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Drittes Buch
Tod

 

I.

Das Meer rauschte grau und weit. Die kurzen Wellen, die den Kanal hinab zum dämmernden Atlantic rollten, brachen sich aschfarben am Hafendamm. Bleiche Segel kränzten den Horizont, und die Laternen des Paketboots warfen rote Streifen auf das Wasser.

Friedrich, den eine Schaluppe von Boulogne an Bord gebracht, lehnte mittschiffs bei der Reling. Lager, in seinen Mantel gewickelt, stand er vorgebeugt, einem halboffenen Taschenmesser gleich, den Blick auf die Küste Frankreichs geheftet, die in den Rauchwirbeln des Dampfers schwand.

Erst jetzt schien ihm der Abschied Wahrheit, die Trennung endgültig vollzogen, nun ein Ozean des Leidens zwischen ihm und jener Frau sich wälzte, der zu fluchen er mehr als einmal nah gewesen, die er liebend gleichwohl hassen mußte, und die – so fühlte er – bis an sein Ende ihm qualvoll süßeste Erinnerung bleiben werde.

Wenn er den Wochen der Krankheit nachsann, da er hilflos in Gutmanns Pflege lag, da kein Brief von George ihn erreichte und diese durch den Hausherrn ihre Wohnung räumen ließ, deuchte ihn unbegreiflich, daß er solches alles überstanden, ja, daß er, ein kaum Genesender, die Kraft gefunden, in fremdem Lande Vergessenheit zu suchen.

Paris, die Buhlerin, hatte ihn satt! Berauscht vom Blut der Barrikadentage, sang sie das Lied der Republik, und er, voll Teilnahme für die gestürzten Orléans, folgte den Spuren Louis Philippes, gewillt, London zum Schauplatz seines Spiels zu machen.

Die Freunde, die ihn dort erwarteten, Stirlings von Keir: Jane, ihm als Schülerin verbunden, und Frau Erskine, ihre Schwester, würden alles tun, den Uebergang ihm zu erleichtern, und neu belebt hob er die Augen und wandte sie dem anbrechenden Morgen zu.

Das Meer wogte in rosenfarbenem Schaum. Ein großer Dreimaster, von Dover kommend, glitt, Sonne auf höchstem Segel, dem Atlant entgegen, und nun, da ein Lotsenkutter sich vom Lande löste, sah man ob blauem Wasser den Kreidehang der Steilküste, mit Läufern wie aus einer Spielzeugschachtel, zierlich gebaut, und Scheiben, die das Rot des Tages widerstrahlten.

Friedrich läutete dem Platzbedienten.

»Ich gehe in Folkestone von Bord!«

»Ja, mein Herr …«

»Sie haften mir für meine Koffer?«

»Jawohl, mein Herr.«

 

Vier Stunden später saß er in einer leichten Postchaise, die ihn, die Pferde im Galopp, nach London trug. Ein kurzer Schlaf, in Folkestone getan, hatte das Unwohlsein verscheucht, das ihn nahe dem Hafen zu befallen drohte, und so flog die Landschaft heiter seinem Auge, Höfe und Parks in erstem Frühlingsgrün, Wiesen, Buschwerk und versteckte Wasserläufe.

Ein blaßblauer Himmel wölbte sich über dem Gefährt, grau an den Rändern, die nördlich in einer Dunstwolke zusammenflossen. Es war wie ein riesiges Fanal, auf Meilen sichtbar, ein Qualm von Kohle, der die Luft verfinsterte, und schärfer blickend, erkannte Friedrich die Umrisse der Weltstadt.

Beklemmend dünkte ihn das Häusermeer, nicht wie Paris gewaltig und doch farbigster Schönheit voll, nein, unharmonisch in den Ausmaßen, düster und das Sinnbild nüchternsten Geschäftsgeistes: die Vororte mit schwarzen Lagerschuppen, der Stein der City, Cavendish Square und endlich Bentinck Street, vor deren Nummer 10 der Wagen in rascher Anfahrt hielt.

Friedrich stieg aus und trat, während der Kutscher das Gepäck abschnallte, taumelnden Schrittes in das Erdgeschoß. Der Housekeeper, eine Frau von sauberem Aussehen, begrüßte den ihr durch Mrs. Erskine warm empfohlenen Gast und führte diesen, als sie seine Schwäche wahrnahm, vorsorglich in das erste Stockwerk.

Zwei Vorderzimmer mit rückwärtigem Kabinett bildeten steif möbliert die Wohnung. Rote Camelias standen auf dem Tisch, Silber, Porzellan, in einer Kanne zum Gebrauch gerichtet Schokolade, daneben Schreibzeug, Federn und Briefpapier mit eigenem Monogramm.

Friedrich sank kurzatmig auf einen Stuhl.

Die biederen Erskines! An alles hatten sie gedacht. Sogar der Morgentrank, wie er ihn in Paris gewohnt, fehlte auf ihrer Liste nicht!

Und doch … die Blumen, sah er sie nicht zu einer Gruppe gestellt, dahin der Schritt üppig gespannter Seide ihn begleitete?

Schweiß drängte sich ihm auf die Stirn.

Wohin war seine Kunst geraten? Und sein Herz, wo hatte er es vergeudet?

Er war ein Fremder hier, trotz Freunden einsam, und fühlte sich müde bis zum Tod.

 

Die Season stand auf ihrem Höhepunkt. Kalkbrenner, Thalberg, Berlioz, Pauline Viardot und Jenny Lind zwangen das Publikum zu Beifallsstürmen, und es war eine Ehrung besonderer Art, wenn H. F. Chorley ankündigend im »Athenäum« schrieb:

»Herrn Chopins Besuch ist ein Ereignis, für das wir der jungen Republik recht herzlich danken müssen!«

Friedrich trieb tief im Strudel gesellschaftlichen Lebens. Die erste Woche in dumpfem Hinbrüten verbracht, dann, als Sonne ihm das Atmen leichter machte, Wohnung gewechselt und in Daniel, einem Irländer-Franzosen, sich des Dieners bester Art versichert, hatte er seine Empfehlungsbriefe abgegeben und war, wie man in London sagte, eingeführt.

Die Herzogin von Sutherland lud ihn zusammen mit der Königin. Prinz Albert, Wellington, die Ladies Dover, Stanley, Peel und Gainsborough lauschten in Diamanten strahlend seinem Spiel. Mrs. Sartoris und der Earl of Falmouth stellten ihm ihre Räume zur Verfügung, und Friedrich gab darin zwei Matinéen, die ihm, eine Guinea für den Platz, an Reingewinn dreihundert Pfund einbrachten.

Dieses, verbunden mit der Tatsache, daß auch Schüler sich fanden, die mehr zwar der Ruhm des Namens als Lust zum Lernen zog, half dem Todkranken jene Widerwärtigkeiten tragen, die ihm aus den Entfernungen, der Späte Londoner Gesellschaften und halböffentlichem Auftreten erwuchsen.

Drei Stunden im Wagen erschienen ihm wie eine Reise von Paris nach Folkestone, und wenn er am Konzerttage zu Broadwood kam, um die für ihn bestimmten Flügel zu probieren, war es Daniels geschulter Arm, der ihm die Treppe zum Klavierzimmer emporhalf.

Das Leben aushustend in seiner Wohnung, bestieg er allabendlich die Equipage, um in die »große Welt« zu fahren.

Wohl spürte er, daß seine Körpersäfte sich erschöpften. Allein, was nützte dies Raisonnement, heut, wo es galt, für einen Sparpfennig zu sorgen?

Und er, der in Geldsachen ein Grandseigneur, litt es mit bleichem Stolz, daß Börsendünkel ihn frug, »wieviel er koste«.

Dann irrte sein Sehnen nach Paris.

Wie anders fühlten diese Engländer! Sie nahmen alles nur nach Pfunden, liebten die Kunst kräftig wie Roastbeef oder Schildkrötensuppe und glichen wandelnden Maschinen, aus deren breiten Mäulern Ströme von Guineen rollten.

Wäre ich jünger, dachte er, würde auch ich es ihnen nachtun, täglich Konzerte geben und die geschmacklosesten Dinge spielen, sofern es mir nur Geld einbrächte! Jetzt aber – großer Gott – aus sich eine Maschine machen?

 

In diese Verfinsterung des Gemüts fiel wie ein Strahl herbstlicher Sonne die Nachricht von den Ereignissen in Posen. Mieroslawski, vom Sturm der Märztage aus dem Gefängnis zu Berlin befreit, erhob im Großherzogtum die Fahne nationaler Freiheit.

Wie vor nun achtzehn Jahren griff der. Brand, von Westen kommend, auf das schwelende Europa über, und Polens Söhne eilten zu den Schlachtfeldern.

Friedrich erlebte Stunden grenzenlosen Glückes.

Den Traum, den er ein Leben geträumt, sah er nun am Rand des Grabes sich erfüllen. Eine Reorganisation war zugestanden, die teure Sprache ungestraft in aller Mund!

Was Wunders, daß er stolzer denn je zu einem Lande sich bekannte, dessen glorreiche Vergangenheit er seiner Zeit in Wort und Ton als Spiegel hingehalten?

Durch Briefe, die ihm aus Paris zukamen, blieb er aufs beste unterrichtet. Die Emigranten trafen sich in Posen, Fürst Czartoryski war als erster hingereist.

Schreckliche Dinge reiften zur Entscheidung, am Ende aber würde ein großes, glänzendes, mit einem Worte – Polen da sein.

 

Es war im Zusammenhang mit jenen Vorfällen, daß Mitglieder des Comitées in London Friedrich zu Ehren ein Festmahl gaben, dem außer ihm Karl Franz Szulczewski, Major und Veteran von Ostrolenka, Stanislaus Kozmian, bekannt als Publizist, und andere Patrioten beiwohnten.

Die Tafel brach unter der Last prunkvollen Geschirres, Blumenguirlanden schwangen sich von Stuhl zu Stuhl, und über Friedrichs Sessel prangte, von Kerzenlicht magisch umwoben, auf rotem Samt ein polnischer Adler, den Spiegel und Goldstuck hundertfach zurückwarfen.

Friedrich fühlte zu Tränen sich erschüttert. Toast um Toast klang ihm mit steigender Gewalt, und als in vorgerückter Stunde Stanislaus Kozmian unter ungeheurem Jubel den »königlichen Sänger Polens« feierte, erhob er sich, klopfte an sein Glas und sprach, von Rührung überwältigt:

»Mutter war mir das Vaterland, Schwester und Geliebte! Es zu verteidigen, fehlten mir Kraft und Arm. Drum sang ich Ruhm, wo andere kämpften. Auch heute, da ein neuer Tag der Freiheit angebrochen, ist es mir nicht vergönnt, zu den Unsrigen mich zu gesellen. Durch Worte vermag ich nicht zu danken. So bleibt nur mein Spiel, und wenn euch der Vorschlag angenehm, bitte ich euch, in meinem Hause am Klavier den Abend zu beschließen!«

Ein Beifallssturm begrüßte diese Rede. Wagen wurden bestellt, die Mäntel umgeworfen, und im Galopp fuhr man nach Friedrichs Wohnung, die dessen vorangeeilter Diener zum Empfang geöffnet und erleuchtet hatte.

Der große Raum, darin drei Flügel Broadwoods, Erards und Pleyels Namen kündeten, füllte sich mit beweglichen Gestalten. Blaue Taillenröcke, die mit Pelz und Schnürwerk reich besetzt, vertraten national die Gegenwart, dazwischen blich als Zeuge ruhmvoller Vergangenheit das Grün und Silber der Poniatowskischen Lanciers.

Dann fiel der erste Ton. Ein Grollen heraufziehenden Waffenlärms drang zündend in die adlige Versammlung. Der Glanz der Napoleonischen Legende flutete um die alten Fahnen, Säbel blitzten, und Lände reckten sich zum Schwur:

»Es sprengt der Reiter mit verhängtem Zügel
Durch Lithauens tiefen Schnee,
Und Polens Adler spannt die Sonnenflügel,
Ihm nach, insurgite!«

Zwei Stunden nach Mitternacht entfernten sich die Gäste und ließen Friedrich in einer an Erschöpfung grenzenden Mattigkeit zurück. Der Gemütseindruck, den der Abend ihm gebracht, die Anstrengung ekstatisch hingegebenen Spiels und endlich das über die Gebühr gefüllte Zimmer lasteten zentnerschwer auf seiner Brust. Er trat zum Fenster, öffnete es keuchend und sog, unbekümmert um die Folgen, den zähen Dunst des Themsenebels.

Die Stadt lag nächtlich, mit ihren schwarzen Häusern einer riesenhaften Gräberstätte gleich. Unratwagen rasselten von Tür zu Tür. Die Luft war voll ihres Geruches wie von Leichen, und Epitaphe schienen jene dunklen Läden, die, mit Eisenriegeln quer versehen, das Glas der Schaukästen vor diebischem Gesindel schützten.

Friedrich erschauerte. Wenige Sekunden früher noch im Mittelpunkt des freudigsten Getümmels, fühlte er sich plötzlich allen Lebens fern. Nur eine Dirne schlich in des Lasters letzter Phase zwischen den Kehrichttonnen hin und schwand mit heiserem Gestammel, da Friedrich, von Mitleid ergriffen, ihr ein Geldstück auf die Straße warf.

»Wir sind beide gleich verlassen,« murmelte er hinter ihr.

In diesem Augenblick gewahrte er im fahlen Licht einer Laterne einen hochgewachsenen Mann, der schweigend, mit ernster Gebärde seinen Arm gen Osten hob. Ein weiter polnischer Mantel fiel ihm über die gedrungenen Schultern, und als Friedrich bebend das Gesicht verhüllte, schien ihm, daß jenes Mannes Züge fleischlos seien und daß ein Hauch tödlicher Kälte seinem bleichenden Gebiß entströme.


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