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Es war vier Uhr vorbei, als die Mordkommission den Schauplatz des Verbrechens verließ. Kriminalkommissar Meißner verabschiedete sich und bestieg die elektrische Bahn, die ihn in kürzester Zeit nach dem Polizeipräsidium beförderte. Dort ließ er sich die Personalakten über Lange reichen, in die er sich vertiefte.
»Lange, Hugo, geboren am 26. August 18... in Wandsbeck bei Hamburg. Früher Kassenbote. Zugezogen von Hamburg am 1. April 19... Bestraft: Drei Jahre wegen Unterschlagung,« murmelte er vor sich hin. »Also, Unterschlagung. Hm, mein Herr Lange, es wird Zeit, daß wir näher bekannt miteinander werden. Mir scheint es, als ob ich den Strick für Sie schon in der Tasche habe!«
Eiligst verließ er das Gebäude, um sich dem Norden Berlins wieder zuzuwenden.
*
Hugo Lange hatte nach Verbüßung seiner Strafe keine Ruhe mehr in Hamburg. Als er nun erfuhr, daß Frau Schrader, die Witwe seines ehemaligen Kollegen, sich in der Reichshauptstadt niedergelassen hatte, übersiedelte er gleichfalls nach Berlin. Sein Sohn Hans, der die Kunstschlosserei gelernt hatte, bekam von seinem Hamburger Meister einen Empfehlungsbrief an eine Berliner Firma, auf Grund dessen er sofort eingestellt wurde. Der intelligente junge Mann verstand es bald, durch seine Nüchternheit und sein anstelliges Wesen sich bei seinem Brotherrn ebenso beliebt zu machen, wie bei seinen Kollegen. Als er nun noch der Fabrik, in der er tätig war, durch sinnreiche Verbesserungen an den von derselben als Spezialität vertriebenen Geldschränken einen erhöhten Absatz verschaffte, wäre der Fabrikant am Ende gar nicht abgeneigt gewesen, den tüchtigen Mann durch zarte Bande dauernd an sich zu fesseln. Seine hübsche Tochter Marie hatte an dem stattlichen Gehilfen ihres Vaters, der mittlerweile zum Meister avanciert war, gleichzeitig großes Gefallen gefunden, und so hätte dem Glücke Hans' nichts im Wege gestanden – als sein eigener Wille.
Obwohl aber der Fabrikant durch scherzhaft sein sollende Andeutungen dem jungen Manne die Erklärung sehr nahe legte, stellte sich Hans gegen solche blind und taub. Daß die Tochter seines Brotherrn sich öfter als unumgänglich notwendig mit seiner Person beschäftigte, schien er nicht zu bemerken. Still und unermüdlich tat er seine Pflicht und lehnte die Einladungen des Fabrikanten stets ab mit dem Bemerken, die Abendstunden wären ihm unentbehrlich zu seiner Fortbildung. Der rastlos Strebende beschäftigte sich tatsächlich außer mit seinen Erfindungen und Plänen noch mit dem Studium der englischen Sprache, denn sein Plan war, seine Kenntnisse in England zu erweitern und zu ergänzen. Ein einziges Mal hatte er die Einladung seines Chefs angenommen, aber eine nach seinem Gefühl zu undankbare Rolle gespielt und war seitdem den Privaträumen des Fabrikanten ferngeblieben.
Zweierlei war es, was ihn dazu bewog, von einer Bewerbung um Marie Stelling abzusehen. Erstens fürchtete er, die Vergangenheit seines Vaters möchte durch einen Zufall bekannt werden und ihn als Sohn eines Sträflings bloßstellen, und dann brachte er der hübschen Tochter seines Chefs auch nicht die geringste Neigung entgegen. Sein Vater hatte ihm oft zugeredet, ihm doch bald eine Schwiegertochter zuzuführen. Aber Hans sagte lachend darauf: »Ich warte auf Eva.« Der Vater nahm es natürlich als Scherz auf, denn der Gedanke, daß der stattliche junge Mann auf sie wartete, war ja doch zu absurd, um ernst genommen zu werden. Wie dem auch sei, eins war sicher, daß die einzige Zerstreuung, die der junge Mann suchte, das kleine Häuschen der Witwe Schrader war. Jeden Sonntag saß er in dem sauberen Stübchen der fleißigen Frau, und konnte nicht müde werden, das Geschwätz der kleinen Eva anzuhören. Daß die Befürchtungen betreffs der Vergangenheit seines Vaters keine grundlosen waren, hatten sie ja bald erfahren müssen.
Der alte Lange hatte sich nach seiner Ankunft in Berlin nach einem Broterwerb umgesehen und endlich eine Stellung als Hausdiener in einem Kaufhause gefunden. Als man indessen zufällig erfuhr, daß Lange im Gefängnis gesessen hatte, setzte man den Mann, der ihnen zwei Jahre hindurch keinen Grund zur Klage gegeben hatte, mitleidlos auf die Straße. Verbittert klagte er seinem Sohne das neue Unglück, Hans aber sagte energisch, der Vater solle zu Haus bleiben und die kleine Wirtschaft versehen, er verdiene genug für sie beide. Da der Vater eine Wiederholung der beschämenden Szene befürchtete, wenn er eine neue Stellung suchte, und die lange Haft seine Gesundheit zudem bedenklich angegriffen hatte, befolgte er den Rat seines Sohnes und befand sich wohl dabei. Gleich einer tüchtigen Hausfrau versah er die kleine Wirtschaft, hielt alles sauber imstande und kochte sogar die einfachen Mahlzeiten, die sein Sohn anspruchslos mit ihm teilte. Wenn ihn sein Rheumatismus, den er sich im Gefängnisse geholt hatte, nicht zu sehr plagte, bewaffnete er sich wohl des Abends mit seiner langen Pfeife und wanderte zu Frau Schrader. Außer dem Verlangen nach Geselligkeit trieb ihn noch ein anderer Grund dorthin. Wie er durch seinen Sohn erfahren, hatte die fieberkranke Frau seinerzeit in ihren Phantasien oft von einem Plane gesprochen, von vergrabenem Gelde und einem Schwur, und Lange hatte mit seinen Mutmaßungen, die er daran knüpfte, so ziemlich die ganze Wahrheit erraten. So sehr er aber auch die Frau bat, ihm alles zu sagen, Frau Schrader blieb fest, sogar seinen Drohungen gegenüber, zu denen er sich neuerdings hatte hinreißen lassen. Ihm persönlich hätte nicht so viel an dem Sündengelde gelegen, aber seinem Sohne Hans hätte er damit gern die Mittel zur Gründung einer eigenen Existenz verschafft. Nicht einen Augenblick erwog er dabei die Frage, ob sein Sohn überhaupt zu bewegen gewesen wäre, das unterschlagene Geld als sein Eigentum anzusehen. Er war ärgerlich über die starrköpfige Frau. Sein gutes Recht war es doch, die Hälfte der gestohlenen Summe für sich zu beanspruchen. Hatte er nicht genug gebüßt dafür mit seiner Freiheit, seiner Existenz und seiner Gesundheit? Alles hatte er dahingeben müssen dafür und nun wollte ihm die fanatische Frau seinen Anteil an dem Raube vorenthalten! Was quälte sie sich überhaupt so um ihr bißchen Leben ab, da sie es doch nicht nötig hatte, weil sie doch Reichtümer genug in der Erde wußte, um ruhig und bequem zu leben und ihres Kindes Zukunft sicherzustellen? Kein Mensch konnte es ihm verdenken, wenn ihm da einmal die Galle überlief, und er der Frau heftiger entgegengetreten war, als selbst in seiner Absicht gelegen hatte. Sein größter Aerger war, daß er am meisten bei dem Konflikte mit der heimlich verehrten Frau, deren stilles, entsagungsreiches Heldentum ihm den größten Respekt abzwang, verlor. Jetzt konnte er doch der Frau nicht mehr mit seinen Besuchen zur Last fallen, nachdem er sich in ihrer eigenen Wohnung hatte zu Drohungen hinreißen lassen. Er war zu ärgerlich. Und Hans litt auch darunter, das sah er, wenn Hans auch kein Wort verlauten ließ. Er konnte es dem forschenden Sohne natürlich nicht verbergen, warum er seine Besuche bei Frau Schrader, seine liebste Erholung, eingestellt hatte.
*
Hans machte ihm natürlich Vorwürfe über sein unverantwortliches Betragen der stillen Frau gegenüber und schwor, von dem Sündengelde nicht einen Pfennig zu nehmen und wenn sich Frau Schrader auch zehnmal veranlaßt sehen würde, das Geld von selbst herauszugeben. Das Geld gehöre weder ihm, noch Frau Schrader, sondern dem Bestohlenen, und wenn sich Frau Schrader durch ihren Eid gezwungen sähe, dasselbe dem Besitzer vorzuenthalten, so sei das ihre Sache, und es sei sehr anzuerkennen, daß sie das Geld nicht berühre, sondern sich ihren Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit verdiene. Unrecht sei es von ihm, Lange, einen Druck auf die brave Frau auszuüben und seine Sache sei es, durch eine Abbitte die beleidigte Frau zu versöhnen. Das hätte ja nun Lange auch gern getan, aber er wußte nicht recht, wie er es anstellen sollte und verschob es immer auf den nächsten Tag.
So weit waren die Dinge gediehen an dem Tage, an welchem Frau Schrader einen gräßlichen Tod durch Mörderhand erleiden sollte.