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Wieviel Uhr?« fragte der Meister wenige Augenblicke später.
»Sechs Uhr,« erwiderte Gutmann, der ihn immer noch in seinen Armen hielt.
»Morgens oder abends?«
»Abends.«
Friedrich seufzte tief auf.
»Ist jemand draußen?« fragte er.
»Franchomme, Graf Albert Grzymala, die Fürstin Marcelline Czartoryska, deine Schwester und Abbé Jelowicki.«
Der Meister bewegte nachdenkend die Brauen.
»Verhäng' den Spiegel!« sagte er, auf den Trumeau am Fenster weisend, und da er Gutmanns Zögern merkte, fügte er gleichsam als Aufklärung hinzu:
»Ich habe mich gesehen, wie mich kein Spiegel zeigen kann!«
Gutmann tat, was ihm befohlen.
»Wünschest du noch etwas?« wandte er sich an den Sterbenden.
Friedrich drückte ihm die Hand.
» Cher ami …,« flüsterte er.
Gutmann brach in lautes Schluchzen aus.
»Laß alle herein!« sagte der Meister.
Das Wohnzimmer glich einem Lager oder einer Feldwache. Freunde kamen und stürzten hinweg. Man lief zum Arzt, zur Apotheke, ein jeder glücklich in der ihm zugewiesenen Rolle, und nur die Journalisten standen kühler Neugier voll, ihr Handwerk auch im Vorhof des Todes nicht verleugnend.
Als Gutmann eintrat, richteten sich aller Blicke auf ihn. Er mußte stark sein, räusperte sich und sagte schließlich kurz:
»Es geht zu Ende …«
In diesem Augenblick öffnete sich die Türe zum Salon, und ein Diener in großer Livree glitt lautlos unter die Versammelten.
»Ihre Gnaden die Gräfin Potocka!« meldete er, sich verbeugend.
Gutmann fühlte, wie ihm heißer Dank die Kehle hochquoll.
Sie, die der Meister gleich einer himmlischen Erscheinung liebte, für deren Stimme er geglüht vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft, war aus Nizza gekommen, den Verscheidenden zu segnen!
»Ich will ihn vorbereiten,« sagte er.
Friedrich erwartete ihn, in den Kissen sitzend.
»Was bringst du?« fragte er wie aus einer Ahnung.
»Die Gräfin Potocka!« antwortete Gutmann, und seine Schultern zuckten vor Bewegung.
Da flog ein Lächeln über des Meisters abgezehrtes Antlitz.
»Delphine,« rief er, »nun weiß ich, warum Gott mich so lange warten ließ. Es war um dieser Freude willen, die ich noch erleben sollte!«
Von Gutmann gestützt, die Schwester und Marcelline Czartoryska sich zu Häupten, indes Franchomme und Abbé Zelowicki am Fußende des Bettes lehnten, empfing er die aus dem Süden Hergeeilte.
»Sie haben die Reise nicht gescheut,« sagte er mit einem Versuch, galant zu sein, spürte jedoch das Widersinnige der Phrase und hob schweigend den Arm zum Gruß.
Delphine Potocka, groß, schlank, in einem wallenden Gewand aus weißem Kaschmir, den dunklen Scheitel von einer Wolke silberdurchwirkter Schleier umhüllt, neigte sich weinend über seine Stirn.
»Mein teurer Freund …,« murmelte sie und legte einen Strauß tiefblauer Veilchen auf die Decke.
Friedrichs Finger spielten mit den Blumen.
»Ich habe eine Bitte,« sagte er heiser und mit Unterbrechungen:
»Singen Sie, wie Sie früher für mich gesungen haben! Es ist das Letzte, was ich mir auf Erden wünsche.«
Niemand fand den Mut, zu widersprechen. Der Flügel ward an die Tür des Schlafzimmers gerollt, und dann erklangen die Worte jenes Psalms, den ein Meister altkirchlicher Musik vor grauen Dezennien vertont:
»
Io sempre t'amerò clemente e giusto dio,
Uhe sei la mia fortezza mio sostegno e refugio,
Cagion del mio sperar, mio ajuto e mia difesa,
Forza che m'ha salvato mio solo e dolce asilo …
Gleich einer gefangenen Schwalbe, der Mitleid den Kerker auftat, daß sie schüchtern die Schwingen regte und jubelnd aufstieg in die Herrlichkeit, schallte die Stimme durch den Raum. Sie war wie eine lichte Melodie, zu der Seufzen und Klagen eine düstere Begleitung bildeten.
Der Meister faltete die Hände.
»Musik,« sagte er laut, »du Werkzeug Gottes, bestimmt, die Menschen selig zu machen und zu trösten …«
Plötzlich färbte sich sein Antlitz violett.
»Luft,« röchelte er, »ich ersticke!«
Die Anwesenden fielen in die Knie, und während man rasch das Instrument hinwegtrug, sprach Abbé Jelowicki aus dem Halbdunkel des Alkovens:
»Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhöfen des Herren; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Wohl denen, die in Deinem Hause wohnen; die loben Dich immerdar.«
Am Morgen fühlte sich der Kranke besser, und, wie erkennend, daß er die Stunde nützen müsse, bat er, man solle Abbé Jelowicki holen, damit er beichte und des heiligen Oels teilhaftig werde.
Es war ein feierlicher Augenblick, als man den Tisch mit einem weißen Linnentuch bedeckt, Wachskerzen und ein Kruzifix daraufgestellt, als im Chorrock der Priester eintrat, das hochwürdigste Gut über der Stola, und seine Lippen den Friedensgruß entboten:
» Pax huic domui et omnibus habitantibus in ea!«
Das Sakrament absetzend, näherte er sich dem Meister, der ihn dankbar und voll Rührung ansah, bekreuzigte ihn mit geweihtem Wasser und kehrte an den Tisch zurück, vor dem er inbrünstig im Gebet versank.
Wie konnte er die Seele angemessen überliefern?
»Du allein, Herr, wollest sie zu Dir nehmen!« flehte er.
Dann gab er Friedrich ein Bildnis des Gemarterten und drückte es fest in seine Hände.
»Glauben Sie?« fragte Abbé Jelowicki.
»Ich glaube.«
»Wie Ihre Mutter Sie gelehrt hat?«
»Wie meine Mutter mich gelehrt hat …«
Und seine Augen auf den Leib des Heilandes gerichtet, beichtete der Meister unter Tränen.
Hierauf genoß er das Viatikum, empfing die Oelung, so erschüttert durch die Gnade, die ihm widerfuhr, daß er, als der Akt vollendet, beide Arme um den Priester schlang.
»Dank Ihnen werde ich nicht sterben wie ein Schwein!« rief er, mit diesem seinem Wesen fremden Ausdruck jenes Unermeßliche bezeichnend, das sich reinigend an ihm vollzogen.
Einst hatte er gewünscht, sein Weg möge ihn zu den Sternen führen. Nun stand er dicht am Ziel, froh der Gewißheit, daß alle Trennung zeitlich und daß er einer ewigen Vereinigung entgegengehe.
Im Lauf des Tages nahm er von den Freunden Abschied, für jeden ein Wort der Liebe, einen stummen Blick und eine zärtliche Bewegung übrig habend. Klar bei Bewußtsein erteilte er sodann mit schwacher Stimme seine Anordnungen.
Die Fürstin Czartoryska zu sich rufend, sagte er: »Ich empfehle Ihnen Franchomme. Sie werden mir zum Gedächtnis Mozart spielen.«
Danach zu den anderen: »Mein Wunsch ist, daß man im Gesellschaftsanzug mich begrabe!«
»Ja, Meister.«
»Der Sarg soll auf dem Père-Lachaise, mein Herz aber in dem Lande ruhn, das ich allein geliebt habe! Versprecht Ihr das?«
»Wir schwören es!«
Plötzlich packte er Louisens Hand.
»Tröste die Mutter!« keuchte er.
Ein Brustkrampf hatte ihn ergriffen. Sein Gesicht ward blaugelb, die Augen quollen aus den Höhlen.
In dieser Sekunde war es, daß er von Todesangst gejagt auf einen Zettel jene Worte schrieb, die man ehrfürchtig als sein letztes Autogramm bewahrte:
» Comme cette toux m'étouffera, je vous conjure de faire ouvrir mon corps, pour je sois pas enterré vif …«
Der Anfall war vorüber, Friedrich lag steif und unbeweglich in den Kissen. Als Abbé Jelowicki mit der Litanei begann, schwieg er bei den Respons, und nur das Rasseln seiner Brust bekundete, daß er noch lebe.
Die beiden Aerzte, die über den Sterbenden geneigt das Vorschreiten der Agonie verfolgten, wechselten einen kurzen Blick. Dann nahm der eine, Doktor Cruveillé, ein Licht und hielt es an Friedrichs schwarz gewordenes Antlitz.
»Leiden Sie?« fragte er.
»Nicht mehr,« antwortete der Meister deutlich.
Er war sehr weit fort, irgendwo in einem Raum, darin die Luft still schien und von durchsichtiger Schöne. Jugend, Alter, Weisheit einten sich zu einem Strom, und er glitt diesen opalenen Strom hinab, auf dessen Grunde ein ernster, gütiger Schemen dämmerte.
»Mutter!« rief er und noch einmal:
»Mutter …«
Seine Augen starrten in die Helle wie die weißen Flügel eines Schmetterlings. Dann sank die Hand über den Bettrand, und während seine Lippen sich zu einem Lächeln öffneten, entfloh die Seele, die geängstete, scheue, Gott suchende.