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V.

An der äußersten Düne hing das kleine Haus, festgeklebt wie ein Schwalbennest über steil abfallender Wand. Die Rückseite halb im Sande vergraben, bot es trotzig die Stirne dem Meer, das, eintönig unter dem Winde singend, den Strand in der Tiefe mit Perlenschnüren geschmückt. Rosig lag er da, abendlichtübergossen wie der zarte Nacken einer jungen Frau. Braun flogen des Seetangs seidige Haare, wenn ein Bö auf das Eiland sich warf mit grellem, zischendem Pfeifen, daß Staubfahnen über die Haide rasten und das hölzerne Blockhaus zu beben begann.

Das hatte Kapitän Lund gebaut, damals, als er mit Silke hierhergekommen. War es doch einer sterbenden Mutter letzter Wunsch gewesen, daß ihr Kind groß werde auf der Insel unter den Augen des Vaters, nicht, von Weltteil zu Weltteil schweifend wie ein Zigeuner, heranwüchse unter rohem Matrosenvolk. Und Kapitän Lund hatte sein Versprechen gehalten, obwohl ihn oft die Sehnsucht gepackt, die jeden Frühling aufs Neue ihn heimgesucht mit verzehrender Glut, die Sehnsucht nach jenen fernen Ländern, blau und geheimnisvoll, deren trunkene Schönheit ihm Herz und Sinne bezaubert vor Zeiten.

So hatten sie miteinander gehaust, das Kind und der Alte, ein seltsam Paar, bis Silke das siebzehnte Jahr erreicht. Da hatte sie selber dem Vater Urlaub erteilt und gemeint, jetzt sei sie am Ende doch reif genug, um allein den Kampf mit dem Leben zu wagen, und Kapitän Lund hatte eifrig dazu genickt und listig glänzende Augen gemacht, die zwischen den weißen, buschigen Brauen gefunkelt hatten wie Eiskrystall in der Wintersonne.

Dann war er in See gegangen auf große Fahrt und war nicht wieder zurückgekommen. In Hongkong hatten sie ihn begraben mit noch drei anderen von seinem Schiff, die fern von der Heimat elend gestorben waren im fieberdurchschwängerten Hospital.

Nun schmückte wohl keine Hand ihr Kreuz, wohl keine einsame Träne rann in stummer Klage über die Hügel, die ihre armen Leiber bargen, und wie immer litt Silke auch heute unter der Qual des Gedankens, sie selber habe den Vater hinausgeschickt in den Tod.

Und war doch nur Liebe gewesen, die sie geheißen zu tun, was sie tat, entsprungen dem Wunsch, seiner Augen flatternde Unruhe zu beenden mit jenem Mittel, das, wie sie selber gesehen, unfehlbar heilende Kraft gewährte. Denn nie vergaß sie das dankbare Lächeln, das auf des Alten bärtigen Lippen gelegen, da er nach kurzem Abschied an Bord gegangen.

Und diese Erinnerung gab ihr das Licht des Glückes zurück, das sekundenlang beschattet gewesen von den Flügeln häßlich schwirrender, schwarzer Ungetüme. Nun schlang sie ruhig das Band um den Kranz, der, aus blutrot gefärbten Immortellen gewunden, halbfertig auf ihren Knieen lag, und knüpfte die beiden Enden zusammen mit einer dreifach gebundenen Schleife, die wie das Gefieder der wilden Möwe schneeweiß aus dem purpurnen Grunde stach.

Dann ging sie mit wiegenden Schritten zur Bettlade hin, die in einem Verschlag an der hölzernen Wand Berge von dickweichen Kissen zeigte, und tat den Kranz zu dem übrigen Brautstaat. Denn hier lag ausgebreitet das wollene Kleid mit seinem rieselnden Faltenwurf, hier lag das Brusttuch, die goldene Kette und neben diesen Geschenken Jens Lies das langgeschnittene Leinenhemd, das, von Generation vererbt zu Generation, nur einmal im Leben die Mädchen anlegten, am Tage der Hochzeit.

So wollten es Sitte und Herkommen auf der Insel.

Mit einer fast zärtlichen Handbewegung strich Silke über den groben Stoff. Der rieb sich leise an ihrer Haut und jagte die kleinen Blutkörperchen auf, daß sie, hastig sich überstürzend, die Adern durcheilten, schneller, immer schneller, bis dieser ganze tolle Schwärm blitzschnell an den Augen vorüberbrauste, ein roter, sinnverwirrender Taumeltanz. Und in diesem Taumeltanz überhörte Silke das Kommen Jens Lies, der plötzlich wie aus dem Boden gewachsen im Rahmen der niedrigen Türe stand.

»He, Silke, ich bins!«

Mit dröhnenden Schritten trat er näher hinein in die kleine Stube, die Diele betrachtend, den Kachelherd, daneben die Bank, den Messingleuchter und jene kunstvollen Schiffsmodelle, die, von der rauchbraunen Balkendecke herabhängend, mit ihren Leibern sein Haar berührten.

»Peer Olsen schickt mich, der Wirt. Ich soll dir sagen – – –«

Da irrte sein Blick zu dem Holzverschlag hin, jäh brach seine Stimme ab, er suchte nach Worten. Und Silke sah wohl die Verlegenheit, die auf seinem frischen, verbrannten Gesichte flammte.

»Dich schickt nicht Peer Olsen, Jens Lie!«

Sie sprach es ruhig, mit festem Ton und drängte ihn sanft zur Türe hinaus. Dort zog sie ihn nieder auf eine Bank, die hart am Abhang der Düne lehnte, und schlang ihre Arme um seinen Hals.

So saßen sie schweigend lange Minuten. Zu ihren Füßen lag dunkel das Meer, gleichmäßig atmend, ein müder Riese, vom Schlaf befangen. Ein paar verspätete Fischerboote glitten vorüber mit nächtlichen Segeln. Feurigen Streifen gleich kreuzte ihr Kielwasser netzartig, kraus die glatte Fläche, und durch die Stille zog wehmütig, fern, als eine tief versunkene Melodie der Mollklang einer Harmonika.

»Morgen!«

Silke flüsterte es mit zuckenden Lippen.

»Morgen!«

Jens Lie wiederholte das kleine Wort in ernster Feierlichkeit, und vor ihren Seelen stand dieses »Morgen« als ein Mysterium von strahlendem Glanz. Dann schieden sie von einander.

»God Nat, Silke.«

»God Nat.«

Die Tür fiel ins Schloß, Jens Lie war allein.

Nachdenklich trat er den Heimweg an und suchte sein einsames Lager auf in Peer Olsens Herberge drunten am Wasser. Dort lag er Stunden mit offenen Augen, ruhlos sich auf die Seite wälzend, denn ihn floh der Schlaf während dieser Nacht. Es dunkelte noch, er sprang auf die Beine und lief mit langen Schritten quer durch die Kammer hin und her, die Sekunden zählend, die rinnend ihn trennten vom neuen Tage, und als das erste Dämmergrau in weichem Strom durch die Scheiben floß, da löste sich aus seiner Kehle ein wilder, triumphierender Schrei, wie ihn der Hirsch ausstößt an der Tränke im herbstlichen Wald.

Also grüßte Jens Lie die erwachende Sonne.


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