Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Nizza, den 17. April 1898.

Ich möchte gern recht viel schreiben, aber ich weiß nicht was. Ich erlebe nichts. Fräulein Wagner ist ein alter Drache. Sie scheint ihre Instruktionen zu haben und handelt wahrscheinlich danach, indem sie mich mit einer Sorgfalt »pflegt« und »behütet«, die mich manchmal wild macht. Dabei hat sie eine so unausstehliche Manier, jeden wohltätigen und befreienden Zornausbruch von meiner Seite mit einer liebenswürdigen Redensart und einem freundlichen Lächeln glatt abzuschneiden. Eigentlich ist sie ja ein armes Wurm, von jung an bei fremden Leuten; als Gesellschafterin, governess finished, Repräsentantin und dergleichen, immer in 226 hochherrschaftlichen Häusern, vier Jahre bei einer Herzogin in Marseille und drei Jahre Erzieherin bei einer russischen Fürstenfamilie. Sie ist sehr gebildet und hat tadellos vornehme Allüren; sie hat in den langen Jahren der Abhängigkeit und höheren Dienstbarkeit die schwere Kunst erlernt, sich immer und in jedem Falle der Stimmung und Laune anderer anzupassen, immer auf die Wünsche anderer zu reagieren, nie selbst etwas zu wollen, sich immer angenehm zu machen, ohne sich dabei etwas zu vergeben. Sie erreicht mit ihrer lächelnden, fügsamen Liebenswürdigkeit am letzten Ende doch immer ihren Willen. Sie weiß auch fesselnd und unterhaltend zu erzählen, aber für mich ist sie doch nicht die richtige Akquisition. Ihre jungfräuliche Vergangenheit ist so schneesauber, daß die meinige sich allzu kohlrabenschwarz dagegen ausnimmt, die Kontraste sind zu groß, als daß sie sich berühren könnten.

Ich bin wieder ganz hergestellt und gesund. Die Wagner wacht ängstlich darüber, daß ich mich nicht anstrenge. Wir fahren jeden Tag mehrere Stunden spazieren, machen auch kleine Spaziergänge; ich möchte, je eher je lieber, heimfahren, aber ich darf noch nicht. Der Graf schreibt sehr lieb und besorgt, und läßt es mir an nichts fehlen. Er ist ja auch ein reizender alter Herr, als väterlicher Freund geradezu ideal, aber ich kann nichts dafür, daß ich einen andern liebe. Von Julius bekomme ich nur spärlich Nachricht, er hat so viel zu tun und wenig Zeit zum Schreiben, und seine Briefe sind keine eigentlichen Liebesbriefe, aber ich lese sie trotzdem, bis ich sie auswendig weiß, und küsse sie und bilde mir ein, ich hätte ihn geküßt. – Er predigt immer wieder, meinem Leben einen Inhalt zu geben, zu arbeiten, es sei noch nicht zu spät, etwas anzufangen. Ich möchte ja auch wohl, denn ich fühle, daß er recht hat, aber was soll ich beginnen? Ich glaube, das weiß er selbst 227 nicht. Um noch einen bestimmten Beruf zu erlernen, ist es doch zu spät.

Das Meer ist so blau und der Himmel so licht, und die Sonne so hell. Wenn ich Julius hier hätte, wär's das Paradies. Aber da würde der Engel mit dem flammenden Schwert wohl kommen und mich hinausweisen, denn Menschen meines Gelichters gehören nicht ins Paradies. Für sie ist das öde unfruchtbare Land, das im Schweiße des Angesichts bebaut sein will, ehe es Früchte trägt.

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