Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Herbst 1898.

Wie die Monate dahingehen. Im April trug ich zum letztenmal etwas ein, und nun haben wir schon November. Wenn ich das Buch durchblättere, ist mir überhaupt alles wie ein Traum, besonders wenn ich denke, wie unendlich viel mehr ich erlebt habe, als hier eingeschrieben ist. Manche Menschen sehen mit grauen Haaren auf einen langen eintönigen Weg zurück, ihnen ist nie ein Abenteuer zugestoßen, sie haben so gut wie nichts erlebt. Das kommt daher, weil ihr Leben wie ein kleines Spezialgeschäft ist, sie sitzen in ihrem Lädchen, dessen Artikel alle in eine Branche schlagen, und schauen die Welt nur durch die schmalen Fenster ihres Geschäftslokals; es fällt ihnen nie ein, über Hecken und Graben weg einem Schmetterling nachzujagen, und alles, was ihnen fremd und unverständlich ist, wird von ihnen mit einem mißbilligenden Achselzucken und Kopfschütteln oder einer Geste der Verachtung abgetan. Mein Leben glich schon eher einem Warenhaus mit internationalem Getriebe, viel Mannigfaltigkeit, viel Schund – viel Plunder. Und dennoch möchte ich nicht mal mit denen in ihren engen Stuben tauschen. In mir ist ein ewiges brennendes Sehnen nach etwas Weitem, Unsichtbarem, meine Füße kleben in dem Schmutz der Erde, aber 228 meine Seele möchte hinaus und irgendwo ins Blaue hinein, in sonnige Fernen und möchte dort eine andere Gestalt annehmen, vielleicht die einer Lerche oder einer Blume, nur nicht wieder in einen Menschenkörper. Ach, ich denke oft über das Leben jenseits des Grabes nach. Wenn man doch bestimmt wüßte, ob mit diesem Leben alles aus und vorbei ist. Ich bin nicht fromm, im Gegenteil, ich hasse die Kirche und die Pfaffen, aber ich glaube trotzdem an ein zweites Leben.

Wenn ich nochmal auf dieselbe Welt käme, möchte ich ein wildes Tier sein. Oder ein Mann, denn ein Mann verrennt sich nie in eine Sackgasse wie wir Weiber; ihm steht überall ein Türchen offen, seine Existenz wird nicht durch einen Fehltritt vernichtet, wie die unsere. Dem Mann gehört die Welt; wir Weiber sind nur geduldete Mittel zum Zweck.

Ich habe oft eine Ungeduld in mir, zu erfahren, was hinter dem Tod ist. Ich möchte sterben, um es zu wissen. Wenn ich zu Gott käme, würde ich ihn anklagen. Denn er war ein kluger Baumeister, aber ein schlechter Bauherr, als er die Welt erschuf, und wenn er ein Vater der Menschheit sein will, ist er ein schlechter, ungerechter Vater. Allmächtig! Welcher allmächtige Vater sähe den Jammer seiner Kinder und stillte ihn nicht?! Wo wäre der Vater, der sein Kind in die Irre gehen sieht, und würde es nicht packen und es auf den rechten Weg bringen, der zum Glück führt?! Was für ein Vater steht dabei, wenn sein Kind in den Brunnen fällt, und rührt nicht die Hand, um es zu retten? An einen allmächtigen Gott zu glauben ist eine Gotteslästerung. Denn allmächtig und Vater sein, und nicht helfen, nicht retten wollen, ist . . . . . . . . . Wenn ich der liebe Gott wäre, würde ich eine göttliche Welt schaffen. Ich würde die grauen Elendskammern der Menschen in blühende Rosengärten verwandeln, ich 229 würde die Mauern, die ihren Blick hemmen, niederreißen, daß sie mich sehen und erkennen könnten in meiner Größe und meiner Güte. Und wenn ich sähe, daß eines meiner Geschöpfe hoffnungslos an Bosheit und Tücke und Gesinnungsgemeinheit krank wäre, würde ich es sacht und schmerzlos hinwegnehmen und einen neuen Menschen dafür entstehen lassen. Das wäre eine große göttliche Liebe und würde die Menschen selig machen, und wäre eines allmächtigen Gottes werter.

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