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Witte hinterließ für Eva einen Zettel, daß er schon in aller Frühe habe verreisen müssen, dem Hans Lange teilte er mit, die endgültige Verhaftung des wirklichen Mörders stehe nahe bevor. Gleichzeitig bat er ihn, bis zu seiner Rückkunft gegen zehn Uhr abends der kleinen Eva Gesellschaft zu leisten.
Auch sein Bureau benachrichtigte er und fuhr dann mit dem Schnellzuge nach Hamburg. Hier hatte er mit einigen früheren Kollegen eine längere Besprechung, wobei ein Plan des Friedhofes in Ohlsdorf eine Rolle spielte. Dann ließ er sich die Personalakten des Handlungsgehilfen Rudolf Schrader vorlegen und vertiefte sich in dessen Sündenregister.
Mit dem ›Börsenzuge‹ fuhr wieder zurück und war Punkt zehn wieder in Berlin. Dem aufhorchenden Hans Lange, der ihn sehnsüchtig erwartet hatte, zeigte er die Kopie jenes unseligen Planes, dessen Besitz der armen Anna Schrader das Leben gekostet hatte, und erläuterte dessen Bedeutung.
»Vor meinem Auge stand das Bild des feigen Mörders, der seinem Opfer bis zu ihrem Grabe folgte, und plötzlich tauchte der Gedanke in mir auf, Schrader könne das Geld auf dem Ohlsdorfer Friedhöfe in Hamburg vergraben haben. Er hatte auf dem Hauptbahnhofe die Verhaftung seines Komplizen beobachtet und war dein gleichen Schicksale nur mit knapper Not entgangen. Er sah, daß der Diebstahl entdeckt war, und er seiner Verhaftung auf die Dauer nicht entgehen konnte. Was tun? Sollte er das Geld, für das er Ehre und Freiheit gewagt, seinen Verfolgern ausliefern? Nein, nimmermehr. Mochte sein Leben zugrunde gehen, das Geld mußte seiner Frau und seinem Kinde erhalten bleiben. Aber wie? Er mußte es an einen Ort bringen, wo man es nicht finden konnte, wenn man keine genaue Bezeichnung besaß. Was lag da näher als der Friedhof, auf welchem seine erste Gattin begraben lag? An diesem Grabe durfte er es nicht verbergen, denn da konnte man eventuell nachsuchen. Planlos streift er auf dem großen Friedhöfe umher. Dem regnerischen Tage folgte eine stürmische Nacht. Der Friedhof ist menschenleer. Jetzt schnell ein Loch gegraben, was keine Schwierigkeiten macht, denn die weiche Erde ist nachgiebig, und Schrader wird sich! mit einer kleinen Schaufel versehen haben. Die Banknoten hat er gewiß in eine eiserne Kassette getan. Die Angaben ›A. D. 6 V. 264‹ bezeichnen das Grab und die darunter stehende Zeichnung verrät die genaue Stelle, wo das Geld vergraben liegt. Sie sehen hier am oberen Ende deutlich ein Kreuz und hier unten rechts ein anderes kleines Zeichen. Das bedeutet, daß wir das Versteck an dem unteren rechten Ende des oben bezeichneten Grabes zu suchen haben, denn das Kreuz auf dem Grabstein bedeutet das Kopfende des Grabes. Ist Ihnen das klar? Ich werde morgen, in passender Verkleidung natürlich, zu Rudolf Schrader gehen, und ihn, anscheinend absichtslos, auf die richtige Idee der Bedeutung des Planes bringen. Ich wette, daß er nichts Eiligeres zu tun haben wird, als nach Hamburg zu fahren, um den Schatz zu heben. Dort wird er dann von Polizeibeamten in Empfang genommen werden. Die Falle ist heute von mir gestellt, morgen besorge ich den Speck für unser Mäuschen, und morgen abend klappt die Falle zu.«
»Verzeihen Sie, Herr Witte, aber ist es nicht bedenklich, den Mörder noch bis morgen abend in Freiheit zu belassen? Vielleicht schöpft er aus irgendeinem Grunde Verdacht – schon durch das Verschwinden Evas! Ist es nicht besser, wenn Sie sich seiner gleich versichern?«
»Nein, junger Freund, das geht nicht. Wenn wir auch fest überzeugt sind, daß Schrader der Mörder seiner Stiefmutter ist, so reichen doch die schwachen Beweise nicht aus, ihn zu überführen. Der Kerl hat doch sicher für sein Alibi gesorgt. Wenn wir ihn aber in dem Augenblick überraschen, in welchem er sich die Früchte seiner unseligen Tat aneignen will, so glaube ich, wird ihm die Ueberraschung ein Geständnis entlocken. Lassen Sie es meine Sorge sein, den Verbrecher in Sicherheit zu wiegen. Ich werde ihm das Verschwinden der kleinen Eva plausibel machen, und er wird froh sein, die unbequeme Göre los zu sein. Entwischen kann er uns nicht, denn er steht seit Montag unter genauer Beobachtung. – So, nun werde ich schlafen gehen, morgen ist ein schwerer Tag für mich. Leben Sie wohl, hoffentlich können Sie übermorgen Ihren lieben Vater hier begrüßen.«