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Am ersten Adventsonntag hatte der Sturm die Stärke eines Orkans erreicht.
Gelb zackige Schneewolken jagten dahin, gepeitscht von mißtönig pfeifenden Böen, die rings die grauen Gewässer aufwühlten, daß schwarze Höhlen die Fläche zerrissen und von dem turmhoch geschleuderten Gischt die Helle des Himmels verdunkelt ward. Grell schmetternd rollten die Seen heran mit phosphoreszierend glasigen Kämmen, die zu einer bäumenden Garbe verschmolzen, wenn windgetrieben ein Wasserberg hohl überstürzend in Fetzen barst, daß salzstaubwirbelnde Lichter sich in tollem Tanz mit den Schneeflocken mengten.
Die Sonne grüßte den Morgen nicht. Versteckt in kupferfarbenem Nebel hing ihre fahlrot dämmernde Scheibe dem Auge des Todes gleich über der Insel, die, halb begraben unter der Flut, inmitten der kochenden Massen lag.
Denn bis zu dem Damm, der die Kirche umschloß, auf der Landenge zwischen des Eilands Rundteilen wälzten sich gierige Schlangen hinauf, die Mauern netzend mit grünlichem Geifer, und während des ersten Adventgottesdienstes, dem spärlich das Inselvolk beigewohnt, ward von dem düsteren Getöse des Meers der Jubel der Weihnachtslieder verschlungen.
Der Nachmittag brachte keine Veränderung.
In unerträglich schrecklichem Gleichmaß brach donnernd sich Woge auf Woge am Strand. Man sah ihre silberblinkenden Helmbüsche in wildem Triumph auf den Dünen wehen, und über die menschenleer einsame Haide fegte ein gelblich finsterer Strom, geballt aus Salzschaum und eisigem Dunst.
Die Leute der Insel zeigten sich nicht. Sie hatten sich in ihre Hütten verkrochen und lauschten hinter geschlossenen Läden dem unerhörten Wüten des Sturms.
Nur eine einsame Wache stand postiert bei der Kirche, daß für den Fall eines drohenden Brandungsdurchbruchs man eiligst das Volk zusammenriefe, um, wie in früheren Zeiten oft, erfolgreich mit Steinen, Säcken und Sand dem rasenden Gegner zu Leibe zu gehen.
Denn wenn das Wasser die Dämme zerriß an der Stelle, wo sie das Südstück des Eilands berührten, so war der tiefer gelegenere, nördliche Teil mitsamt dem verbindenden, schmalen Landstreifen der Gefahr einer Überflutung preisgegeben und den Bewohnern von Strandby dadurch der Weg zu dem südlichen Inselplateau, der rettenden Höhe, abgeschnitten.
Doch der an der Kirche wachende Posten war nicht das einzige menschliche Wesen, das, trotzbietend all dem Toben umher, ein mauergeschütztes Obdach verschmähte.
Dort, wo die flache Nordspitze sich gleich einem Horne ins Meer erstreckte, lag in einer windsicheren Senkung der Dünen ein Häuflein Männer im Kreis um ein Feuer, das, durch den Rücken der Hügel gedeckt, dem Auge des Postens verborgen blieb. Sie hockten zu fünf aneinandergepreßt, die Fäuste über der Flamme wärmend, und ließen die dickbauchig kantige Flasche voll goldbraunen, echten Jamaika-Rums die Runde machen von Hand zu Hand, indes ein sechster am Strand sich befand und unablässig den Horizont mit scharfem Blick nach Segeln absuchte, deren letztes den Abend vorher man gesichtet, einer Bark gehörig, die, unbekannt mit dem tückischen Fahrwasser zwischen den Sandbänken, der helfenden Hand eines Lotsen bedurft und zu dem Zweck sich dem Lande genähert, um mit dem mutigen Sindal an Bord den Weg längs der Küste fortzusetzen.
Seit diesem hatte kein anderes Schiff die Höhe der kleinen Insel passiert.
Doch um die vierte Nachmittagsstunde – es hatte manch unwillig Murren schon den frostblauen Lippen der Männer sich entrungen ob des ergebnislosen Wartens, das Steuermann Tymme nun Tage hindurch den faulen Gesellen aufgezwungen – um die vierte Nachmittagsstunde hörten die fünf ein lautes Geschrei ihres Wachtgenossen, der, seinen schmutzigen Wollschal schwenkend, in Eile den Platz am Wasser verließ und auf sie zulief quer über den Sand, der eine Glasur von Jungeis trug.
»Ein Segel draußen!«
Er wies mit dem Daumen nach rückwärts, dampfend den Atem ausstoßend aus seiner kälteerstarrten Brust, als er vor Steuermann Tymme stand und hastig ihm seine Wahrnehmung kundtat.
Der dehnte mürrisch die steifen Glieder, ehe er sich erhob, um die Richtigkeit der eben gebrachten Nachricht zu prüfen.
Wie recht sie hatten, die dummen Burschen, erbost zu sein über seinen Befehl, der sie hier alle auf Anstand hielt, anstatt daß sie dort in Peer Olsens Wirtshaus die eisigen Körper mit Grog auftauten!
War er denn selber toll geworden, die Zeit zu vergeuden mit fruchtlosem Aufpassen, wo er doch klar sich sagen mußte, daß eigentlich nichts damit gewonnen, wenn dies Schiff wirklich die »Marguerite« war, zu deren Mannschaft Jens Lie gehörte?
Wie konnte er wissen, wann sein Feind den Fuß auf das Eiland setzen würde, und um diese Tatsache zu erfahren, hätte es eben so gut genügt, von der Herberge drunten am Wasser aus die Brücke genau zu beobachten, um über den ahnungslos landenden Mann mit plötzlichem Angriff herzufallen.
Aber Steuermann Tymme täuschte sich bezüglich dessen, was eben ihm durch sein zornig grübelndes Hirn geschossen.
Denn nicht geleitet durch vagen Instinkt, war er zu dem Unternehmen geschritten, nein, abwägend sorgsam jeden Punkt, der seine Pläne zu fördern imstande, und in dem untrügbaren Gefühl, daß ihn, wenn er nichts unberücksichtigt ließe, was Zufall und Glück ihm an Vorteilen böten, in letzter Stunde doch noch vielleicht der Sieg über den ihm verhaßten Gegner erwarte.
Und bei dem Gedanken packte ihn ein jäher Schauer wilder Erregung, die ihm in einem andern Licht die Mühen der eiskalten Wachttage zeigte und ihn mit weit ausholenden Sätzen seinen Leuten voran dem Strande zutrieb.
Dort angelangt, ließ er kaum sich Zeit, das Messingrohr aus der Tasche zu holen. Und als ihn Christian Nörregaard erreicht, – es war der Mann, der das Schiff ihm gemeldet –, lag eine geraume Weile schon das Fernglas an Steuermann Tymmes Wange, der plötzlich es mit heftigem Zittern, wie zweifelnd, wieder herunterriß, dann ansetzte zaghaft, dem Auge nicht trauend, um endlich gespenstisch funkelnden Blicks das Rohr an Nörregaard weiter zu geben, der mit respektvoll dumpfem Staunen das unheimliche Gebaren betrachtete.
»Nimm hier, nimm schnell und sag, was du siehst!«
Die Worte quollen heiser hervor. Wie klirrte die Stimme so seltsam doch.
Christian Nörregaard griff nach dem Rohr und hielt es flüchtig forschend ans Auge.
»Ein Fahrzeug treibt Südwest vor dem Sturm. Es scheint nicht groß.«
»Seine Farbe?«
»Meergrau.«
»Und trägt es ein Zeichen, wess' Landes es ist?«
»Keins führt es, außer dem roten Stender, der von der Spitze des Fockmastes weht.«
Steuermann Tymme lallte schwer, einem Trunkenen gleich, dem die Sprache versagt.
»Von der Spitze des Fockmasts?
Kerl, du sahst falsch. Nimm noch einmal hier und die Wahrheit sag!«
Verwundert hob Nörregaard zum zweiten das Glas, und als nach angestrengt langem Schauen, das den anderen fast eine Ewigkeit dünkte, er sich zu Steuermann Tymme wandte, war sein Gesicht so blaß wie der Schaum, der die Stiefel der Männer in Flocken umflog.
»Das Schiff, ein Schoner der Größe nach, hat einen Mast nur, den hinteren noch, an dem schräg über dem roten Stender eine kreuzweis geschnürte Flagge gehißt ist.
Sie sind in Seenot draußen! Gott weiß, wann ihnen die Bö den Fockmast nahm.«
Es war in diesem Augenblick, daß ein wahnwitzig teuflisches Frohlocken aus Steuermann Tymme's Augen brach.
So hatte der Zufall, sein Freund, ihm doch gelohnt die aussichtslos scheinende Arbeit und ihm Jens Lie in die Hände gespielt, wie er es in seinen kühnsten Träumen bis heute nimmer erwartet hatte.
In Seenot, ha, ha, die »Marguerite«!
Er würde ihr Hilfe bringen, wie keiner!
Und aus seinen glitzernd bereiften Lippen sprang schauerlich grell ein Lachen hervor, als schlüge man Stangen von Stahl zusammen.
»He, Jungens, hierher!«
Er brüllte es laut im Überschwang einer tierischen Freude, die den seinen Schritten folgenden Männern ein Zeugnis war, daß von Erfolg die Strapazen gewesen, die sie seit Tagen für ihn erduldet, und daß nun die Stunde gekommen sei, da ihnen dafür ein Preis beschieden von einer ganz besonderen Art.
Im Schutze der Strandbyer Haidehügel versammelte Steuermann Tymme die Schar.
Das frühe Dunkel des Winterabends zog seine tief violetten Schatten kalt funkelnd über Insel und Meer.
In einer Stunde würde es Nacht sein und auch der letzte Schimmer von Licht versinken im Schoße der Finsternis.
Steuermann Tymme warf einen Blick auf den Kurs des kaum mehr erkennbaren Fahrzeugs und den zackigen Kamm der Westerbänke, die als eine Mauer von sprühendem Weiß scharf gegen den düsteren Himmel standen. Dann hieß er die Leute zum Ring sich schließen, damit sie vernähmen, was er ihnen sage.
»Der Schoner, Jungens, der draußen in Not, ist das von mir erwartete Schiff. Kein Mensch außer uns sah noch sein Segel. Merkt auf, kein Mensch wird je erfahren, was wir gewußt von der ›Marguerite‹.
Bald wird es Nacht. Das Inselvolk schläft.
Wohlan, meine Jungens, das Schiff gehört euch! Es kommt von Brest und steckt voller Wein, voll guten Weines, voll schweren Weins, der heiß wie die Weiber des Südens euch das Blut in den Adern aufpeitschen wird.
Der Sturm hat halb schon die Arbeit getan. Jetzt ist es an euch, den Rest zu besorgen!«
Steuermann Tymme sprach nicht weiter. Ein ungeheures Jubelgebrüll erscholl als Antwort auf diesen Vorschlag, dessen Ausführung wohl als ein alter Brauch mitunter noch auf den anderen Inseln, doch nimmer in Strandby geduldet ward, seitdem Praest Petersen Seelsorger war.
Doch darum scherten sie wenig sich, die wilden Gesellen, die Steuermann Tymme sich ausgesucht aus dem Bollwerkgesindel, wie man es in jeder Hafenstadt auf den Kais und in den Tavernen findet. Sie stürmten davon, eine Meute Hunde, die fliegenden Leibes das Wild verfolgen.
Nur ein Mann blieb in den Dünen zurück, und das war der, der mit tödlichem Grimm der Meute von ferne das Wild gezeigt. Er wanderte ruhelos stampfenden Schritts wohl einer Stunde Minutenzahl am Fuße der Hügel auf und ab, den stieren Blick auf das Meer geheftet, das unter dem schwarzen Bahrtuch der Nacht mit bläulich schillerndem Phosphorglanz die schleudernden Spitzen der Wogen krönte.
Und als in der Richtung der Westerbänke am Strande plötzlich ein Feuer aufglomm, das, durch Wälle gedeckt nach Strandby hin, sein glühendes Auge der Seeseite zeigte, da dachte Steuermann Tymme daran, daß röter denn jener Scharlachschein, der auf dem Jungeis des Sandes blinkte, das frische Blut seines Feindes sei, den er zu erlegen alles geopfert, was sein gewesen an irdischem Gut.
Denn nun war seine Stunde gekommen.