Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Seitdem ich im vorigen Jahr in G . . . . war, hat die Vergangenheit mehrere Male in mein Leben hinein geleuchtet. Zuerst in der Begegnung mit Anna und dann in dem Wiedersehen der Kindermann. Und nun zum drittenmal.

Ich hatte Besorgungen gemacht und bog gerade von der Mauerstraße in die Leipziger, als jemand mich anruft.

»Thymian!«

Ich wende mich um und erkenne in der Dame, die hinter mir steht, meine ehemalige Freundin Grete. Seit damals in Hamburg haben wir uns nicht gesehen und auch nichts mehr voneinander gehört. Wie man so auseinander kommt und einander aus den Augen verliert! . . .

Jünger ist die in den zehn Jahren nun auch nicht gerade geworden, sie ist lange nicht mehr so schlank und so hyperelegant als damals. An anderen sieht man es immer am besten, wie die Zeit läuft, und wie rasch des Lebens Maientage vorübergehn.

»Ich gehe schon eine Weile hinter dir und war meiner Sache nicht recht sicher,« sagte sie froh. »Ich freue mich wirklich. Wohnst du hier in Berlin, oder bist du nur auf Besuch?«

»Ich wohne hier seit Jahren,« sagte ich und erwiderte ihren Händedruck, und dann gingen wir zusammen weiter. Ich wußte nicht recht, ob mich dieses Wiedersehen freute oder ob es mir unangenehm war. Ich hab' sie immer gern leiden mögen, weil sie nicht so kleinlich und engherzig ist, wie die andern, aber andererseits liegen die Verhältnisse nun einmal so verzwickt, und ich 293 verspüre wahrlich keine Lust, mich nochmal von oben herab abwimmeln zu lassen. Jedenfalls konnte ich nicht gleich fortrasen und mußte ihr einstweilen wenigstens Stand halten. Wir gingen zusammen bis Wertheim, wo sie etwas kaufte und dort ins Teezimmer und da erzählte sie mir, daß sie vor acht Jahren einen älteren Herrn am Rhein heiratete und sich, weil die Sache nicht stimmte, vor wenigen Jahren von ihm scheiden ließ und seit kurzem mit ihrem einzigen Töchterchen draußen im westlichen Berliner Ausland, in Friedenau, wohnt. Ich hörte nur mit halbem Ohr hin und war noch immer im Zweifel, ob ich dieses Wiedersehen als Freude oder als Pech auffassen soll. Sie teilte mir weiter mit, daß sie seit Jahren Romane schreibt, anfangs unter einem Pseudonym und nun unter ihrem Frauennamen, und ich entsann mich daraufhin, auch schon Sachen von ihr gelesen zu haben.

Ich war anfangs etwas einsilbig und beschränkte mich nur auf die nicht zu umgehende Mitteilung, daß ich Witwe bin. Sie fragte auch nicht weiter. Aber allmählich wurde unsere Unterhaltung lebhafter und ich wärmer, sie hat wirklich etwas Nettes, Sympathisches, und ihre Herzlichkeit riß mich hin, und je länger ich sie ansah, desto lieber wurde sie mir.

Ich begleitete sie in die Linkstraße und fuhr mit ihr zusammen in der E-Bahn bis zur Bülowstraße und als wir uns verabschiedeten, versprach ich ihr, sie nächstens zu besuchen.

Nachher tat mir mein Versprechen fast wieder leid. Ich konnte die Nacht darauf nicht schlafen und erwog immer wieder, was ich tun soll. Es zieht mich hin zu ihr; ich sehne mich schon seit Jahren nach einer Freundin; den ausschließlichen Verkehr mit Männern bekommt man auch einmal satt; man kann sich doch besser zu einer Frau aussprechen und wird eher verstanden. Leider sind die meisten Frauen kleinlich und 294 neidisch und leiden an einer moralischen Engatmigkeit, die ein Verständnis für anderer Leid und Unglück total ausschließt. So ist die Grete nun nicht; eine Gesinnungsgemeinheit hat man von ihr auch nicht zu befürchten. Sie ist keine Maria und keine Emmy, aber sie ist auch nicht so spießbürgerlich kurzsichtig und unduldsam wie die meisten; sie hat selbst viel durchgemacht, und auf des Lebens Kreuzwegen verlieren sich die Splitterrichterei und das hochgemute Pharisäertum von Menschens Gnaden.

Freilich, wenn sie alles wüßte, hätte es doch angehen können, daß sie sich bedankte. Und das hätte mich unsagbar verletzt . . . mehr als der Hohn der Vereinsdamen, mehr als alles andere. Ich überlegte, ob ich nicht doch lieber verzichten sollte. Dann wieder dachte ich: Muß es denn sein, daß sie es erfährt? Meine schlimmen Jahre liegen hinter mir. Gegenwärtig lebe ich ruhig dahin und meine Verhältnisse sind geordnet. Ich bin Witwe und beziehe von Verwandten meines Mannes eine auskömmliche Rente. Ist das etwa gelogen? Die da draußen in ihrem Vorort und in der ruhigen Beschaulichkeit ihres bürgerlichen Milieus wird nie mit einem von denen, die mich früher kannten, in Berührung kommen. Aber wiederum – – – ich kann's nicht. Ich kann mich nicht verstellen, besonders nicht jemand gegenüber, den ich gern habe. Und außerdem ist die Grete klug, sehr klug, und kennt die Welt, auf die Dauer hätte sie doch alles durchschaut . . .

Ich überlegte und überlegte und schrieb am andern Tag eine Karte, daß ich am Donnerstag nachmittag herauskomme.

Es ist sonderbar, welch ein Angang mir es war, diesen Besuch zu machen. Ich stand wohl eine Viertelstunde lang vor dem Spiegel und prüfte mich von Kopf zu Fuß, ob doch nichts Auffälliges an mir ist, und im letzten Augenblick war's mir, als müsse mein Parfüm – 295 bouquet d'amour – mich verraten. Aber das ist ja lächerlich . . .

Auf der ganzen Fahrt mit der Elektrischen wurde ich ein drückendes Gefühl, das fast wie Angst war, nicht los. Ich wußte, wenn sie mich irgend etwas fühlen läßt, wenn sie andeutet, daß wir auf die Dauer doch nicht freundschaftlich verkehren können, dann werde ich grob, sackgrob. Denn es ist wie ein Explosionsstoff in mir, der nur auf den Zündfunken wartet, um loszusprengen.

Ich hatte Herzklopfen, als ich an der Rönnebergstraße, in der sie wohnt, abstieg; aber Grete hatte mich schon vom Balkon aus gesehen und kam mir im Hausflur entgegen und begrüßte mich herzlich. Ich war etwas befangen.

Es war ein warmer, sonniger Tag wie im Hochsommer. In der schmalen Loggia, unter einer deckenhohen Phönix, war für uns beide der Teetisch gedeckt. Gretes Wirtschafterin, eine angenehme, schlichte Person, die schon acht Jahre bei ihr ist, brachte die Kanne und die Tassen, und dann kam die kleine Käte, ein süßes Geschöpfchen mit den blonden Haaren der Mutter, und schwarzbraunen Augen, herzu und sagte mir guten Tag und holte sich einen Stuhl an den Tisch. Die Grete plauderte so unbefangen, daß mir immer mehr zur Gewißheit wurde: Sie weiß nichts, sie hat keinen Schimmer von Ahnung, wie meine Vergangenheit aussieht. Ich wurde immer stiller. Ich kann kleine Kinder nicht sehen, ohne Wehmut zu empfinden. Und wie das kleine Mädchen das lichte Köpfchen an die Mutter schmiegte, und Grete mit strahlendem Lächeln zwei, drei Küsse auf das rote Mündchen drückte, da mußte ich wegsehen, weil es mir das Herz zusammendrückte vor schmerzlichem Neid. Die Frau ist auch einsam, und das Schicksal hat ihr auch mehr Dornen als Rosen auf den Weg gestreut, aber wie reich ist sie doch im Vergleich zu mir, die ich 296 so bettelarm bin. Wenn ich mein Kind hätte bei mir behalten dürfen, wär's mir auch ein Schutzengel gewesen, der mich vor vielem behütet hätte.

Aber das ging vorüber und nachher taute ich auf, und wir sprachen von diesem und jenem und wurden ganz fröhlich.

»Also du schreibst Romane,« sagte ich. »Eigentlich sieht es mir gar nicht so aus, als ob du hier viel Romanhaftes erlebst.«

Sie lachte lustig und meinte, das wäre noch schöner, wenn sie alles selbst erleben sollte, was sie ihren Lesern erzähle, das käme von innen heraus, ohne jede äußere Anregung.

»Aber vielleicht kannst du mir gelegentlich mit Stoff unter die Arme greifen, Thymian,« sagte sie.

»Und ob,« sagte ich. »Ich schreibe meine Memoiren in Form eines Tagebuchs. Seit meiner Konfirmation führe ich es und trage alles Wesentliche ein. Wenn ich sterbe, will ich's dir vermachen. Da hast du Stoff für 'n Stücker fünf Romane.«

»Ich nehme dich beim Wort,« sagte sie, »aber vielleicht gibst du mir's schon früher!«

»Wollen mal sehen,« sagte ich, »versprechen will ich's dir nicht, denn das Einschreiben macht mir viel Freude. So wie es da ist, würdest du es wohl kaum gebrauchen können, denn es ist etwas kondensiert, und du wirst es nur mit einem Aufguß von ein paar Eimern Brühe deinem Familienblattpublikum servieren können – – –«

»Machen wir alles,« sagte sie, »wenn's sein muß, verdünnen wir auch unsere gute schwarze Tinte mit Wasser und Patschuli.«

»Ja, ein großes Glas Eau de Cologne wirst du gebrauchen müssen, um den Hautgout, den nicht jedermann verträgt, etwas zu tilgen,« sagte ich. »Man kriecht 297 nicht umsonst als Zaungast des Lebens jahrelang durch Nesseln und Dornhecken . . . Wolle muß man lassen!«

Grete nickte, und eine Pause entstand. Der Wind trieb von den Linden vom Haus her eine große Anzahl gelber Blätter über den Tisch, und in die Stille hinein tönte das Rasseln und Klingeln der Elektrischen, die durch die Rheinstraße fährt und an der Ecke eine Haltestelle hat. Es erfüllt mich plötzlich mit Mißtrauen, daß Grete nicht eine einzige Frage an mich richtete. Ich wußte nicht zu unterscheiden, ob ich es ihr als Zartgefühl oder Teilnahmlosigkeit auslegen soll, und das bedrückte mich momentan, aber nachher kamen wir wieder in Stimmung. Ich blieb zum Abendessen und brachte das kleine Kätchen mit in ihr weißes Himmelbettchen. Als es drin lag, faltete es die Hände und sprach sein Nachtgebetchen: Abends wenn ich schlafen geh', vierzehn Englein um mich stehen – usw. Und als der Vers zu Ende war, setzte es aus eigenem Antrieb hinzu: Lieber Gott, laß meine Mama gesund bleiben. Und das ergriff mich so, daß mir Tränen in die Augen kamen. Ich dachte bei mir: Du liebes, unschuldiges, kleines Küken, was du in deiner Einfalt erbittest, das ist freilich die Quintessenzbedingung für dein Gedeihen zum Glück und zum Guten –. Wenn man bedenkt, was einem Kinde alles mit der Mutter verloren geht . . . na, ich hab's erfahren. Gegen zehn brachte mich Grete an die Haltestelle an der Kaisereiche.

»Wann wirst du mal mit Kätchen zu mir kommen?« fragte ich sie.

Sie zögerte einen Moment.

»Oder willst du mich überhaupt nicht besuchen,« fragte ich hart und mißtrauisch.

»Gern, Thymian,« sagte sie, »aber – siehst du, ich lebe sehr zurückgezogen, und ich möchte keine neue Bekanntschaften machen, weil ich keinen größeren Verkehr 298 wünsche. Ich habe meine Arbeit und mein Kind, und die beiden füllen mein Leben aus, so daß ich keine fremden Leute brauche. Wenn du kommst, bist du mir jederzeit willkommen, und ich will dich auch besuchen, aber nicht wahr, du sorgst dafür, daß ich, wenn ich zu dir komme, dich allein antreffe?!«

Ich war wie betäubt im Moment, denn ich sah jetzt plötzlich klar: Sie weiß alles, alles; so gut wie die Menschen in meinem heimatlichen Nest über meine Vergangenheit orientiert sind, so gut weiß sie, über welche Wege mich das Leben in den verflossenen Jahren führte. In der Minute erfaßte ich es gar nicht mal so, wie taktvoll und fein sie mir die Brücke des Vertrauens baute.

»Ja, ich werde dafür sorgen,« sagte ich. »Komm bald und bring's Kätelchen mit. Schreibe mir vorher oder telephoniere . . . Adieu.«

Die Elektrische ratterte heran. Ich stieg ein.

* * *


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