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XIX.

Strandby dämmert im Mitternachtsschlaf.

Schwarz, leblos liegen die Hütten verstreut. Kein Lichtschein glimmt, keine Herdfeuer glühen. Das Inselvolk ruht vom Tagewerk aus.

Dicht, immer dichter wirbelt der Schnee, einen Vorhang webend von zähen Wollfäden, dahinter Dorf, Haide und Strand verschwinden. Am Kirchturm der Posten ist eingenickt und lehnt im Portal seit Stunden schon mit traumschweren Lidern, vergessend der Wacht, die ihm anvertraut.

Da geht ein Brausen über das Meer, das sich zum letzten Angriff rüstet.

»Der Südsturm schwenkte nach Westen um und steht nun quer auf die Insel zu.

Was säumt ihr, Brüder? Die Zeit ist da, zu stürzen armseliger Menschen Gebilde!«

Und alle Wogen hören den Ruf und nehmen ihn auf von Kette zu Kette. Sie richten sich aus in schnurgeraden Reihen und stellen die Streiter in Schlachtordnung auf:

Voran der Springwellen blinkweiße Schar, zu erkunden die Lücken des feindlichen Lagers. Darauf in Staffeln stahlköpfige Brecher, bestimmt, den Mauern zu Leibe zu gehen, und endlich das unermeßliche Heer erprobter, eisengeharnischter Krieger, die, wenn die Breschen geschlagen sind, lautbrüllend die Burg überschwemmen sollen, den Garaus machend der schwachen Besatzung.

So rücken sie an in gespenstischem Zuge, des Zeichens harrend der bäumenden Führer, und fassen am Strande Fuß, unbemerkt.

Nur an der Insel Nordspitze sieht ein Häuflein von Männern die riesige Flutwelle und flieht samt einem wankenden Weib, das schwer an der Last eines Körpers schleppt, die Hügel hinauf nach Strandby zu. Auf ihren Fersen wälzt sich das Meer, mit gieriger Zunge das Land verschlingend, daß bald aus den wassergefüllten Tälern die Dünen ragen gleich winzigen Eilanden und in einem dunkel kochenden Abgrund das Horn der nördlichen Spitze versinkt.

Noch immer nicht rührt sich der Posten am Turm. Die Springwellen sehen es von der Wallkante aus, die mühelosen Kampfes sie erklommen, und gleiten zurück und melden der Masse:

»Kein Mensch wacht in der feindlichen Feste.«

Mit dumpfem Staunen hörens die Führer. Dann geben sie das Zeichen zum Sturm. Die Böen blasen in riesige Hörner, und donnernd fliegen die ersten Brecher hart an die Mauern, die Zinne erschütternd.

Jetzt erst schreckt jählings der Wachmann auf.

Um Gott, war Gischt das, der eben ihm mit peitschendem Hieb das Gesicht durchschnitten?

Er erklettert die Böschung, sieht zum Greifen nahe die Mähnen der schäumenden Ungetüme und hämmert verzweifelt die Faust an die Schläfen.

Wer vergab ihm die Schuld, die ein Unglück gebar? Er wußte, es ging ihnen allen ans Leben, wenn es nicht gelang, die Dämme zu halten, und hatte es selber doch versäumt, das Inselvolk rechtzeitig aufzuschreien. Denn ehe die Leute von Strandby kamen, eine halbe Stunde konnte vergehen, eine halbe Stunde, und geisterhaft schnell schwoll unablässig draußen die Flut.

Der Posten gewahrt es grausenden Blicks und läuft, nein stürzt die Dünen hinab, den Rumpf gebeugt, dem Dorfe entgegen, wohl wissend, daß von Sekunden nur die Rettung abhinge, und weithin schallt sein Ruf ihm voraus:

»Das Wasser, Leute, das Wasser kommt!«

Die Wogen vernehmen den jähen Alarm, und als verständen sie, daß sie entdeckt, rollt jetzt mit zwiefach brechender Kraft eine heulende See nach der andern heran, an den Steinen rüttelnd, die Fugen lockernd, daß durch die Mauern ein Beben zieht, ein unaufhörlich krampfhaftes Zittern, und immer höher staut der Weststurm des Meeres schneegekrönte Berge.

Da plötzlich ein Schatten über dem Damm!

War schon die Strandbyer Mannschaft zur Stelle?

Die Springwellen fliegen die Böschung hinauf und gleiten zurück:

»Ein Weib nur ist's, das keuchend im Arm einen Mann getragen und seinen Leib mit ermattender Kraft am Eingang der Kirche niederlegt.«

Von Westen jagt eine Schneebö her, zerfetzend den Wolkenmantel des Mondes, daß flüchtig, vergehend im Augenblick, ein Lichtstrahl das Antlitz der Frau erhellt. Starr sitzt sie da, die Hände gekrümmt, nach hinten gelehnt ihr weißes Gesicht, rings auf das Höllengetöse umher das sonderbar glanzlose Auge geheftet, – Silkes Auge und doch nicht ihr Auge –, während von silbernen Fäden durchzogen zum Knie die blauschwarzen Haarsträhnen rinnen, – Silkes Haare und doch nicht ihr Haar –.

So hält sie reglos, ein Bild von Stein, hoch oben Ausschau über den Wall und über das Heer der feindlichen Stürmer, die Zoll um Zoll an Boden gewinnen, indeß die Hilfe der Menschen noch fern.

Hilfe der Menschen?

Silke zittert. Furchtbare Zweifel durchwühlen ihr Hirn, das voll von rotem Blute ist.

Wer brachte ihr Hilfe, die Menschen dort, die in der Mörder Gesellschaft kamen, um ihre kostbaren Leben zu retten, oder die Wasser der Springflut hier, die barmherzig sie zu befreien imstande von jenem Leid, das ihr Menschen getan?

Stöhnend schlägt Silke den Kopf an die Steinwand, die Hände ausstreckend wie zur Abwehr der hart sie bedrängenden Not der Gedanken.

Tot war ihre Seele, tot wie Jens Lie, den unsagbar grausame Hinterlist einem bitteren Geschick in die Schlingen gespielt, ohne daß Gott einen Finger gerührt, Gott, der Allgütige, den sie gebeten, wie keiner ihn je gebeten hatte.

Silke richtet sich langsam empor. Ein finsterer, unheimlich glühender Trotz flammt in ihren schmerzstumpfen Augen auf.

Waren das Menschen, die Gott geschaffen nach seinem Bilde?

Praest Petersen irrte!

Bestien waren es, geifernde Tiere, die unter des Zufalls höhnischer Sonne ungestraft ihrer Wildheit frönten und die man drum tot schlug, wo man sie fand! –

Hoch auf bäumt das Meer, dem Flüstern lauschend, das sich dem Munde des Weibes entringt.

Ein Wächter im Lager des Feindes nur, und dieser eine sinnlos vor Groll? Vielleicht, daß der Posten mit eigener Hand den Zutritt uns schafft, seine Brüder verratend.

Und über die Mauer schleudert die Flut, mit Salzschaum umhüllt, die lockende Botschaft:

»Wir sind dir Freund, nicht Feind, wie du wähnst. Wir können dich lösen von Schmerz und Pein, daß Unfrieden du mit Frieden vertauschst, daß deine Seele zur Ruhe eingeht, so du deine Not uns anvertraust und uns deine Rache ausführen läßt an deiner Statt mit stürmender Hand.«

Silke windet am Boden sich. Ein blaßroter Schaum quillt über die Lippen, die tonlos flehende Worte stammeln.

»Ein Zeichen, Herr!«

Sie hebt die Arme und horcht in die Nacht.

Da hallt, von den Flügeln des Windes getragen, ein undeutlich schwaches Geräusch herüber, und eine Schlange von Lichtern zieht die Dünen entlang der Kirche zu.

»Eilt, Männer, eilt! Noch steht der Damm.«

Eine Stimme brüllt es, mit roher Gewalt den gesunkenen Mut der Genossen zu heben.

»Dies, Herr, dein Zeichen?«

Silke fährt hoch und packt die oberste Kante der Brüstung, die, losgerüttelt vom Wasser schon, sich leicht in der Hand zur Lücke erweitert. Sie hat die Stimme des Mörders erkannt, der mit dem Strandbyer Volk sich naht, um sich auf den Südteil der Insel zu retten, bevor der verbindende Streifen gerissen.

»Eilt, Männer, eilt!«

Mit grausigem Hohn zischt Silke es zwischen den Zähnen hervor. Dumpf klatschend taumelt Stein um Stein, aus den Fugen gerissen, der Tiefe zu, und dann ergießt die erste Woge ihr dunkles Naß durch die breite Öffnung.

Lauernd, geduckt steht Silke dabei. Sie sieht der weichenden Welle nach, die, angewachsen zu Bergeshöhe, rückkehrend jetzt auf den Damm sich zuwälzt. Fahl weht der Kamm in grünlichem Schein dem kupfernen Helm eines Turmes gleich, um zu zerstieben in Wolken von Gischt, als krachend das Wasser die Mauern bricht und in einem rasenden Wirbelstrom die schmale Landenge untergeht.

Da zieht ein Brausen über das Meer:

»Der Sieg ist gewonnen, die Feste fiel.

Nun, Brüder, herbei! Erfüllt ist die Zeit, zu stürzen armseliger Menschen Gebilde.«

Und Tausende stimmen das Sturmlied an, es weiter tragend von Kette zu Kette. Wild schmetternd blasen die Böen darein zum letzten Vernichtung drohenden Angriff, und rings umschlossen stöhnt die Insel unter der Wucht des Wogenanpralls.


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