Marcus Tullius Cicero
Von der Weissagung
Marcus Tullius Cicero

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6. Das heiße ich, mein Quintus, die Vertheidigung des Hauptbollwerks der Stoiker übernehmen; wenn du die Sache so umkehrst, daß durch die Wirklichkeit der Weissagung das Daseyn der Götter bedingt ist, und durch das Daseyn der Götter die Wirklichkeit der Weissagung erwiesen seyn soll. So leicht, als du dir vorstellst, möchte wohl weder das Eine noch das Andere zugegeben werden. Denn erstens ist es ja möglich, daß, ohne eine Gottheit, schon durch die Natur Künftiges zum voraus angedeutet werde; und zweitens kann man Götter annehmen, ohne daß nothwendig, von ihnen aus, dem Menschengeschlechte eine Weissagekunst verliehen wäre. Ich für meine Person, erwiederte er, finde in der Ueberzeugung, daß es ganz unwidersprechliche und handgreifliche Arten von Weissagungen gibt, Beweis genug für das Daseyn der Götter und für die göttliche Leitung der menschlichen Angelegenheiten. Hierüber will ich dir denn, wenn du mir Gehör geben willst, meine Ansicht mittheilen, doch nur auf den Fall, daß du mir freie Aufmerksamkeit schenken kannst, und nicht gerade von einem dir wichtigern Gegenstande in Anspruch genommen bist. O, sagte ich, mein Quintus, für philosophische Untersuchungen habe ich immer freien Geist und freie Zeit. Gegenwärtig aber, da ich ohne 804 dieß keinen Gegenstand habe, bei dem ich mit Wohlbehagen verweilen könnte, trage ich um so größeres Verlangen, deine Gedanken über die Weissagung zu vernehmen. Nun, erwiederte er, Neues wird es eben nicht zu vernehmen geben, und kein von den Ansichten Anderer ganz abweichendes besonderes System. Ich halte mich an die älteste Ueberzeugung, welche die Zustimmung aller Völker und Nationen für sich hat. Es gibt nämlich zwei Arten der Weissagung, eine künstliche und eine natürliche. Gibt es aber eine Nation oder einen Staat, wo nicht auf die Opferzeichendeuter, oder auf Die, welche seltsame Naturspiele auch wohl Blitze erklären, oder auf Auguren, auf Astrologen, auf Loose (das möchten etwa die künstliche Arten seyn) oder auf Träume und Aussprüche von begeisterten Sehern (die beiden letztern Arten gelten für die natürlichen), in Hinsicht auf Andeutung der Zukunft Etwas gehalten würde? Bei allen diesen Dingen ist meines Erachtens mehr nach dem Erfolge, als nach den Ursachen derselben zu fragen. Es gibt nämlich eine gewisse Kraft oder ein gewisses Etwas, welches theils durch eine, lange Zeit fortgesetzte, Beobachtung bestimmter Andeutungen theils durch irgend eine innere Eingebung oder göttlichen Anhauch einen Blick in die Zukunft thun läßt.


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