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XIV.

Die Winternächte hatten begonnen.

Eisnebel hüllten die Insel ein. Schneedämmernd, lichtlos schlichen die Tage, und schwerer brauste das Meer an den Strand, die Stimme erhebend zu wilden Gesängen, regellos stürzenden, seltsam gereizt, dem Schlachtrufe gleich fremdländischer Krieger.

Es war die Zeit der großen Stürme, die Zeit, da über den Westerbänken steil, haushoch, zischend die Brandung stand, und an den Riffen der »Eisernen Küste« von Blaavandshuk bis zum Hornsref bei Skagen Mastspitzen, einsam den Wassern entragend, treibende Trümmer und faules Gebälk ein kirchhofstummes Zeugnis gaben von zahllosen Schiffbrüchen und einer Gruft, die in ihrer blaßgrau sandigen Tiefe so manche Mannschaft begraben hielt.

Es war die Zeit, da in Strandby's Hütten die Herzen ruhloser schlugen denn je, da bis in den letzten Winkel hinein die Kirche mit schluchzenden Frauen gefüllt war, die um ihre seefernen Männer bangten, und da Praest Petersen milde tröstend im Dorf von Türe zu Türe ging, um aufzurichten alle die Armen, die schwach an Glauben und Hoffnung waren.

Und um diese Zeit geschah es auch, daß der Alte, besorgt ob der wirren Berichte, die ihm die Leute von Strandby gemacht über Silkes Zustand, ihr gramvolles Warten auf irgend ein Lebenszeichen Jens Lie's und ihren Kampf mit Steuermann Tymme, an einem schneegarbenschleudernden Sturmabend Pfeife und Reinschrift der Sonntagspredigt, deren Hälfte er zu Papier gebracht, mit jähem Entschluß bei Seite legte und, eingepackt in den zottigen Friesmantel – ein altes Stück, fast so alt wie er selbst – den Weg zu dem Haus auf der Düne antrat, um in eigener Person nach Silke zu schauen.

Von ferne schon sah er das einsame Licht, das, wie ihm Sindal, der Lotse, erzählt, seit Wochen jegliche Nacht bis zum Morgen im Fenster von Silkes Kammer brannte, mit seinem windgeschüttelten Schein das Dunkel durchdringend rings im Umkreis, ein schlafloses Auge. das nimmer sich schließt.

Praest Petersen sah es und dachte daran, wie einst vor Jahren die Frau Aage Lie's, des bei Skagen verschollenen Steuermanns, wohl tausend Nachtstunden durchgeweint, des Mannes harrend, den niemals mehr in ihren Armen sie wärmen sollte und dessen letzte Botschaft sie empfangen mit todesgebrochenem Herzen. Er dachte daran und seufzte bekümmert, als er die Schwelle des Hauses erreicht und an die geschlossenen Holzläden pochte.

Eines Augenblicks Kürze blieb alles still.

Dann hasteten aufgeregt zitternde Schritte hart klappernd über den Estrich hin, und aus der rasch aufgestoßenen Türe trat Silke mit fieberglänzenden Augen. Fragend hielt sie ein Licht empor und leuchtete irr vor freudiger Ahnung in das mit Schnee bedeckte Gesicht des Mannes, der so spät noch sie zu besuchen kam.

Doch langsam sank ihre Hand herab. Blind ward ihr Blick von quellendem Wasser.

»Ihr seid's, Praest Petersen.«

Ihre Stimme, matt, schwankend, verriet den Schmerz der ungeheuren Enttäuschung, die ihr widerfahren in diesen Sekunden.

»Ja, Kind, ich bin's!«

Praest Petersen sagte es schlicht und ernst, indem er Silkes Finger ergriff und sie nicht eher aus den seinen ließ, bis er an der Seite des jungen Weibes auf der Ofenbank neben dem Herde saß, und, während ein roter Funkenschwarm durch die rußige Höhlung des Rauchfangs jagte, aus Silkes Munde alles erfahren, was peinigend sie zur Verzweiflung gebracht:

Wie sie die erste Zeit nach dem Fortgang Jens Lie's gefaßt und ruhig des Fernen gedacht, der ihr von Bord der »Dronning Marie« seine glückliche Ankunft angezeigt.

Wie sie seit jenem Brief ihres Mannes kein Wort mehr gehört, keine Zeile erhalten, die ihr, der sehnsüchtig wartenden Frau, bei der Abfahrt ausdrücklich versprochen gewesen.

Daß sie diesem unerklärlichen Schweigen entnehmen müsse, es sei Jens Lie ein Unglück geschehen, daß er tot sei vielleicht oder, wenn nicht tot, so doch verlassen irgendwo läge am nackten Strand einer fremden Küste, von der aus es ihm unmöglich sei, zu schreiben, wie sie es abgemacht. –

Dann sprach sie noch von Steuermann Tymme, doch voll Verachtung mehr denn voll Furcht, und seltsam schwingend vor bitterer Not klang an Praest Petersen lauschendes Ohr, was Silke zuletzt an Worten ihm sagte:

»Nicht fürchte ich Menschen und das, was sie tun. Denn seid versichert, Praest Petersen, der Mensch, der es wagte, das Glück meines Seins mit roher Faust in den Staub zu zerren, den fiele ich an mit der Kraft des Rechts, das der Möwe eingibt, dem Räuber der Brut mit spitzigem Schnabel das Auge zu blenden.

Doch daß ein Etwas über uns ist, kein Gott, der, unsere Gebete erhörend, uns reißt aus tiefstem, jammernden Bangen, ein Zufall nur, der mörderisch, blind für unser armselig fruchtloses Winseln, uns das nimmt, was uns das Liebste ist, das fürchte ich mehr, als ich sagen kann, das läßt mich Nächte wachen und Tage verbringen in unerträglicher Todesangst, das läßt mich zweifeln an alledem, was ihr, Praest Petersen, einst mich gelehrt!«

Aufschluchzend glitt Silke vom Rande der Bank und barg ihren Kopf in des Alten Schoß. Der strich mit leise bebenden Fingern begütigend über das schwarze Haar, das an seinen Knieen herunterfloß, und vor seine Seele traten die Nächte, zu zählen kaum in trostlosem Zuge, da er die nämlichen Klagen wie heute aus jener Armen Munde vernommen, denen das Meer die Männer geraubt, die Väter oder die blühenden Söhne.

Denn ein grausamer Gott ist dem Seevolk der Gott, der ihnen als Bruder des Todes erscheint, und schwerer als andere Kinder der Erde vermag es zu glauben an jene Liebe, die Priester und Bibel der Welt verkünden.

Praest Petersen war kein Eiferer des Worts und verzieh den, ach, so verständlichen Menschenkleinmut.

»Kind, Kind, es rinnt keine Welle dahin, ohne daß er es nicht will, der über uns ist. Kein Segel springt, und kein Steuer bricht, ohne daß seine Hand nicht das Schiff berührt, der allein noch Rettung zu bringen im Stande, wenn Menschen verzweifelnd die Hände ringen.

Doch wer mit Trotz zu erzwingen meint, was, heiß gebeten, nur Gnade gewährt, der geht hinaus über irdische Grenzen und sündigt wider der Demut Gebot, vergessend, daß unser Leben nur ein Augenblick ist in dem Vorhof des Todes, dem früh oder spät ein jeder erliegt.

Der Mensch bleibt ein Geschöpf der Natur. Staub wird zu Staub, ein einfach Gesetz. Doch keines Mannes Stunde noch schlug, wenn er nicht drum wußte, der alles weiß, dem keine Träne verborgen blieb und kein Gebet, so gering es auch war.

Drum glaube, Silke, es ist ein Gott, kein Zufall, wie deine Schwachheit es wähnt, und darum sei ruhig und hoffe still, anstatt mit Zweifeln dein Hirn zu durchwühlen.«

So sprach Praest Petersen Silke zu, nicht kunstvoll gegliederte Sätze formend, verziert mit tönenden Bibelworten, nein, schmucklos und in der kindlichen Art, wie er sie sein Leben lang angewandt im Verkehr mit den rauhen Bewohnern der Insel.

Und nun, da Praest Petersen seine Pflicht als Sorger der Seelen vollauf erfüllt, begann er vom Standpunkt des Seemanns aus, dessen Handwerk zu kennen seine Gemeinde von ihm in demselben Grade verlangte, wie seine Lehrer einst Sprüche und Dogmen, der Frau Jens Lie's die Grundlosigkeit der sie quälenden Angst auseinanderzusetzen.

Ob sie noch niemals daran gedacht, daß weiter, als man es angenommen, die »Dronning Marie« ihren Kurs gehabt und von der ersten Hafenstadt aus, deren Reede zum Anlaufen vorgesehen, noch gar keine Nachricht da sein könne, weil die Entfernung einfach zu groß sei?

Ob sie als Tochter des Kapitän Lund von ihm sich müsse erinnern lassen, wie oft schon Briefe verspätet kamen, um Tage, Wochen, Monate zögernd, oder gar verloren gegangen waren durch Unachtsamkeit und durch Havarie?

Dies alles und mehr noch brachte er vor mit warmer, greisenhaft zitternder Stimme, indes die Herdglut just am Erlöschen den Raum mit düsteren Schatten füllte.

Dann stand er auf von der Ofenbank und nahm zwischen Tür und Schwelle noch zum Abschied ein dankbares Lächeln mit, das mädchenhaft schimmernd einen Moment über Silkes vergrämte Züge huschte.

»Farvel, Praest Petersen.«

»Silke, farvel.«

Sie drückte dem Alten die magere Hand und beugte sich über sie, wie zum Kuß. Dann trat sie langsam ins Zimmer zurück und schob den eisernen Riegel vor, der heiser knirschend den Querhaken faßte.

Und wieder stierte die Einsamkeit mit drohendem Auge aus den Ecken sie an, und wieder packte sie jenes Grauen, das eine winzige Spanne Zeit verscheucht durch des alten Praest Petersen Worte.

Sie hörte das Knattern des glimmenden Holzes und wähnte splitternde Balken zu sehen, die auf den Bänken der Sturm zerschlägt.

Die Ohren sich haltend, lief sie zum Fenster.

Doch draußen das mondflimmernd bläuliche Schneetuch schien ihr ein riesiges Totenlaken, darunter mit blassem Gesicht und erstarrten Lippen man ihren Jens Lie zur Ruhe gelegt. Sie sah die ausgebreiteten Arme, wie man sie meist bei Ertrunkenen findet, die Fäuste verkrampft in schmutzigem Tang, und wimmernd schleppte sie sich zum Herde, wo sie, zusammengekauert am Boden, unter leise geflüsterten Liebesworten ein Bild Jens Lie's mit zärtlichen Küssen bedeckte, das, darstellend ihn als jungen Matrosen, der größte Schatz ihrer Habe war.

Hier an der Stelle, da jetzt sie hockte, wie oft war sie lehnend an seinen Knieen, ihr Haar in seine Hände geschmiegt, im Geist ihm gefolgt in die fernen Länder, von deren Wundern er ihr erzählt, wie man von alten Sagen spricht.

Hier hatte sie, ach, wie viele Mal, in seinem wettergebräunten Arm des Lebens Süßigkeit erfahren! Nie würde sie es vergessen können, wie er sie an seiner breiten Brust gewärmt in den kühlen Frühlingsnächten.

Und Silke wiegte mechanisch den Kopf, Sekunden in die Erinnerung versunken, die ihrer trüben Verlassenheit dem Bilde gleich eines Traums erschien.

Dann aber schrak sie wieder empor, geschüttelt von Anfällen gräßlicher Angst, die sie mit lautem Jammerschrei den Namen Jens Lie's ausrufen ließ.

Denn immer stärker brüllte das Meer. Sein Lied stieg riesenhaft himmelan, ein feierlich dumpfer Sterbechoral, zu dem der Tod die Orgel spielte, brausender jetzt auf allen Registern.


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