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Kriminalkommissar Meißner stand einen Augenblick überlegend vor dem Hause still, dann kletterte er mutig die drei Treppen empor, die ihn noch von dem Verdächtigen trennten. Er mußte zweimal die Klingel in Bewegung setzen, ehe er Langes Pantoffel durch den Korridor schurren hörte. Befremdet stand jetzt Lange vor dem unbekannten Besucher.
»Herr Hugo Lange?« fragte Meißner.
»Woll, woll,« sagte Lange, »bin ich selbst.«
»So –« sagte Meißner und schritt, ohne ein Wort weiter zu verlieren, an Lange vorüber in das offenstehende Wohnzimmer.
»Ja, wer sind Sie denn? Was soll denn das heißen, hier so ohne weiteres einzudringen? Was wollen Sie denn?«
Lakonisch schlug der Beamte den Rock zurück.
»Kennen Sie das?«
Vor dem nur zu bekannten Abzeichen des Kriminalbeamten wich der alte Mann erschreckt zurück, und dem erfahrenen Beamten entging es nicht, daß Lange ein nervöses Zittern zu unterdrücken suchte.
Endlich hatte sich der Erschreckte gefaßt.
»Und was verschafft mir das Vergnügen?«
»Sie wissen also nicht, warum ich hier bin?«
»Ja, woher soll ich denn das wissen?«
»So, so, Sie haben also ein ganz reines Gewissen, wie?«
»Ja, wenn Sie nicht die alte Sache mit Schrader meinen?«
»Die alte Sache mit Schrader?«
Das kam dem Kommissar ganz unerwartet. Der Fall war ihm natürlich gänzlich unbekannt, da sich derselbe in Hamburg abgespielt hatte. Das war ein neues Glied in der Kette.
»Na, kommen Sie nicht wegen der 150 000 Mark, die ich damals mit Schrader zusammen …«
»Unterschlagen hatten –«
Das also war's! Der Mann der Getöteten war der Komplize des vor ihm Stehenden gewesen, und nun hatte die alte Schuld ein neues Verbrechen geboren. Der Fall nahm eine neue, ungeahnte Wendung.
»Ja, aber die Sache ist doch erledigt. Ich habe meine Strafe verbüßt. Was will man denn noch von mir?«
»Wo waren Sie gestern abend?« fragte der Beamte statt aller Antwort.
»Gestern abend? Zu Hause. Wo soll ich denn sonst gewesen sein?«
Der Mann log, das konnte ein Kind merken.
»Zeigen Sie mir mal Ihre Stiefel!«
»Ja, aber ich möchte doch bitten …«
»Keine Ausreden, bitte! Unten stehen zwei Schutzleute. Soll ich sie heraufrufen?«
Der eingeschüchterte alte Mann wagte keinen Widerspruch mehr. Fast willenlos holte er seine Stiefel aus der Ecke und hielt sie dem Kommissar hin.
»Hatten Sie die gestern abend an?«
Lange nickte nur, zu leugnen wagte er nicht mehr.
Meißner holte ein Maß aus der Tasche und verglich. Kein Zweifel mehr. Von diesen Stiefeln rührten die Spuren vor dem Fenster des Mordhauses her, und der Mann, dem sie gehörten, stand vor ihm. Eine wilde Freude beherrschte den Beamten. Er hatte den Mörder. Auf den ersten Griff hatte er ihn gefaßt. Aber nun Ruhe und Schlauheit! Schritt für Schritt mußte er den Mörder überführen, bis die Beweiskette geschlossen war.
»Warum haben Sie die arme Frau getötet?« Kurz und scharf klang es von den Lippen des Beamten. Ein kühner Schachzug, aber – er mißlang. Erstaunen, fragende Verwunderung, verständnisloses Aufhorchen lag in den Mienen Langes, aber kein Schuldbewußtsein, kein Erschrecken prägte sich darin aus.
»Welche Frau? Ich soll jemand getötet haben? Sie sind wohl verrückt?« brauste Lange jetzt auf, der seine ganze Sicherheit wiedergefunden hatte, nun er wußte, was man eigentlich von ihm wollte.
»Nehmen Sie sich mit Ihren Redensarten in acht, Lange! Sie sind dringend verdächtigt, die verwitwete Frau Anna Schrader gestern nacht gegen elf Uhr ermordet zu haben!«
Wie Keulenschläge trafen die unbarmherzigen Worte den Beschuldigten. Seine Knie zitterten, er sank auf den Stuhl, der neben ihm gestanden, und seine Augen richteten sich in wahnsinnigem Erschrecken auf den Beamten, der ihm diese furchtbare Anklage in das Gesicht schleuderte.
»Frau Schrader tot? Ermordet? Gestern?« Ihm schwindelte. Der Kopf sank nach vorn, und einen Moment fürchtete der Kommissar, Lange möchte in Ohnmacht fallen.
»Ja, und Sie sind ihr Mörder!«
»Nein!« gellte es von den Lippen des alten Mannes. »Nein, beim allmächtigen Gott im Himmel, ich war es nicht!«
»Tot, Anna Schrader tot! Gemordet. Oh, mein Gott!«
Bestürzt schaute der Beamte auf den Fassungslosen. Sah so ein Mörder aus? Einen Augenblick kam sein Verdacht ins Wanken.
Lange schaute geistesabwesend vor sich hin. Er hinderte den Beamten nicht, den Kleiderschrank zu öffnen. Nur ein Gedanke summte ihm im Kopfe: Frau Schrader tot, ermordet – gestern!
Ein fast triumphierender Ausruf des Kommissars weckte ihn aus seinem schmerzerfüllten Brüten. Meißner hielt ein Jackett in der Hand, das er mit fast zärtlichen Blicken betrachtete.
»Ist das Ihr Jackett, Lange?«
»Das hatten Sie auch gestern an?«
»Ja.«
»So!« Befriedigt richtete sich Meißner zu seiner ganzen Höhe empor. »Und was ist das? Blut!«
»Ich habe gestern abend Nasenbluten gehabt. Ich leide häufig daran.«
»Ach nee, was Sie nicht sagen? So? Nasenbluten? Die alte Ausrede zieht aber bei mir nicht, lieber Freund, da müssen Sie schon intelligentere Auswege suchen!«
»Herr Kommissar,« verteidigte sich Lange, »ich habe nicht nötig, nach Ausreden zu suchen; was ich sage, ist die Wahrheit. Ich habe mir wohl gestern in dem Regen den Schnupfen geholt, denn als ich nach Hause kam, mußte ich mehrmals heftig niesen und dann bekam ich plötzlich Nasenbluten. Sie werden zwischen der schmutzigen Wäsche auch noch ein blutiges Taschentuch finden.«
Der Beamte hatte alles gefunden, was er suchte; ja, mehr, als er zu finden erwartet hatte. Ohne weitere Worte an den wie zerschmettert Dasitzenden zu verlieren, öffnete er das Fenster und beorderte durch einen Wink die beiden Schutzleute nach oben.
»Hugo Lange, ich erkläre Sie für verhaftet, da Sie hinreichend verdächtig sind, den Mord an Frau Anna Schrader begangen Zu haben. Folgen Sie ohne Widerstand, sonst muß ich Sie fesseln lassen.«
»Wen?« klang es kurz und erschrocken von der Tür.
Hans hatte die Tür geöffnet, die letzten Worte gehört und starrte nun erschrocken auf den Beamten, die beiden seitwärts stehenden uniformierten Polizisten gar nicht bemerkend. »Wen? Meinen Vater?«
»Sie sind der Sohn des Hugo Lange?«
»Ja, Hans Lange ist mein Name. Aber, wer sind Sie, und was wollen Sie von meinem Vater?«
Prüfend und nicht ohne Mitleid glitt der Blick des Kommissars an dem Fragenden herunter.
»Mein Name ist Meißner, Kriminalkommissar, und ich habe Ihrem Vater soeben seine Verhaftung angekündigt, da derselbe so gut wie überführt ist, in dieser Nacht die Witwe Anna Schrader mit diesem Stemmeisen erschlagen zu haben.«
»Mein Vater?!?« schrie der Gepeinigte schmerzlich auf. »Das ist doch nicht möglich, das muß ein Irrtum sein!«
»Die Beweise sind erdrückend,« versetzte der Beamte.
»Ja, aber diese Beweise können, müssen trügen! Vater, sag's ihm doch, daß du unschuldig, daß es nicht wahr ist!« flehte der unglückliche Sohn den Vater an.
»Ich war es nicht, Hans. Beim allmächtigen Gott! Aber man glaubt mir ja nicht. Alles weist auf mich als den Täter. Sogar mein gestriges Nasenbluten wird als Beweis angeführt. Sage es ihm doch, daß ich gestern abend Nasenbluten hatte, mir glaubt er es ja nicht!«
»Unterstützen Sie den Verhafteten nicht, Herr Lange, es hat keinen Zweck. Ob die gefundenen Beweise genügen, darüber wird der Untersuchungsrichter entscheiden.«
Er befahl jetzt den Schutzleuten, den Verhafteten abzuführen.
Hans sank dem Vater in die Arme.
»Vater, laß den Mut nicht sinken! Ich will alle Hebel in Bewegung setzen, um dich bald wieder freizumachen!«
»Ich danke dir, mein lieber Sohn. Gott wird uns nicht verlassen.« An der Schwelle wandte er sich noch einmal um: »Geh' zu Witte, Hans, wenn mir einer helfen kann, so ist er es!«