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Ein früher Herbst schloß den Sommer ab. Die Luft war klar wie gesponnenes Glas.
Das Meer verlor seine träge Ruhe und donnerte wild an den Westerbänken. Es trug eine dunkle Rüstung von Stahl, verziert mit blitzenden Silberbändern, die meilenweit schäumend die Fläche durchzogen, den Maschen gleich eines Kettenpanzers.
Mit bissigen Stößen zerfetzte der Wind das scharlachrote Festkleid der Haide und, niederschießend vom graublauen Himmel, fiel das Gelichter der Raubmöwen ein in dichtem blendendem Schneegestöber.
Silke folgte dem weißen Getümmel mit sehnsüchtig blanken, verlangenden Blicken.
Wer Flügel hätte, den Vögeln gleich zu schwingen sich über das trennende Meer!
Doch sie war nur ein Mensch, den die Scholle band, unfähig zu tun, was jene taten, und mißmutig schüttelte sie ihr Haar, daß es glänzend schwarz vor dem Sturm herflog wie die Seidenmähne der Araberstute.
Sie stand an dem äußersten Rande des Steilabfalls, den der Insel Südspitze turmhoch fast zur Meeresfläche hin abgestürzt. Es war der höchste Punkt des Eilands, das, sich verflachend zur Kirche hin, jenseits der dammumschlossenen Landenge nur wenig sich über das Wasser erhob.
Von hier aus irrte schwindelnd ihr Auge hinaus in die rauschende Einsamkeit; tief unten der Wogen Ewigkeitsschlag, verschwimmend im Dunst der Horizont, und winzig klein, zu erspähen kaum, weit draußen ein dreikantig spitzes Segel, das Silke als Sindal gehörig erkannte, der auf seinem seefest gedeckten Boot den Pflichten seines Berufs oblag.
So blieb sie schauend, versunken Minuten, den scharfen Salzhauch der Luft genießend mit wohlig geöffneten, rosigen Nüstern. Dann streckte sie lang sich ins Haidekraut aus und ließ ihre ruhlosen Sinne wandern.
Die Vogelbeeren dort drüben am Strauch, sie trugen das frische Rot der Korallen; die Blätter braun, schwarzscheckig gefleckt, und hier des Ginsters goldgelbe Büsche, in deren bienenumsummten Blüten sie wühlend den Arm bis zur Schulter eingrub, was hatten sie alle besonderes denn, daß sie ihr Herz mit Freude erfüllten, unbändig pochender, lachender Freude?
Ach, wenn sie es sich nur gestehen wollte, daß nicht die feuerfarbene Schönheit ringsum, nicht der Möwenschrei und das Brausen des Wassers, nein, daß allein der Gedanke es war, der ihr das Blut durch die Adern jagte, der Gedanke, wie schnell ihr der Sommer verronnen und wie der Herbst den Übergang nur zu dem bald zu erwartenden Winter bilde, nach dessen düsterdämmernden Nächten der Frühling komme und mit ihm Jens Lie.
Jens Lie!
Und die Erinnerung an den, dessen Weib sie geworden, dem sie ihres Leibes Jungfräulichkeit geschenkt in zitternder Liebesdemut, erregte die Glut ihrer Seele aufs neue und weckte leise quälende Wünsche.
Warum er nur einmal inzwischen geschrieben, wo er doch wußte, daß jedes geringe Wort von ihm für sie einen festlichen Tag bedeute?
Aber hatte er selber nicht gesagt, er werde von Bord der »Dronning Marie« und dann erst wieder vom nächsten Haien, den man zum Anlaufen vorgesehen, ihr Nachricht senden, wie es ihm gehe?
Gewiß war ein zweiter Brief für sie unterwegs, tagtäglich konnte sie ihn erhalten, und der Glaube an diese Möglichkeit machte sie froh und ruhig zugleich.
Sie stützte die Hände fest auf den Boden und reckte sich auf, bis ihr Körper knieend emporragte über das niedere Gestrüpp. Dann nahm sie ein Brotstück aus der Tasche, zerbröckelte es zwischen ihren Fingern und warf die Krumen den Möwen als Lockspeise hin, die, gierig kreischend die Beute bemerkend, ihr Haupt umschwirrten raschelnden Flugs, um als ein flecklos gebleichtes Leintuch sich niederzulassen auf dem purpurnen Grunde der Haide.
In diesem Augenblick knallte ein Schuß, mit hohlem Knattern die Stille durchbrechend. In dumpfen Schwingungen rollte das Echo fern über das Meer und die Westerbänke. Jäh aufgeschreckt hob sich die Wolke der Vögel und flatterte wild zerstäubend ins Blau.
Nur einer von ihnen vermochte nicht mehr die flüchtige Hast der anderen zu teilen. Schwerfällig suchte er mit letzter Kraft gleich den Gefährten die Höhe zu gewinnen, doch nach ein paar krampfhaft gezogenen Kreisen stürzte er, sich überschlagend, zur Erde, wo er blutübertaut, mit brechenden Augen dicht neben Silke liegen blieb.
Die sprang eines Unheils gewärtig herum. Und ihre Ahnung täuschte sie nicht. Denn zwei Schritt weit von dem Platz, da sie gesessen, stand Steuermann Tymme, die rauchende Büchse im Arm, und lud den abgeschossenen Lauf.
Es war nur einen kurzen Moment, daß Silke wie hilfeheischend sich umsah. Doch einsam dehnte sich, menschenleer, weithin die Haide in herbstlichem Glanz, und draußen auf See schwamm Sindal's Boot, ein schwarzer Punkt, verloren im Raum.
So war sie allein auf sich angewiesen in dem ihr bevorstehenden harten Kampf. Und daran hegte sie gar keinen Zweifel, daß Steuermann Tymme, wie sie ihn kannte, den Vorteil nicht aus der Hand geben würde, den ihm diese zweite Begegnung bot.
War er doch bei jener ersten nur durch Sindal's Erscheinen verhindert worden, sich Silke ungestört nähern zu können, und die verschiedenen ergebnislos verlaufenen Versuche während des Sommers, die sie aus der Ferne stets abgeschlagen, würden den Grad seiner Leidenschaft nur erhitzt haben bis zur Gewalttätigkeit.
Und während sie ruhig dies alles erwog, verspürte sie seltsamerweise nichts von dem gliederlähmenden Angstgefühl, das damals noch ihre Sinne beherrscht, als sie Tymme am Fuße der Dünen traf.
War es des Weibes erwachende Stärke, die des Mädchens zaghafte Scheu verdrängt?
War es die Kraft der jungen Mutter, die unter dem Herzen ein Leben trägt und den wachsenden Keim bis zum Tode verteidigt?
Hoch aufgerichtet, den Kopf zurückgeworfen, trat Silke langsam auf Tymme zu. Eine Weile blickten sie beide sich an, die Augen tief ineinander bohrend. Dann schürzte Silke verächtlich die Lippen und sagte mit dunkel vibrierender Stimme:
»Den Weg gebt mir frei!«
»Den Weg? Ganz recht.«
Steuermann Tymme lachte heiser zwischen den Zähnen.
»Nur vorher, mein Vogel, will ich den Lohn dafür, daß ich dich hier von der Stelle lasse.«
Und mit plötzlichem Anprall warf er sich auf den schmächtigen Körper des jungen Weibes.
Doch darauf hatte Silke gewartet. Zurückschnellend jäh vor dem Stoß des Mannes, vereitelte sie die Gefahr der Umklammerung, und Tymme, des hemmenden Halts beraubt, sank strauchelnd nieder in seine Kniee, indes seine Faust noch, die Silke erreicht, mit rohem Griff ihr Gewand zerriß, daß zwischen den Fetzen des wolligen Stoffs die zarte Rundung der Brust bloß lag.
Und dies gerade wurde Silkes Rettung.
Denn während der Steuermann gierigen Blicks den bronzeschimmernden Körper verschlang, riß Silke entschlossen vollends sich los und packte den Schaft von Tymmes Büchse, die, bei dem Fall seinen Händen entglitten, nun blitzschnell an ihrer Wange ruhte, schußfertig, mit gespanntem Hahn, wie sie es von Kapitän Lund gelernt, den Langeweile und Müßiggang dereinst auf der Insel zum Jäger gemacht.
»Halt, Steuermann Tymme, das Spiel ist mein!«
Ihre Stimme loderte hell vor Zorn.
»Einen Schritt noch weiter, und ich stehe für nichts.«
Sie wies mit dem Kopf auf den sterbenden Vogel, der glanzlosen Auges, matt nur zu den beiden Menschen herüberstarrte.
»Zu Unrecht traf eure Kugel das Tier. Die meine fände ihr Ziel zu Recht.«
Rasselnd, atemlos unter dem Eindruck der jüngst bestandenen Erregung, quollen die Worte hervor aus den blutleeren Lippen, deren Zittern. Silke ebenso fruchtlos zu meistern bemüht war, wie das Beben der sonst so kräftigen Kniee, als sie, den Gegner in Schach haltend mit der seine Stirn bedrohenden Büchsenmündung, vorsichtig, lauernd den Rückweg antrat, Meter für Meter dem Haiderande entgegen, an dessen sandumsäumten Hügeln sie Praest Petersen's Weißhaar zu sehen wähnte.
Steuermann Tymme wehrte ihr nicht.
Sein Hirn war völlig betäubt von der Tatsache, daß er, ein Kerl von Muskeln und Knochen, einer schwachen Frau unterlegen war, deren kaltblütige Besonnenheit sein Ungestüm zunichte gemacht.
Erst als der trennende Raum zu groß, um Silke erfolgreich nachzusetzen, verließ ihn die unerträgliche Stumpfheit, sich allgemach wandelnd in lautlosen Grimm.
Und während er, schwer in den Büschen sich wälzend, die Blüten des Ginsters im Umkreis zerfetzte, drang an sein Ohr sehr fern, doch verständlich, was Silke ihm zurief von der Kuppe der Dünen:
»Zum letztenmal sag ich euch, Steuermann Tymme, daß keine Gemeinschaft zwischen uns sein kann und daß ich dem, der mein Glück zerstört, als Pfand das eigene Leben nehme, wo er es auch immer vor mir verbirgt!«