich habe eine kleine, eiserne Kassette gekauft und das Geld darin verpackt. Hier auf diesem Zettel steht die Angabe, wo du es findest. Den Ort sage ich dir noch. Nun, Anna, ich habe mein Leben daran gesetzt, das Geld für uns, für dich und unser Kind, das du mir schenken wirst, zu erlangen. Schwöre mir, Anna, bei Gott und dem Kinde, das du unter dem Herzen trägst, daß du das Geld nie der Polizei oder meinem Chef übergibst, dann will ich dem Unvermeidlichen mit Ruhe entgegensehen.«
»Franz, ich kann doch … Franz, du mußt fliehen, ehe es zu spät ist, die Polizei kann jeden Moment kommen! Ich weiß, das Haus wird bewacht. Mein Gott, vielleicht hat man dich schon gesehen, und kommt schon, dich zu holen! Franz, fliehe, wenn du mich liebst!«
»Nicht eher, Anna, als bis du mir geschworen hast. – Ich will nicht meine Haut nutzlos zu Markte getragen haben. Für mich ist es zu spät, aber du und das Kind … Schwöre mir, Anna!«
In das leidenschaftliche Flehen des Mannes klang plötzlich ein energisches Pochen.
»Schnell, Anna, höre zu!« Mit hastigen Worten flüsterte er ihr das Versteck des Geldes zu. Die Frau kniffte mit zitternden Händen das kleine kostbare Papier zusammen und verbarg es in einem Medaillon, das an ihrem Halse hing.
Mehrmals schon hatte es geklopft, laut, brutal, befehlend.
»Oeffnen Sie, oder wir sprengen die Tür!«
Ein kurzes Knirschen, die Tür sprang auf.
»Anna!« flehte der Verfolgte.
»Ich schwöre es dir, Franz!«
Mit zwei Schritten war Schrader am Fenster, das er aufriß.
»Franz Schrader, Sie sind verhaftet! Das Haus ist umstellt, Widerstand ist zwecklos,« sagte Kommissar Witte, der an der Spitze von zwei Beamten in das Zimmer trat.
Ein kurzes, höhnisches Lachen antwortete ihm.
»Leb' wohl, Anna!« Und ehe ihn die gierig zugreifenden Hände der Beamten hindern konnten, schwang sich der Unglückliche aus dem Fenster.
Ein dumpfer Fall – Franz Schrader hatte seine Schuld mit dem Leben bezahlt.
Mit schrillem, schmerzzerrissenem Aufschrei sank die zur Witwe gewordene zu Boden und wurde von den erschütterten Beamten zur Ruhe gebracht. Dann ging man, um nach dem Unglücklichen zu sehen, der zerschmettert vor dem Hause lag. Ein Beamter holte schleunigst einen Arzt, um der kranken Frau beizustehen, die dieser unglückselige Tag zur Witwe gemacht hatte. Die anderen warteten auf den Wagen der Unfallstation, den man schnell beordert hatte.
Der herbeieilende Arzt hatte für den Verunglückten nur einen Blick, der brauchte keine menschliche Hilfe mehr …