Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Mai 1900.

Im vorigen Monat erhielt ich eines Morgens früh einen Brief aus G . . . . . von Justizrat Ellbaum.

Ich hatte gleich solche Ahnung, daß er irgend eine bedeutungsschwere Mitteilung enthielt, und öffnete ihn mit Herzklopfen, und mein Gefühl hatte mich nicht betrogen.

Der Justizrat schrieb mir, daß Vater am 11. März gestorben ist. Er soll längere Zeit krank gewesen sein. 252 Die Apotheke wird von Meinert übernommen, der, wie der Justizrat schrieb, demnächst heiratet und durch die Mitgift seiner Braut in Besitz größerer Mittel kommt, so daß er einen Teil der Hypotheken auslösen kann. Als erste abzulösende Hypothek käme nun die mir von meiner Mutter her zustehende Forderung von vierzigtausend Mark in Betracht, die zum ersten Oktober, oder auf meinen Wunsch auch schon früher, ausbezahlt werden könnte. Seinen sachlichen Mitteilungen fügte er zum Schluß hinzu, daß die Witwe, Frau Helene Gotteball, mit ihren zwei unerzogenen Kindern gänzlich mittellos aus ihrem bisherigen Heim hinausgehe, und sich und die Kinder durch ihrer Hände Arbeit ernähren müsse. Die Verkaufssumme der Apotheke betrage nur wenige Tausend Mark mehr als wie die darauf ruhende Schuldenlast.

Ich war tief bewegt über Vaters Todesnachricht. Und daß ich sie so erhielt, daß die Lene es nicht mal der Mühe wert gehalten hat, mir die Anzeige direkt zu schicken, das erfüllte mich mit Haß und Bitterkeit gegen dieses ordinäre Weib, dem ich es doch allein zu verdanken habe, daß Vater mir so ganz entfremdet und ich so ganz heimatlos wurde. Daß sie meine Adresse nicht wußte, ist kein Entschuldigungsgrund. Des Justizrats Brief erreichte mich doch auch, obgleich derselbe an »Frau Gräfin Thymian Osdorff« adressiert war.

Den ersten Tag verbrachte ich in tiefer Trauer, und meine Seele war voll Erinnerungen und wehmütiger Betrachtungen, und erst am Tage darauf fiel es mir ein, warum der Justizrat an mich schrieb, und daß ich ihm antworten mußte.

Und da dachte ich mir alles so durch, daß die beiden armen Würmer eigentlich doch nichts dafür können und daß es immerhin Vaters Kinder sind. So wie ich unsere Verwandten kenne – als wohlhabende kommen ja nur die Nordmarscher von Mutters Seite in Betracht – 253 werden sie keinen Finger rühren, der Frau zu helfen und werden sich nicht darum kümmern, was aus den armen Kindern wird, ob sie verhungern oder verkommen oder was mit ihnen wird. Ich bin gewiß nichts nutz und zähle nicht mehr mit, aber das könnte ich doch nicht übers Herz bringen, daß ich hier in Überfluß und Luxus lebe und müßte denken, die armen kleinen Menschelchen hätten nicht das Nötigste, nein, da würde mir doch jeder Bissen im Munde aufquillen, daß ich ihn nicht herunterbrächte. Schließlich sind es doch meine Halbgeschwister, und wer weiß, ob in dem Mädelchen nicht auch ein Tropfen des gefürchteten Blutes ist, das Erbteil des französischen Kokottchens, die dem Urgroßvater Gotteball durchbrannte. Was ist denn die scharfe Klippe, an der meistens »Tugend«, die sogenannte, und Unschuld scheitern? Das ist doch die Armut, das Unvermögen, sich in den Besitz von Dingen zu setzen, die man gern haben möchte und auf legalem Wege nicht erlangen kann. Behüten kann ich sie freilich auch nicht, und was werden soll, wird doch. Jedenfalls brauche ich die Erbschaft nicht so nötig als sie, und da hab' ich mir ausgedacht, daß ich mir zwanzigtausend Mark auszahlen lasse und damit meine Schulden bezahle und den Rest als Notpfennig behalte, und um mal jemand helfen zu können. Zum Beispiel Emmy und ihrem Bräutigam, die so gern eine Wirtschaft pachteten und tausend Taler dafür brauchen. Sie hat mir vor einem Jahr auch das Lehnstuhlkissen zu Weihnachten gestickt und damit bewiesen, daß sie auch was für mich übrig hat. Die anderen zwanzigtausend Mark will ich auf der Sparkasse in G . . . . . deponieren, und die Zinsen sollen der Lene als Erziehungsbeitrag ausgezahlt werden bis zur Mündigkeit der Kinder. Und damit mir mein Entschluß nicht leid würde, habe ich es gleich dem Justizrat geschrieben. Ein paar Tage danach schrieb mir die Lene einen langen 254 Danksagungsbrief, worin sie mir mitteilte, daß Vater schon länger als ein Jahr am Magen gelitten habe und er habe unendlich viel ausgestanden. Sie flocht natürlich auch taktvoll ein, daß der Gram um mich ihm auch am Herzen gefressen habe und schloß mit der ebenso zartfühlenden Versicherung, daß sie das Geld gut anwenden und ihre Kinder zu braven, geachteten Menschen erziehen würde. Na ja. Was soll man auch andres verlangen . . .

Ich möchte nur wissen, ob Vater gar keine Sehnsucht nach mir gehabt hat. Er hat mich doch geliebt, und ihm ist es sicher nicht eingefallen, sich über meinen moralischen Tiefstand zu entrüsten. Mir will der Gedanke nicht aus dem Kopf, daß sie ihn abgehalten haben, an mich zu schreiben und mich zu rufen.

Ich wohne jetzt in der Bülowstraße. Vier Zimmer. Eine niedliche, behagliche Wohnung.

Der Graf kommt lange nicht mehr so oft als früher. Ich glaube nicht, daß ich ihm leid werde, aber es scheint ihm doch an die Nieren gegangen zu sein, daß ich ihm nicht ganz treu war. Aber eigentlich ist das Blödsinn. Treue kann doch nur da sein, wo Liebe ist. Und daß ich ihn liebte, durfte er sich doch nicht einbilden.

* * *


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