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21. Familie: Seidenschwünze ( Ampelidae)

Cabanis rechnet zu der Familie der Fliegenfänger auch einen in Deutschland wohl bekannten Vogel, unseren Seidenschwanz, und erhebt ihn zum Vertreter einer Unterfamilie, welche außerdem nur noch wenige Arten zählt; andere Naturforscher betrachten ihn als Urbild einer besonderen, kaum zehn Arten zählenden Familie ( Ampelidae), deren Merkmale die folgenden sind. Der Leib ist gedrungen, der Hals kurz, der Kopf ziemlich groß, der Schnabel kurz und gerade, an seiner Wurzel von oben nach unten zusammengedrückt und deshalb breit, an der Spitze schmal und erhaben, die obere Kinnlade länger und breiter als die untere, auf der Firste wenig gewölbt, an der Spitze sanft herabgebogen, vor ihr mit einem kleinen Ausschnitte versehen, der Fuß ziemlich kurz und stark, die äußere mit der mittleren Zehe durch ein kurzes Häutchen verbunden, der Flügel mittellang und spitzig, weil die erste und zweite Schwinge alle übrigen an Länge überragen, der zwölffederige Schwanz kurz, das Gefieder reichhaltig und seidenweich, auf dem Kopfe zu einer Holle verlängert. Zergliederung des Leibes ergibt, laut Nitzsch, daß der innere Bau alle wesentlichen Bildungsverhältnisse anderer Singvögel zeigt. Die Wirbelsäule besteht aus zwölf Hals-, acht Rücken-, neun Becken- und acht Schwanzwirbeln. Von den acht Rippenpaaren ist das vorderste verkümmert und wie das zweite falsch und ohne Fortsätze oder Rippenknochen. Der obere Armknochen ist marklos und luftführend; außer ihm besitzt nur noch das Brustbein ein gewisses Luftfüllungsvermögen. Die Zunge ist kurz, breit, flach, in der Mitte etwas gefurcht, vorn wenig spitzig gehalten; der Seitenrand derselben ist sanft auswärts, der Hinterrand einwärts gebogen, jener hinterwärts, dieser überhaupt mit Zähnchen besetzt. Der Magen ist schwachmuskelig; die Blinddärme sind klein und kurz.

 

Der Seidenschwanz, Seidenschweif, Böhmer, Zuser, Pfeffer-, Kreuz-, Sterbe- oder Pestvogel, Winterdrossel, Schneeleschke etc. ( Ampelis garrulus, Lanius garrulus, Bombycilla garrula und bohemica, Garrulus bohemicus, Bombyciphora oder Bombyciphorus garrula und poliocephala, Parus bombycilla), ist ziemlich gleichmäßig röthlichgrau, auf der Oberseite wie gewöhnlich dunkler als auf der Unterseite, welche in Weißgrau übergeht; Stirn und Steißgegend sind röthlichbraun, Kinn, Kehle, Zügel und ein Streifen über dem Auge schwarz, die Handschwingen grauschwarz, an der Spitze der äußeren Fahne licht goldgelblich gefleckt, an der inneren Fahne weiß gekantet; die Armschwingen enden in breite Horn- oder pergamentartige Spitzen von rother Färbung; die Steuerfedern sind schwärzlich, an der Spitze licht goldgelb; auch sie endigen in ähnlich gestaltete und gleich gefärbte Spitzen wie die Armschwingen. Bei dem Weibchen sind alle Farben unscheinbarer und namentlich die Hornplättchen weniger ausgebildet. Die Jungen sind dunkelgrau, viele ihrer Federn seitlich licht gerandet; die Stirne, ein Band vom Auge nach dem Hinterkopfe, ein Strich längs der bleich rostgelben Kehle und der Unterbürzel sind weißlich, die Unterschwanzdeckfedern schmutzig rostroth. Die Länge beträgt zwanzig, die Breite fünfunddreißig, die Fittiglänge zwölf, die Schwanzlänge sechs Centimeter.

siehe Bildunterschrift

Seidenschwanz ( Ampelis garrulus). ½ natürliche Größe.

Unser Seidenschwanz gehört dem Norden Europas, Asiens und Amerikas an. Die ausgedehnten Waldungen im Norden unseres Erdtheiles, welche entweder von der Fichte allein oder von ihr und der Birke gebildet werden, sind als seine eigentliche Heimat anzusehen; sie verläßt er nur dann, wenn bedeutender Schneefall ihn zur Wanderung treibt. Streng genommen hat man ihn als Strichvogel anzusehen, welcher im Winter innerhalb eines beschränkten Kreises hin- und herstreicht, von Nahrungsmangel gezwungen, die Grenzen des gewöhnlich festgehaltenen Gebietes überschreitet und dann auch zum Wandervogel wird. In allen nördlich von uns gelegenen Ländern ist er eine viel regelmäßigere Erscheinung als in Deutschland. Schon in den russischen und polnischen Wäldern oder in den Waldungen des südlichen Skandinavien findet er sich fast in jedem Winter ein. Bei uns zu Lande erscheint er so unregelmäßig, daß das Volk eine beliebte Zahl auch auf ihn angewandt hat und behauptet, daß er nur alle sieben Jahre einmal sich zeige. In der Regel treffen die vom nordischen Winter vertriebenen Seidenschwänze erst in der letzten Hälfte des November bei uns ein und verweilen bis zur ersten Hälfte des März; ausnahmsweise aber geschieht es, daß sie sich schon früher einstellen, und ebenso, daß sie noch länger bei uns sich gefallen. Dies ist denn auch der Grund gewesen, daß man geglaubt hat, einzelne Paare hätten bei uns genistet, während wir jetzt genau wissen, daß die Nistzeit des Seidenschwanzes erst in das Spätfrühjahr fällt.

Während ihres Fremdenlebens in südlicheren Gegenden, und also auch bei uns, sind die Seidenschwänze stets zu mehr oder minder zahlreichen Gesellschaften vereinigt und halten sich längere oder kürzere Zeit in einer bestimmten Gegend auf, je nachdem dieselbe ihnen reichlichere oder spärlichere Nahrung gibt. Es kommt vor, daß man sie in dem einen Winter da, wo sie sonst sehr selten erscheinen, wochen-, ja selbst monatelang in großer Menge antrifft, und wahrscheinlich würde dies noch viel öfter geschehen, glaubte sich nicht jeder Bauer berechtigt, seine erbärmliche Jagdwuth an diesen harmlosen Geschöpfen auszulassen; die Schönheit derselben erscheint, wie man meinen möchte, dem ungebildeten, rohen Menschen so unverständlich, daß er nichts anderes zu thun weiß, als sie zu vernichten. Möglich ist freilich, daß die beklagenswerthen Vögel noch unter den Nachwirkungen eines alten Aberglaubens zu leiden haben. In früheren Jahren wußte man sich das unregelmäßige Erscheinen der Seidenschwänze nicht zu erklären, sah sie als Vorausverkündiger schwerer Kriege, drückender Theuerung, verschiedener Seuchen und anderer Landplagen an und glaubte, sie deshalb hassen und verfolgen zu dürfen.

Der Seidenschwanz gehört nicht zu den bewegungslustigen Wesen, ist vielmehr ein träger, fauler Gesell, welcher nur im Fressen großes leistet, und entschließt sich deshalb ungern, den einmal gewählten Platz zu verlassen. Deshalb zeigt er sich da, wo er Nahrung findet, sehr dreist oder richtiger einfältig, erscheint zum Beispiel mitten in den Dörfern oder selbst in den Anlagen der Städte und bekümmert sich nicht im geringsten um das Treiben der Menschen um ihn her. Aber er ist keineswegs so unverständig, wie es im Anfange scheinen will; denn wiederholte Verfolgung macht auch ihn vorsichtig und scheu. Anderen Vögeln gegenüber benimmt er sich verträglich oder gleichgültig: er bekümmert sich auch um sie nicht. Mit seinesgleichen lebt er, so lange er in der Winterherberge verweilt, in treuer Gemeinschaft. Gewöhnlich sieht man die ganze Gesellschaft auf einem und demselben Baume, möglichst nahe nebeneinander, viele auf einem und demselben Zweige, die Männchen vorzugsweise auf den Spitzen der Kronen, so lange sie hier verweilen, unbeweglich auf einer und derselben Stelle sitzen. In den Morgen- und Abendstunden sind sie regsamer, fliegen nach Nahrung aus und besuchen namentlich alle beerentragenden Bäume oder Gesträuche. Zum Boden herab kommen sie höchstens dann, wenn sie trinken wollen, hüpfen hier unbehülflich umher und halten sich auch nie längere Zeit in der Tiefe auf. Im Gezweige klettern sie, wenn sie fressen wollen, gemächlich auf und nieder. Der Flug geschieht in weiten Bogenlinien, ist aber leicht, schön und verhältnismäßig rasch, die Flügel werden abwechselnd sehr geschwind bewegt und ausgebreitet. Die gewöhnliche Lockstimme ist ein sonderbar zischender Triller, welcher sich durch Buchstaben nicht versinnlichen läßt. Mein Vater sagt, daß der Lockton wie das Schnarren eines ungeschmierten Schubkarrens klinge, und dieser Vergleich scheint mir gut gewählt zu sein. Außer dem Locktone vernimmt man zuweilen noch ein flötendes Pfeifen, welches, wie Naumann sich ausdrückt, gerade so klingt, als wenn man sanft auf einem hohlen Schlüssel bläst; dieser Laut scheint zärtliche Gefühle zu bekunden. Der Gesang ist leise und unbedeutend, wird aber mit Eifer und scheinbar mit erheblicher Anstrengung vorgetragen. Die Weibchen singen kaum minder gut oder nicht viel weniger schlecht, wenn auch nicht so anhaltend als die Männchen, welche im Winter jeden freundlichen Sonnenblick mit ihrem Liede begrüßen und fast das ganze Jahr hindurch sich hören lassen.

In seiner Heimat dürften während des Sommers die aller Beschreibung spottenden Mückenschwärme die hauptsächlichste, falls nicht ausschließliche Nahrung des Seidenschwanzes bilden; im Winter dagegen muß er sich mit anderen Nahrungsstoffen, zumal Beeren, begnügen. Die Kerbthierjagd betreibt er ganz nach Art der Fliegenfänger; die Beeren liest er gemächlich von den Zweigen ab, zuweilen auch wohl vom Boden auf. Auffallend ist, daß die gefangenen sich um Kerbthiere, welche ihnen vorgeworfen werden, nicht kümmern. »Den Drosselarten«, sagt Naumann, »welche man in der Gefangenschaft hält, kann man keine größere Wohlthat erweisen, als wenn man ihnen manchmal ein Kerbthier gibt. Sie sind begierig danach und fangen die Fliegen, welche sich an ihren Freßnapf setzten. Allein das thut kein Seidenschwanz. Die Fliegen setzen sich oft genug ungestraft an seinen Schnabel. Von allen Seidenschwänzen, welche ich gezähmt hatte, berührte kein einziger weder ein Kerbthier, noch eine Kerbthierlarve, noch einen Regenwurm.« Daß es in der Freiheit anders ist, können wir gegenwärtig mit Bestimmtheit behaupten. Wahrhaft widerlich wird der Seidenschwanz wegen seiner außerordentlichen Freßgier. Er verzehrt täglich eine Nahrungsmenge, welche fast ebensoviel wiegt als sein Leib. Gefangene bleiben stets in der Nähe des Futternapfes sitzen, fressen und ruhen abwechselnd, um zu verdauen, geben das Futter nur halbverdaut von sich und verschlingen, räumt man ihren Gebauer nicht immer sorgfältig aus, den eigenen Unrat wieder.

Bis in die neueste Zeit war das Fortpflanzungsgeschäft des Seidenschwanzes gänzlich unbekannt. Erst im Jahre 1857, am sechzehnten Juni, gelang es Wolley, Nest und Ei aufzufinden; die Entdeckung war jedoch schon im vorigen Jahre von seinen Jagdgehülfen gemacht worden. Wolley hatte sich vorgenommen, ohne dieses Nest nicht nach England zurückzukehren und weder Mühe noch Kosten gescheut, um sein Ziel zu erreichen. Nachdem die ersten Nester gefunden worden waren, legte sich, wie es scheint, die halbe Bewohnerschaft Lapplands auf das Suchen, und schon im Sommer 1858 sollen über sechshundert Eier eingesammelt worden sein. Die Nester stehen regelmäßig auf Fichten, nicht allzu hoch über dem Boden, wohl im Gezweige verborgen, sind größtentheils aus Baumflechten gebaut, in ihre Außenwand einige dürre Fichtenzweige eingewebt, innen mit Grashalmen und einigen Federn gefüttert. Das Gelege besteht aus vier bis sieben, gewöhnlich aber aus fünf Eiern, und ist in der zweiten Woche des Juni vollzählig. Die Eier sind etwa vierundzwanzig Millimeter lang, achtzehn Millimeter dick und auf bläulich oder röthlich blauweißem Grunde spärlich, am Ende dichter, kranzartig, mit dunkel- und hellbraunen, schwarzen und violetten Flecken und Punkten bestreut.

Auf dem Vogelherde oder in den Dohnen berückt man den Seidenschwanz ohne Mühe. »Fällt eine Schar in den Dohnensteg«, berichtet Naumann, »so kommen nur wenige dieser harmlosen Fresser mit dem Leben davon. Sie fliegen der Reihe nach so lange aus einer Dohne in die andere, bis sie sich fangen, und es ist gar nichts seltenes, daß sich ihrer zwei auf einmal in einer Dohne erhängen; denn wenn schon einer, die Schlinge an dem Halse, mit dem Tode ringt, so hält das einen anderen nicht ab, noch nach den Beeren zu fliegen, welche der erste übrig ließ, um sich noch in den übrigen Schlingen zu fangen. Ebenso unbesonnen und sorglos zeigen sie sich, wenn sie an den Vogelherd kommen, wo sie auf dem sogenannten Strauchherde, den man für die Drosselarten stellt, in Menge gefangen werden. Es bedarf nur eines guten Lockvogels ihrer Art, um sie herbeizulocken; kaum sind sie angekommen, so fällt auch gleich die ganze Herde ein, und versieht man da den rechten Zeitpunkt nicht, so bekommt man alle auf einen Zug. Zaudert man aber so lange, bis sich einzelne satt gefressen haben, so fliegen sie nach und nach alle auf einen nahen Baum und sitzen da so lange, bis sie von neuem hungrig werden, was aber eben nicht lange dauert. Dann kommen sie jedoch nur einzeln, und man muß zuziehen, wenn nur erst einige wieder auf dem Herde sitzen. Die übrigen fliegen zwar, wenn einige gefangen werden, weg, aber nie weit, und kaum ist der Vogelsteller mit dem Wiederaufstellen der Netze fertig und in seiner Hütte, so sind sie auch schon wieder da, und es kommt selten einer davon. Doch habe ich gefunden, daß diese dummen Vögel im Herbste, bei voller Nahrung, doch etwas schüchterner als im Winter sind, und obiges paßt daher hauptsächlich auf den Winterfang.« Im Käfige ergibt er sich, ohne Kummer zu zeigen, in sein Schicksal, geht sofort an das Futter und erfreut ebensowohl durch seine Farbenschönheit wie durch sanftes Wesen, hält sich in einem weiten, an kühlen Orten aufgestellten Gebauer auch viele Jahre. Ihn gefangen zu halten, ist jedermann berechtigt; ihn nutzlos nur um des Magens willen zu erlegen, erscheint aus dem Grunde ungerechtfertigt, als er im Freien niemals schädlich, durch Aufzehren verderblicher Kerbthiere eher nützlich wird und im Winter den kahlen Bäumen zum höchsten Schmucke gereicht.


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