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In dichtem Nebel gingen sie hinunter zur Brücke, Jens Lie und Silke, schweigend, erdrückt von der nassen Umarmung all dieser klebrigen Dunstmassen, die grau und schwer vor der Sonne lagen, daß jene flache, glanzlose Scheibe, die malvenfarben am Himmel hing, dem dämmernden Monde vergleichbar war, wenn er der bläulichen Salzflut entsteigt, bevor das Taglicht geschwunden ist.
Der Sand war feucht und haftete zäh bei jedem Tritt an den Füßen der beiden Menschen, als suche die Erde der Heimat selber im letzten Augenblick noch den ausziehenden Sohn zurückzuhalten, der unbekümmert um solches Bemühen fest auftretend durch die Dünen stampfte, dem Ziele entgegen, der hölzernen Plankenbrücke am Wasser, wo ungeduldig Niels Skaffer schon des allzu lang säumenden Freundes harrte.
»Gut, daß du kommst. Das Boot ist klar.«
»Das Boot?«
Ja richtig, dort hinten am Ende des Stegs schwang etwas umher in der Morgendünung. Wie Fledermausflügel, ungelenk, schattenhaft, sah man die Segel flattern am Mast, der als ein dünner, schwimmender Strich im fließenden Grau der Höhe verschwand.
Jens Lie nickte Silke aufmunternd zu. Dann klapperten hart auf den Eichenbohlen die nägelbeschlagenen Stiefel der Männer, begleitet von Silkes wiegenden Schritten, die hell von denen der anderen sich abhoben.
Am Kopf der Brücke machte man Halt. Dort hatten Peer Olsen, der Strandbyer Wirt, und mit ihm Sindal sich eingefunden, der, durch sein Amt als Lotse gebannt an die Inseln der Westküste, berufsmäßig fast all denen das Abschiedsgeleite gab, die der Kampf um das Sein in die Ferne führte.
Sonst war aus dem Dorfe niemand zugegen.
Das Mannsvolk hatte vor Wochen schon den Flug ins Weite angetreten, und von den Alten, den Frauen und Mädchen hatten die wenigsten wohl gewußt, daß nun auch Jens Lie an der Reihe sei, dem Beispiel der übrigen Männer zu folgen.
So kam es, daß statt jenes grellen Lärms, mit dessen schmerzhafter Lustigkeit man gewöhnlich die Abfahrt zu feiern gepflegt, diesmal eine seltsam beklemmende Stille das schlingernde Boot und die Menschen umgab, deren lakonisch hinausgestoßene, knappe Rufe sogleich der dampfende Nebel verschlang, als seien sie garnicht den Lippen entronnen.
»Farvel, mein Junge, und glückliche Heimkehr!«
Sindal, der Lotse, packte Jens Lie beim Arm und schüttelte ihn zum Abschied derb an den Schultern.
Dann wandte er sich Niels Skaffer zu und gab Peer Olsen Gelegenheit, nun auch sein Wort an den Mann zu bringen.
»Wie steht's mit der Taufe, Jens Lie? Du wehrst ab? Ha, ha, sieh doch an!«
Und der Rest von Peer Olsen's Rede verlor sich in einem glucksenden Lachen, durch das es wie klirrende Silberkronen behaglich, breit zu plätschern begann, indeß Jens Lie, dem in dieser Stunde jedweder Scherz zuwider war, den behäbigen Wirt beiseite schob und mit hastigen Schritten zu Silke trat.
Er sprach die letzte Silbe nicht aus, da fühlte er seines Weibes Mund auf dem seinen brennen, sich festsaugend in einem langen Kuß, der seine Glieder wie Feuer durchströmte, daß er den Körper vom Boden aufriß, der ohnmächtig sich an ihn gelehnt, und krampfhaft ihn zu drücken begann, während Silke, von jähem Schmerz ergriffen, in der Abwehr halb dieser stürmischen Liebkosung ihre Zähne in das Fleisch seiner Lippen grub.
So blieben sie aneinandergepreßt die wenigen ihnen gehörenden Augenblicke.
Dann riß Jens Lie sich gewaltsam los und sprang zu Niels Skaffer ins Boot hinab, das, denselben Moment die Taue lösend, vom Winde erfaßt, sogleich in das erste Wellental sank, um Sekunden darauf schwerfällig über der nächsten Woge fahl seifigen Kamm zu kriechen. Ein schmales, milchig schäumendes Band schleppte das Kielwasser hinterdrein, die Fahrrinne weithin zeichnend, dem Auge noch sichtbar, als düster dämmernd die Nebelwand sich zwischen Brücke und Schiff geschoben und man nur als einen fernen Schatten die schneller gleitenden Segel sah.
Jens Lie und Silke wechselten Worte, so lange es irgend möglich war.
Ob er ihr schreiben würde?
Gewiß würde er ihr schreiben, wenn er an Bord der »Dronning Marie«, und später vom ersten Hafen aus, den sie auf der Reise anlaufen würden. –
Doch bald vermochten die Stimmen nicht mehr den klaffenden Raum zu überbrücken, und Silke, die, weit vornübergebeugt, vergeblich sich mühte, das Bild der breiten Gestalt ihres Mannes noch einmal dem rauchenden Dunst zu entringen, empfand in dieser Minute erst die stumpfe, traurige Leerheit der Trennung, nun, da sie Jens Lie nicht mehr zu sehen im Stande war und eine jähe Verlassenheit ihr mit doppelter Schärfe die Erinnerung zurückrief an all die schnell verrauschten Stunden, die sie in seinen Armen verbracht.
»Farvel, Jens Lie!«
Sie schrie es hinaus in die lichtlose Öde mit der äußersten Kraft ihrer kleinen Kehle, daß schrill überschlagend der Widerhall auf den Spitzen der Wellen zu tanzen schien und lautlosen Fluges, aufgeschreckt ein Seevogel hart übers Wasser strich, sie anstierend mit seinen dummen Augen.
Den Atem verhaltend, lauschte sie lange.
Dann klang sehr fern, irgendwo aus dem Nebel der helle Tenor Jens Lie's herüber, der jenes alte Lied angestimmt, das sie in den Fjorden zum Abschied singen:
»So fahr ich gen Norden ins Nebelland,
Wo die Sonne nicht scheint. Dort ist kein Tag!«
Und wieder senkte sich tiefes Schweigen hinab auf das eintönig murmelnde Meer und die ächzenden Planken der einsamen Brücke.
Denn Sindal, der Lotse, und Peer Olsen, der Wirt, hatten vor einer Weile schon gemeinsam den Heimweg angetreten, so daß das zusammengeduckte Weib das einzige menschliche Wesen war, das den toten Traum der Natur belebte.
Als Silke endlich nach fruchtlosem Harren sich müde entschloß, nach Hause zu gehen, war fast einer Stunde Minutenzahl seit der Abfahrt des Boots dahingeflossen, Minuten, die ihrer erwachenden Sehnsucht wie eine Ewigkeit vorgekommen. Das Geländer umklammernd, schlich sie scheu, mit gleitenden Schritten zum Ausgang des Stegs, als fürchte sie durch ihrer Schuhe Geräusch das Grauen mutwillig aufzuscheuchen, das jenseits der Bänke sein düsteres Haupt in Nebelkissen gebettet hatte.
Erst als ihr Fuß schon nahe dem Land und ihr Auge Dünen und Häuser erkannte, gab ihres Herzens Verzagtheit allmählich einer ruhigen Hoffnung Raum.
Zogen nicht alle hinaus wie Jens Lie und kehrten wieder heil und gesund?
Hatte Jens Lie nicht mehrfach schon sein Glück versucht auf großer Fahrt und war stets unversehrt heimgekommen?
Freilich, daneben gab es auch welche, die wie Gerd Boje ums Leben kamen oder fern von der Insel auf fremden Meeren mit ihrem Schiff verloren gingen. Doch das würde Gott verhüten, Gott, den sie darum bitten würde mit der ganzen Glut ihrer Seele, wie Praest Petersen sie es gelehrt.
Und mit gehobener Zuversicht, fast freudig lief Silke die Brücke entlang, bis sie den verwitterten Strand erreicht, der kahl, verschlafen im Morgendunst seine gelben, massigen Glieder dehnte. Die Röcke gerafft mit beiden Händen, durchquerte sie watend den nassen Sand und blieb am Fuße der Dünen stehen, um Atem zu schöpfen und um einen Mann, der eben die Hügel hinunterkam, auf dem schmalen Wege vorüber zu lassen.
Mit einem Gemisch von Neugier und Furcht betrachtete sie den gedrungenen Körper, den Stiernacken und das eisgraue Haar, das unter der tief übers Auge gezogenen Mütze hervorquoll, ein ungebändiger Strom, indem sie vergebens sich zu entsinnen bemühte, wo sie dem Fremden begegnet sei, der ihr so seltsam bekannt erschien.
Und dann – ein Windstoß hatte den Nebel zerfetzt, der der Blicke Sehkraft zu trüben vermocht – dann war es, daß Silke wie strauchelnd zur Seite fiel, die Hände abwehrend ausstreckend, als ängstige sie ein furchtbarer Gedanke. Taumelnd versuchte sie aufzustehen und zwang ihr Auge den Weg hinan zu dem gedunsenen, roten Gesicht, auf dessen dicken, gewölbten Lippen ein triumphierendes Lächeln brannte.
Und nun, da sie zum zweitenmal das seltsam brennende Lächeln gesehen und auch die höhnisch zuckenden Lippen, da wußte sie, daß sie den Mann vor sich hatte, des rohe, tierische Leidenschaft ihr Glück gefährdet von Anbeginn, und den sie, Peer Olsens Versicherungen trauend, an Bord eines Schiffs in der Ferne geglaubt.
Denn der, die Flinte über der Schulter, soeben die Dünen hinunterstieg, das war Steuermann Tymme.