Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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22. Mai 1894.

Ich war wieder krank. In Hamburg, wo ich Casimir abholte, hatte ich mir eine verfluchte Erkältung geholt. Der Arzt sagt, mein Herz wäre sehr schwach, ich soll im Sommer nach Nauheim gehen. Zum Glück habe ich so viel zusammen, daß ich es kann, zur Not versetze ich ein paar Schmucksachen. Casimir hat mich eine Menge Geld gekostet. Ich mußte ihn von Kopf zu Fuß einkleiden, er war ganz abgerissen. Ich hatte doch erst ein bißchen Sorge, daß er's krumm nehmen würde, wenn ich ihm die nötigen Aufklärungen gebe, aber er ist 161 wirklich noch dümmer und gleichgültiger, als ich gedacht hatte. Sein Stumpfsinn grenzt wirklich an Idiotismus. Woher das Geld kommt, ist ihm ganz egal, wenn er's nur hat. Ich hätte ihn gern von der Zuhältergesellschaft ferngehalten, aber da ist nichts zu machen. Jetzt ist er mitten drin, sie haben ihn auch schon getauft und nennen ihn Fliebenheinrich, ich glaube, wegen seiner etwas vorhängenden Unterlippe. Seine ganze Sorge ist, daß seine Verwandten ihn entdecken. In einigen Teilen ist er merkwürdig schlau. Manchmal ist er mir unsäglich zuwider, und ich begreife mich selber nicht, was ich an ihm finde, da man sich nicht einmal vernünftig mit ihm unterhalten kann, und doch möchte ich ihn nicht missen.

Ich wohne jetzt in der Markgrafenstraße, ein schönes großes Zimmer nach vorn und eine Kammer, in der Osdorff schläft und zahle per Monat dreihundertsechzig Mark, d. h. tagweise à Tag 12 Mark. Die Vermieterin ist eine sehr resolute, nette Frau, d. h. eigentlich ist sie keine Frau, sondern Fräulein, und sie haben ihr auch schon übel mitgespielt, und sie hat schon zweimal gesessen wegen dem Vermieten! Sie hat einen Restaurateur als Freund, der im Notfall für sie eintritt, aber sie sagt, es sei doch eine faule Sache, und sie hat die Absicht, sich pro forma zu verheiraten, damit die Chikaniererei aufhört. Sie hat einen Mieter, ein armer, ganz siecher, lungenkranker Kerl, dem jeden Augenblick die Luft ausgehen kann, mit dem will sie sich trauen lassen. Sie hängen schon im Kasten. Mitte Juni heiraten sie.

Ich habe draußen meinen Schöneberger Grundbesitz jetzt in Ordnung. Eine bequeme Bank steht unter der Weide, und in den vier Ecken sind Blumenbeete angelegt, und zum Herbst will ich einen Stein drauf setzen lassen. Ich gehe oft zwischen sechs und sieben abends hinaus, wenn es schön ist, und sitze eine Weile dort und spinne mich ein in meine eigenen Gedanken und Träume, und 162 denke, wie schön es wäre, wenn man an einem lauen Maiabend wie jetzt da sitzen und einschlafen könnte, und nie mehr erwachte, oder zu einem neuen Leben erwachte, in dem man ein neuer Mensch wäre und von vorn anfangen könnte.

Dicht neben meinem Grab ist ein frisches Grab, nach dem eine ältere Frau in tiefer Trauer kommt, sie weint nie, aber man sieht es ihr an, daß sie unsäglich leidet. Eines Abends kamen wir in ein Gespräch und sie erzählte mir, daß sie eine Pianofabrik hat und Witwe ist und im März ihren letzten Sohn von siebzehn Jahren begraben hat. Sie setzt sich zuweilen zu mir auf die Bank, und sie hat mich eingeladen, sie zu besuchen, was mir natürlich nicht einfällt. Da war' ich ja doch bald erkannt. So ist's besser.

Ich bin manchmal so matt, daß ich meine, ich mach's nicht lange mehr mit, dies Leben. Ich sehe auch wieder erbärmlich aus, und muß Landluft genießen, was ich sonst nie nötig hatte, und auch nicht gern tue, weil rote Backen mich nicht kleiden.

Molly und Dolly haben dreißigtausend Mark in der Lotterie gewonnen und sind eines Tages ohne Sang und Klang von der Bildfläche verschwunden. Vorgestern schrieben sie mir, sie haben sich in einem kleinen Thüringer Nest eingemietet und wollen ein Geschäft anfangen. Daß sie klug sind! Ich wollte, ich hätt' auch so 'n Bombenglück und könnte heraus. Und nie wieder! Nie wieder! Ich freue mich kindisch zu meinem Grundbesitz. Es ist zu hübsch des Abends, wenn die Vögel in den Bäumen singen und das Pfeifen und Klingeln und Lärmen und Tosen der Straßen so gleichsam an einem vorüberstreicht, als ginge es einem momentan nichts an, als sei man herausgelöst aus der Welt der Friedlosen, wie ein Stein aus einem Ring, und hinge nur als 163 Tauträne still und rein an einem Ölblatt des Friedens in dem Reich der Erlösten, der Schlafenden. Wenn man dann wieder in die Straßen kommt, empfindet man den Unterschied freilich doppelt, dann ekelt es einen erst recht an . . . Eine gewisse Genugtuung bereitet es mir, daß ich auf der Straße niemals in unanständiger Weise angerempelt werde. Fast alle meine »Kolleginnen« tragen den Stempel ihres Gewerbes im Gesicht. Man sieht an einem eigentümlichen Zug um den Mund und den Augen, was sie treiben. Vor diesem Eichstempel des Elends fürchte ich mich. Ich studiere mich täglich im Spiegel und entdecke ihn, Gott sei Dank, noch nicht. Ich glaube, es kommt davon, daß ich meinen Geist von den Funktionen meines Körpers emanzipiere. Ich lese viele gute Bücher, jetzt habe ich mich an Nietzsches Zarathustra gemacht, aber ich verstehe das meiste nicht. So ist es mir, als wären Geist und Körper bei mir zwei verschiedene und getrennte Wesenheiten, aber der Geist bezahlt dem Körper seine Miete, indem er ihm den Reflex seines Daseins auf das Angesicht drückt, so daß man die lebendige Leiche nicht gleich als Leiche rekognoszieren kann. Ach, Kinder, was haben es die Toten da draußen gut!! –

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