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15. Kapitel.
Der gefundene Plan.

Detektiv Witte stand an der Ecke der Invaliden- und Chausseestraße und wartete auf Eva, die ihm mitgeteilt hatte, wo sie zur Schule ging und wann sie dieselbe verließ. Er war etwas zeitig gekommen, weil er fürchtete, sie sonst zu verfehlen. Geduldig wartete er, endlich kam Eva, und ein Freudenstrahl huschte über ihr blasses Gesichtchen, als sie seiner ansichtig wurde. Witte bog schnell in die Invalidenstraße ein und betrat mit ihr eine kleine Konditorei, deren einziges Hinterstübchen zurzeit vollkommen leer war. Er bestellte für sich ein Glas Bier und für Eva eine Schokolade. Dann erstattete das kleine Leckermäulchen mit wichtiger Miene ihren Bericht. Wo und unter welchen Namen der Verbrecher hauste, war dem Detektiv ja bekannt. Schrader hatte der kleinen Eva befohlen, sich gegen jedermann als seine Nichte zu bezeichnen und ihr in roher Weise gedroht, falls sie seinem Befehle nicht Folge leiste. Dann konnte sie dem Detektiv freudestrahlend über das Medaillon Auskunft geben. Sie hatte es flüchtig in der Brieftasche ihres Stiefbruders gesehen und hatte sich, wie sie lebhaft versicherte, nichts davon merken lassen.

»Du weißt bestimmt, daß es dasselbe Medaillon war, das deine Mutter ständig getragen hatte?«

»Ganz bestimmt,« erwiderte die Kleine. »Ich kann mich nicht täuschen, denn ich habe es ja immer bei meiner armen, toten Mutter gesehen und es tausendmal selbst in der Hand gehabt.«

»Schön, mein Kind. Hast du sonst noch etwas beobachtet?«

»Nein, weiter nichts. Doch ja! Rudolf sitzt fast, den ganzen Tag am Tisch und stiert auf einen kleinen Zettel, der schon sehr alt sein muß, denn er ist ganz gelb. Und dann schlägt er wütend auf den Tisch und steckt den Zettel ein, um ihn nach einer Weile wieder herauszuholen. Ich wollte gestern abend einmal sehen, was daraus stand, aber Rudolf steckte ihn schnell in die Tasche und schrie mir zu, ich sollte mich in acht nehmen. Wenn ich meine Neugierde nicht bezähmen könne, wollte er mich einsperren. Ach, lieber Herr Witte, nehmen Sie mich doch bald wieder weg, ich fürchte mich so vor Rudolf!« schloß sie mit Tränen im Auge.

»Noch ein paar Tage, liebes Kind, mußt du aushalten. Dann sollst du aber immer bei mir bleiben und Hans kommt recht oft, dich zu besuchen,« beruhigte er die Kleine.

»Hast du gesehen, wo dein Bruder den Zettel aufbewahrt?« forschte er wieder.

»Ja, den steckt er auch immer in seine Brieftasche.«

»So, nun merke einmal gut auf, Eva. Wenn du alles genau so tust, wie ich es dir sage, so sollst du. recht bald von Rudolf wegkommen. Hier hast du ein kleines Pulver. Verwahre es gut, daß du es nicht verlierst. Du mußt nun versuchen, dieses Pulver deinem Bruder irgendwo hineinzuschütten, wo er es bestimmt austrinkt. Gibt es dafür eine Möglichkeit?«

»Ja, ich habe gestern und vorgestern abend für Rudolf immer einen großen Krug Bier holen müssen. Da unten, aus der ekligen Kneipe, ich fürchte mich immer hineinzugehen.«

»Nun, das soll bald vorbei sein. Nun paß schön auf: Wenn du also heute abend wieder Bier holst, bann schüttest du auf der Treppe, wenn es niemand sieht, das Pulver hinein. Du tust dann, als ob du zu Bett gingest, bleibst aber auf jeden Fall wach. Nach einer halben Stunde etwa wird Rudolf fest einschlafen. Wenn du überzeugt bist, daß er schläft, dann klopfst du dreimal gegen die Korridortür. Wenn ich dann ebenso zurückklopfe, dann öffnest du leise die Tür und läßt mich ein. Hast du alles verstanden?«

Eva bejahte nickend.

»Nun gut, Eva, davon hängt sehr viel ab, für dich und für Hans. Nun geh' hübsch nach Hause und laß dir nichts merken. Kein Wort, daß du mich getroffen hast, verstanden?«

Eva versicherte, daß sie alles gut behalten und befolgen werde.

Gegen neun Uhr lungerte der in der Verkleidung eines Bummlers steckende Detektiv in der Novalisstraße umher, das Haus Nummer **** unter unauffälliger Beobachtung haltend. Bald erschien Eva vor der Tür und verschwand, sich furchtsam umblickend, mit einem Bierkruge in der fragwürdigen Kneipe, die sich im Hause befand. Witte suchte die Destille auf, und ließ sich ein Glas Bier geben. Als die Wirtsuhr auf ein Viertel vor Zehn wies, verließ er stolpernd das Lokal und strebte geradenwegs dem bewußten Hause zu, in welchem er verschwand. Leise stieg er die Treppen des baufälligen Hinterhauses empor und blieb endlich vor einer Tür des dritten Stockes stehen, an welchem ein kleines Papierschild mit dem Namen ›Winter‹ befestigt war.

Er brauchte nicht lange zu warten. Es waren knapp fünf Minuten vergangen, als Eva das verabredete Zeichen gab. Witte nahm schnell Mütze und Perücke ab, um die Kleine nicht zu erschrecken, dann klopfte er seinerseits an die Türe, die sich daraufhin sofort öffnete. Die Tür war gut geölt und knarrte nicht und gleich einem Schatten, huschte der Detektiv hinein. Im Korridor, der eng und finster war, ergriff er Evas Hand.

»Schläft er?« flüsterte er der Kleinen zu.

»Ja,« hauchte sie zurück.

»Wo?«

»Dort!« Die zitternde Hand des Kindes wies auf die gegenüberliegende Tür. Vor den Augen des verwunderten Mädchens vervollständigte er seine Verkleidung wieder, empfahl dem Kinde lautloses Schweigen an und öffnete vorsichtig die. Tür, die ihn von dem Verbrecher trennte. Es bedurfte der Vorsicht nicht, denn Schrader schlief fest. Er saß auf einem Stuhle. Der Kopf lag auf seinen Armen, und diese auf dem Tisch vor ihm; röchelnde Schnarchtöne drangen aus dem geöffneten Munde hervor. Witte machte keine halbe Arbeit. Erst, als er sich durch Rufen und Rütteln von der Unschädlichkeit des Bewohners überzeugt hatte, wendete er sich Eva zu, die zitternd und fluchtbereit an der Tür stand. Er winkte sie herbei und befahl ihr halblaut, den Bierkrug, der geleert vor dem Schlafenden stand, gründlich auszuspülen. Dann griff er dem Besinnungslosen mit geübtem Griff in die Tasche und zog dessen Brieftasche hervor. Das erste, was ihm entgegenfiel, war das Medaillon. Der Beschreibung nach erkannte er es sofort. Es bestand in einem kleinen goldenen Herzchen, dessen obere, erhabene Seite mit einem kleinen Saphir geschmückt war. Als er es öffnete, schaute ihm die Photographie eines etwa vierzigjährigen Mannes entgegen, dessen Aehnlichkeit mit dem hilflos vor ihm Sitzenden unverkennbar war. Es stellte den Vater Schraders vor.

Sollte er nun dieses wichtige Beweisstück wieder zurücklegen, nachdem er es endlich in Händen hielt? Aber die Vernunft siegte über sein spontanes Verlangen. Er durfte den Mörder nicht stutzig machen und sein Mißtrauen wachrufen. Schnell, als wollte er neuerlichen Bedenken zuvorkommen, legte er es zurück. Nach langem Suchen fand er endlich in einer kleinen Seitentasche den winzigen, vergilbten Zettel, dessen Besitz dem Mörder mehr wert war, als das Leben der Mutter Evas, der zweiten Frau seines Vaters. Erwartungsvoll entfaltete der Detektiv das Papier, fühlte sich aber im höchsten Grade enttäuscht. Mit Bleistift flüchtig hingeworfene, halb verwischte Zahlen und Buchstaben und eine rohe Zeichnung, die dem Uneingeweihten absolut keine Aufklärung gab, das war das ganze Geheimnis, das das Vermächtnis des toten Defraudanten enthielt. Schnell kopierte er den Inhalt des Zettels in sein Notizbuch: A. D. 6 V. 264.

Es war kein Wunder, daß Schrader, wie die kleine Eva berichtet hatte, stundenlang dabei zubrachte, den Inhalt des Planes zu entziffern, und er fühlte, daß ihm die Aufklärung der Bedeutung desselben gleichfalls viel Kopfschmerzen verursachen würde. Momentan war jedenfalls nichts weiter zu erreichen. Er steckte den Plan darauf in die Brieftasche zurück und brachte sie wieder in der rechten Brusttasche des Ahnungslosen unter. Dann stellte er die vorherige Ordnung gewissenhaft wieder her und winkte der Kleinen, die seine eigenartige Tätigkeit klopfenden Herzens verfolgt hatte, mit ihm das Zimmer zu verlassen. Auf dem halbdunklen Korridor nahm er Eva bei der Hand und teilte ihr mit, daß sie nun nicht mehr bei Schrader bleiben würde.

»Wenn du morgen aus der Schule kommst, gehst du gleich nach der Ecke, an der wir uns heute getroffen haben. Dort warte ich mit meinem Auto auf dich und werde dich wieder in mein Haus bringen. Jetzt gehst du artig zu Bett und schläfst gut aus. Ich brauche dir wohl nicht erst zu sagen, daß Rudolf nichts von meinem Besuche wissen darf?«

Das freudestrahlende Kind versicherte ihm, daß es sicher keine Minute schlafen werde und mit Ungeduld den nächsten Tag herbeisehne. Dann drückte ihr der menschenfreundliche Detektiv die Hand und stieg die dunkle Hintertreppe hinab, von einem heimkehrenden Ehepaare mißtrauischen Blickes verfolgt. Am Oranienburger Tor bestieg er ein Auto, nachdem er den mißtrauischen Chauffeur über seine Persönlichkeit aufgeklärt hatte, und langte zwanzig Minuten später in seiner Wohnung an. Schnell zog er sich um und vertiefte sich in die Kopie des geheimnisvollen Planes, die den Ort angeben sollte, an welchem seit zwölf Jahren der große Geldschatz liegen sollte. Der Zeiger der emsig tickenden Uhr wies die dritte Stunde, als Witte endlich seufzend das nutzlose Grübeln aufgab. Unmutig legte er sich zu Bett und versuchte einzuschlafen. Aber die mystischen Zahlen tanzten vor seinen Augen und verscheuchten den Schlaf. Lange lag er so. Vor seinem geistigen Auge rollte sich der ganze Fall noch einmal auf.

»Ha!« fuhr er plötzlich auf. »Sollte es möglich sein? Sollte ihn sein grübelnder Geist ganz zufällig auf die rechte Fährte gebrachst haben?«

Es hielt ihn nicht mehr im Bette. Seltsam erregt, sprang er auf, nahm wieder den geheimnisvollen Plan vor und holte sich! endlich einen Plan von Hamburg herbei. Ein kurzes Sinnen, ein sekundenlanges Berechnen der Möglichkeiten, dann blitzte es freudig in seinem Auge auf. Kein Zweifel, er hatte die Lösung. Was ihm stundenlanges Sinnen und Grübeln nicht gebracht, enthüllte ihm eine kühne Gedankenverbindung!

Jetzt erst konnte er schlafen.


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