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VIII.

Die Nacht brach an, undurchdringlich und finster.

Verschwunden war der frische Atem des Nordnordwest, der seit drei Tagen salzsprühend über die Insel gebraust war. Ein schwüler Gluthauch zog drückend herauf von den Wassern, die gleich geschmolzenem Blei trag rinnend den Strand umspülten, und blitzartig schnell, ein verirrter Vogel, flog fernes Wetterleuchten mit fahlem Glanz durch den dunklen Raum über blasse Dünen hinweg zu den Scheiben der kleinen Kammer, in der Jens Lie und Silke die Stunde der Trennung erwarteten.

Sie sprachen nicht viel, die beiden, durchdrungen von dem gleichen Gefühl, daß jedes Wort, so sehr sie es auch zu meiden suchten, doch immer aufs neue erzitterte in dem Gedanken an den bevorstehenden Abschied, und so betäubten sie denn ihren Schmerz mit stummen, verzweifelten Liebkosungen, die sie erschöpft in die Kissen zurücksinken ließen, um ein paar Augenblicke in ruhelosem Schlummer den Grund ihres Kummers zu vergessen.

Doch auch der Schlaf blieb ihnen versagt während dieser Nacht.

Mit unerbittlich eherner Regelmäßigkeit schlug schrill die runde Holländer Schiffsuhr, die einst Kapitän Lund begleitet auf seinen Fahrten und die nun schräg über dem Kachelherd das Ziel ihrer Weltenwanderung gefunden. Gespenstisch jagten die schwarzen Zeiger am blaugemusterten Zifferblatt ohne Aufenthalt dem Morgen entgegen, nur matt beleuchtet von dem trüben Schein, den die versiegende Öllampe gab.

Von ihrem Lager verschlangen die zwei mit lidergeröteten, schweren Augen den Fortschritt der Zeiger Strich um Strich, und hätte an Stelle des tränenden Lichts die dichteste Dunkelheit den Pupillen die Sehkraft genommen, so hätten die Körper doch, jede Sekunde auskostend und jede Minute, das Schwinden der Stunden gefühlt, als wenn sie durch unsichtbar feine Fäden verbunden gewesen wären mit jenem tickenden Räderwerk, das atemlos feilend Sieger blieb über all die anderen stillen Geräusche der Nacht.

Und dann war es plötzlich, daß Silke emporfuhr mit leisem Wimmern, Jens Lie umklammernd in wirrer Angst.

»Die Toten stehen auf!«

Ihr stumpfer Blick hing wie gelähmt an einem der eckigen Balkenfenster, an dem der Regen prasselnd sich brach, als klatschten gleichmäßig pfeifende Streiche auf eines Menschen nackten Körper hernieder, daß Blutfäden rieselnd der Haut entspringen.

Jens Lie, der Silkes Augen gefolgt, gedachte schaudernd jenes armen Teufels, den er in Tunis peitschen gesehen, bis ihm ein Mantel von Scharlachrot die braunen Schultern hinunterfloß, und nie vergaß er das qualheisere Stöhnen, das sich des Gefolterten Zähnen entrungen, als dieser sterbend zu Boden sank.

Und nun, war das nicht der nämliche Laut, der eben an seine Ohren drang?

Bestürzt griff Jens Lie nach dem Feuerzeug und zündete eiligst die Lampe an, nachdem er Öl auf den Docht gegossen, der schwelend just am Verlöschen war. Auf flammte der Funke in rostfarbener Glut und zeigte ihm Silkes verzerrtes Gesicht, die aufgerichtet im Bette saß und, hinstarrend nach der Bohlentüre, in fiebernder Hast zu sprechen begann.

»Die Toten stehen auf vom Grunde des Meers!

Du glaubst es nicht?«

Ihre Augen wurden weit vor rotem Entsetzen wie die eines Tiers.

»Gerd Boje war hier.«

»Gerd Boje, der an den Westerbänken –?«

»Ertrank? Derselbe!

Er stand dort am Fenster. Ich erkannte ihn gleich an seiner Narbe über den Brauen und der wassertriefenden Lederkappe.«

Ein Frösteln lief über Silke hin, als Jens Lie ihren Kopf behutsam, zart an seine breite Schulter legte und ihr mit ruhiger Zärtlichkeit das hängende Haar aus der Stirne strich.

»Was dir nur einfällt, Silke, du träumst. Der Blitzschein war's, und an den Scheiben der Wasserdunst.«

Doch zitternd schob Silke die Hände Jens Lie's zurück mit einer fast feindselig schroffen Bewegung.

»Ich sah Gerd Boje da draußen stehen. Er stierte mich an und war grünlich blaß, wie der fremde, ertrunkene Matrose es war, den neulich das Meer an den Strand auswarf.«

Ihre Stimme schlug um in herzbrechendes Weinen.

»Sie sagen, in Strandby habe die Nacht, da Gerd Boje im Nebel den Weg verlor, ein Licht gebrannt auf der äußeren Düne. Das kam aus Inge Mikkelsen's Fenster, die um Gerd Boje's Leben bangte.

Das Licht hat geflackert bis morgens früh, und Inge Mikkelsen saß dabei, der Heimkehr harrend des grauen Kutters, der, von Gerd Boje's Hand gesteuert, im Nachtsturm den Westerbänken entgegenjagte, dem Garten des Todes, wie sie sie nennen.«

Eines Augenblicks Kürze blieb Silke still. Jens Lie vernahm deutlich das zerrende Hämmern ihres kleinen Herzens und folgte dem Spiel der schmalen Finger, die unruhig tastend die Decke berührten, indeß ihre Augen den Raum durchflogen, – flatternde Vögel, von Böen verweht über des Ozeans rollende Einsamkeit –, um endlich nach langem Irren sich festzusaugen an dem weißen Antlitz der Holländer Schiffsuhr, die eben die dritte Stunde schlug.

»Es war um dieselbe Zeit, wie heute, – so sagtens die Leute von Strandby mir –, da hat ein grauenhaft wilder Schrei das ganze Dorf aus dem Schlaf geweckt, ein Schrei, wie ihn nur ein Mensch ausstößt, der nach fruchtlosem Ringen dem Tod sich gibt.

Das war Gerd Bojes Abschiedsruf an Inge Mikkelsen, seine Braut, als er samt seinem zerschmetterten Boot in Gischt und Schaum zu Grunde ging.«

Jens Lie war diese Geschichte bekannt. Er hatte sie öfters schon angehört mit einer gewissen Gleichgiltigkeit, die ihn, den Starken, stets überkam, wenn man in seiner Gegenwart über solche Dinge zu sprechen begann, die nach Gesetz und Ordnung der Welt nun einmal zum Seemannsberuf gehören.

Doch heute spürte auch er das Grauen, das ihm, als dem Einzigen, fremd gewesen; heut konnte er jene Verzweiflung verstehen, die Gerd Boje's Lippen den Schrei erpreßt, da er mit letzter Kraft den Menschen Kunde gegeben von einem fürchterlichen Geheimnis, das nie ein Lebender noch zu enthüllen vermocht.

Und so beugte Jens Lie sich nieder zu Silke, die Wange anschmiegend an ihren Hals, umfaßte den Leib seiner jungen Frau mit dem eisernen Griff seiner sehnigen Arme, als wolle er hindern, daß jene Macht, die er nicht kannte von Angesicht zu Angesicht, ihm diesen weichen Körper entreiße, der seit zwei Monden sein eigen war.

Doch Silke erwiderte teilnahmslos, nur matt die Liebesbezeugung Jens Lie's. Sie fühlte wohl kaum den Hauch seines Atems. Denn ihre Gedanken liefen im Kreis, sich hetzend, zurück zu dem toten Gerd Boje, des vergrämtes Gesicht sie am Fenster gesehen, und wieder hub sie zu flüstern an mit scheu verzogenen Kinderlippen:

»Es ist noch nicht alles, was sie mir sagten von den Geschehnissen jener Nacht.«

»Nicht alles?«

»Die Leute wußten's so wenig, als du. Denn Inge Mikkelsens Mund blieb stumm, bis man ihr die Leiche ins Haus gebracht.

Erst als die Träger gegangen waren, da hat sie krampfhaft mich angepackt und mir, aufheulend vor Schmerz, erzählt, was den Andern bis heute verborgen blieb:

Wie sie am Fenster gesessen hat und die Stunden verwacht beim Zischen des Sturms, der dröhnend sich auf die Wasser warf, als schmiede man Eisen auf glühendem Stahl. Wie sie der Brandung gelauscht an den Bänken, der Brecher pfeifenden Orgeldiskant vernommen mit ängstlich bebendem Ohr und halb bewußtlos in die Flamme der Kerze geblinzelt, die abends sie sorglich ans Fenster gestellt, damit Gerd Boje den Weg nicht fehle.

Und plötzlich – – –«

Silke bäumte sich jäh empor und sprang aus den Kissen, zur Lampe hineilend mit nackten Füßen. Ihr weißes Hemde schwang wie ein Nebel um ihre braunen, festen Kniee. Hell, überstürzend fielen die Worte.

»Das Licht, das gleichmäßig, still gebrannt, flackert auf, ah, – ein – zweimal, taumelt hin und her. Der Docht schwankt, neigt sich zur Seite, windet sich röchelnd, wehrt sich und sinkt hinten über. Sein schwarzer Faden ragt einer Sekunde Bruchteil heraus aus dem flüssigen Fett, einem Arme gleich, der, halb erstarrt schon, erscheint auf dem Kamme der Woge, um eben so rasch zu verschwinden im Tal des nächstfolgenden Wasserberges.

Es war um dieselbe Stunde der Nacht, da Gerd Boje's Boot an den Bänken zerschellte, daß das Licht erlosch auf der Fensterbank in Inge Mikkelsen's Mädchenkammer.«

Silke verstummte.

Sekundenlang sahen die beiden Menschen sich an mit sinnlos flimmernden, nassen Augen. Dann stürzte Silke an die Brust Jens Lie's und, ihren Mund seinem Ohre nähernd, rief sie mit leidenschaftsdunkler Stimme:

»Eine Kerze soll leuchten für dich, wenn du heimkehrst, Jens Lie! Du wirst sie sehen von der Westerbank, wie sie brennend der Wartenden Sehnsucht kündet, der dieses trübe summende Licht der Gefährte einsamer Nächte war.«

Und zusammengekauert im Schoß ihres Mannes, hielt Silke den Blick geheftet auf den glühenden Docht der tönernen Lampe, bis ihr die Lider sanken vor Mattigkeit.

Jens Lie aber wiegte sein junges Weib auf seinen Knieen, so gut er konnte, ihm zusprechend mit einer sanften Rauheit, wenn Silke, vom Grollen der See erweckt, aufschrak, daß plötzlich ihr Atem stand.

»Was gibt es, Jens Lie?«

»Nichts, Silke, nichts!

Es ist das Meer, der Mörder!«

»Das Meer?«

Ach ja, sie wußte, es war das Meer, dem sie alle gehörten hier auf der Insel.


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