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»Der Mord an der Tegeler Landstraße!«
Spaltenlange Berichte brachten die Abendzeitungen.
Ist auch ein Mord in der Riesenstadt leider nichts Seltenes, so erregten doch die eigentümlichen Begleitumstände die Gemüter aufs heftigste. Eine arme Frau, die von einem überraschten Einbrecher erschlagen wird! Ein Mord, der um ein paar Pfennige verübt wird! Ein Gefühl banger Unsicherheit rieselte den Lesern über den Rücken. Wenn der Arme nicht einmal seines Lebens sicher ist, was hat da der Besitzende zu befürchten? Einigen Mut schöpfte man aus der Schlußnotiz, daß man dem Mörder auf der Spur sei, und seine Verhaftung nahe bevorstehe. Es wäre ja auch zu schrecklich gewesen, wenn die Polizei in einem solchen Falle wieder einmal versagen würde.
Man atmete wie befreit auf, als bei Einbruch der Nacht die Verhaftung des mutmaßlichen Mörders bekannt wurde. Die Entrüstung über den feigen Mörder war schon gemischt mit der Befriedigung, für die nächsten Tage jedenfalls neuen Gesprächsstoff zu haben.
Witte aber war fieberhaft tätig auf der Suche nach dem wahren Mörder.
Hugo Lange war kaum wieder zu erkennen. Die eine Nacht, die er unter der furchtbaren Anklage im Gefängnis zugebracht hatte, hatte ihn ganz gebrochen. Glanzlos ruhten seine Augen auf dem Untersuchungsrichter und hellten sich nur für einen Moment auf, als sie den ermunternden Blicken Wittes begegneten.
Der Untersuchungsrichter eröffnete das Verhör mit den üblichen Vorfragen nach den Personalien, die der Protokollführer eifrig notierte. Dann kam er auf den Mord zu sprechen.
»Sie leugnen nicht, in der Mordnacht vor dem Fenster der Frau Schrader in der Zeit von acht bis halb neun Uhr gestanden zu haben. Aus welchem Grunde hielten Sie sich dort auf, Angeklagter?«
Zögernd gab der alte Mann Antwort. Er habe einen Streit mit Frau Schrader gehabt und sei im Bösen von ihr gegangen. Das Gefühl seines Unrechtes habe ihm aber keine Ruhe gelassen, und er sei vorgestern abend zu ihr gegangen in der Absicht, die beleidigte Frau um Verzeihung zu bitten. Eine ganze Weile habe er nun bei dem strömenden Regen vor dem Fenster gestanden, habe aber doch keinen Mut fassen können und sei wieder fortgegangen, was er jetzt von ganzem Herzen beklage.
»Sie sind dann also von dort aus direkt nach Hause gegangen?«
»Ja, direkt.«
»So, und dann haben Sie Ihrer Aussage nach Nasenbluten bekommen, so hübsch zur rechten Zeit!«
»Herr Untersuchungsrichter!« brauste der Gequälte auf, verstummte aber kleinlaut, als er dem mißbilligenden Blicke Wittes begegnete.
»Nun, nun, keine unnötige Erregung, lieber Freund,« sagte der Richter scharf. »Sie werden dieses Märchen vor den Geschworenen nicht aufrecht erhalten können. Sie haben also, Ihrer Aussage nach, Ihre Wohnung nach neun Uhr nicht verlassen?«
»Nein, Herr Untersuchungsrichter.«
»So, so. – Schlafen Sie mit Ihrem Sohne in einem Zimmer?«
»Nein. Mein Sohn wünschte es nicht, da er öfter morgens zeitig zur Arbeit mußte und abends häufig spät ausblieb. Er mochte mich nicht im Schlafe stören.«
»Wie liegen die Zimmer?«
»Neben der Eingangstür schläft mein Sohn, dem Zimmer gegenüber liegt die Küche. Neben der Küche ist mein Zimmer, neben dem meines Sohnes das Wohnzimmer.«
»Sie konnten also die Wohnung betreten oder verlassen, ohne durch das Schlafzimmer Ihres Sohnes hindurchgehen zu müssen?«
»Ja, aber …«
»Antworten Sie, bitte, nur auf meine Fragen. – Was geschah in der Mordnacht? Wie lange blieben Sie auf?«
»Ich legte mich auf Zureden meines Sohnes sofort nach meiner Rückkunft zu Bett, konnte aber nicht gleich einschlafen. Mein Sohn war auch müde und suchte sein Zimmer etwa eine halbe Stunde später auf.«
»So, das klappte ja vorzüglich. Sie konnten also die Wohnung wieder verlassen, was Sie gegen zehn Uhr auch taten, ohne daß Ihr Sohn das geringste davon merkte!«
»Ich habe mein Bett nicht vor neun Uhr morgens verlassen,« verteidigte sich der Beschuldigte.
»Nun, wir sind darüber anderer Meinung und werden Ihnen auch noch diese Beweise liefern – Nun erzählen Sie uns mal, warum Sie sich mit der Ermordeten gestritten und sogar die Hand gegen sie mit einer Drohung erhoben haben.«
Erstaunt blickte Lange auf den Fragenden.
»Woher wissen Sie das?«
»Wir wissen alles. Die kleine Eva, das arme Kind der Ermordeten, hat uns die Szene genau geschildert. Herr Referendar, wollen Sie, bitte, die Aussage der kleinen Schrader verlesen,« wandte er sich an den protokollierenden Beamten.
»Was haben Sie dazu zu bemerken, Angeklagter?«
»Ich gebe das zu, und kann nur sagen, daß ich es tausendmal bitter bereut habe.«
»Das will ich Ihnen aufs Wort glauben, Lange, denn Sie können sich wohl denken, daß das der erste Fingerzeig war, der auf Sie wies. Warum aber drohten Sie der Frau? Was verlangten Sie von ihr?«
Erwartungsvoll schauten die Herren auf den Bedrängten, selbst Witte wandte sich um, nachdem er bisher anscheinend uninteressiert aus dem Fenster gesehen hatte.
»Darauf verweigere ich die Aussage.«
»Sie verweigern die Aussage?«
»Sehr klug, mein Herr Lange. Nun, Sie stehen ja nicht zum ersten Male vor dem Richter!«
»Herr Untersuchungsrichter, Sie haben nicht das Recht, mir meine Vergangenheit zum Vorwurf zu machen. Ich habe mich einmal gegen die Gesetze vergangen und habe die Strafe dafür abgebüßt.«
»Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie vor Ihrem Richter stehen und sich hier absolut nichts zu verbitten haben, verstehen Sie? Es kommt Ihnen nicht zu, sich in dieser Sprache hier zu verteidigen. Geben Sie die Antworten, die man von Ihnen verlangt und enthalten Sie sich aller Aeußerungen, die nicht hierhergehören und die Ihnen absolut nicht zukommen. Sie sind eines Mordes angeklagt und täten gut daran, sich der Gnade und Nachsicht Ihrer Richter wert zu machen, indem Sie ein offenes Geständnis ablegen. Sie verwirken sich sonst von vornherein alle mildernden Umstände, die vielleicht für Sie sprechen könnten.« Der Richter hatte sehr erregt gesprochen und fuhr sich jetzt kühlend mit dem seidenen Taschentuche über die Stirn. »Also, Sie bestehen auf Ihrer Weigerung, meine Frage zu beantworten?«
»Ja.«
»Gut. Wir werden das auch ohne Sie ausfindig machen. Ihre Vergangenheit wird uns schon auf die richtige Spur leiten!«
Ahnungslos hatte der Untersuchungsrichter das Richtige getroffen. Ein erschrockenes Zusammenfahren bewies das dem scharf beobachtenden Witte.
»Sie wollen also nicht zugeben, daß Sie Frau Schrader vorgestern nacht mit diesem Werkzeuge ermordet haben, nachdem Sie mit demselben Instrumente den Schreibtisch erbrachen?«
»Nein. Ich habe den Mord nicht begangen und hätte die arme Tote mit meinem Leibe geschützt, wenn mir dies möglich gewesen wäre!«
»Sie bleiben also bei Ihrem Leugnen und lassen sich erst Schritt für Schritt überführen, wenn Sie Ihr Lügengebäude zusammenstürzen sehen? Gut. – Hatten Sie einen Schlüssel zum Hause der Frau Schrader?«
»Nein, wie sollte ich auch wohl dazu kommen?«
»Schön. Führen Sie den Mann ab,« befahl er dem an der Tür stehenden Schutzmann.
Ein hilfeflehender Blick flog zu Witte hin, der ihn aufmunternd erwiderte, dann verließ der Gefangene mit seinem Wärter das Zimmer.
»Herr Kommissar Meißner,« wandte sich der Untersuchungsrichter an den Beamten, »Sie werden sich bereithalten, da ich in einer Stunde an Ort und Stelle einen Lokaltermin abhalten werde. Der Gefangene ist mit genügender Bedeckung dorthinzuführen. Herr Witte, wenn Sie Interesse an dem Fall haben, können Sie sich uns anschließen. Aber, ich vermute, daß Ihr Vertrauen zu der Unschuld des Schäfleins, das Sie zu behüten unternommen haben, bedenklich ins Wanken geraten ist, wie?« Erwartungsvoll schaute er auf den Detektiv, dessen Ansicht ihm wertvoller war, als die seiner Beamten.
»Ich kann mein Urteil nicht so schnell abgeben,« wich der Gefragte diplomatisch aus. »Die Untersuchung befindet sich ja erst im ersten Stadium.«
»Nun, Sie werden sehen, lieber Witte, daß Sie sich diesmal auf dem Holzwege befinden, wenn Ihre Meinung über die Schuld des Verhafteten von der unsrigen abweichen sollte. Na, deshalb keine Feindschaft, lieber Freund. Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze. Also, wenn Sie Lust haben, uns zu begleiten, so erwarte ich Sie in einer Stunde. Auf Wiedersehen!«