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Still war unser Lager auf Karasch. Kein Meeresrauschen umtoste unsere Zelte, keine kühlende Seebrise erfrischte uns; denn die gegenüberliegende Insel Karavela hielt jeden Seegang und jeden Windhauch ab.
Der erste Tag schon führte uns mit den Bewohnern der Insel zusammen. Es war die Zeit der Tiefebbe, das Watt bevölkerte sich mit Frauen und Kindern, die allerlei Gefäße auf den Köpfen trugen. Wir beobachteten sie aus nächster Nähe. Sie gruben kleine Löcher in den Sand, aus denen langsam das Wasser von unter dem Meeresspiegel liegenden Süßwasserquellen aufstieg. Sobald sich die Gruben mit Wasser gefüllt hatten, schöpften sie das kostbare Naß in ihre Töpfe und kehrten in das Dorf zurück. Wie wir später erfuhren, gibt es auf der ganzen Insel sonst keine Süßwasserquellen.
Hier sahen wir auch zum erstenmal einen der riesigen Fischzäune aus der Nähe, die bereits während meiner Erkundigungsflüge meine Aufmerksamkeit erregt hatten. Sie reichen nicht selten kilometerweit ins Meer hinaus und schließen oft ganze Meeresbuchten ab. Zum Bau dieser Fischzäune vereinigen sich die Bewohner mehrerer Dörfer; sie arbeiten ohne Unterlaß, bis das Werk vollendet ist. Der Zaun, den wir auf Karasch untersuchten, ragte so weit ins Meer hinaus, daß das von ihm umspannte Gebiet während der Hochflut mehrere Meter tief überspült wurde. Da die Gezeitenunterschiede auf den Bissagosinseln aber sehr groß sind, wurde es von der Tiefebbe gerade noch trockengelegt. Dieser Umstand enthebt die Eingeborenen jeder weiteren Mühe. Sie haben nichts zu tun, als jedesmal zur Zeit der Tiefebbe die Fische einzusammeln, die bei rückströmender Flut sich in der Umzäunung gefangen haben. Auf diese Weise werden auch die größten Fische, selbst Seekühe, erbeutet. Gerade als wir unser Lager aufschlugen, schleppten Bidyogo aus der Ortschaft Bitit eines dieser mächtigen Tiere an uns vorbei.
Der Fischfang ist, besonders heutzutage, für die Ernährung der Eingeborenen von allergrößter Bedeutung, und Inseln wie Unyokum, wo Brandung und Felsküsten den Bau von Fischzäunen verhindern, leiden häufig unter Hungersnöten. Karasch hingegen erscheint besonders begünstigt; der sandige, manchmal auch sumpfige Strand erleichtert den mühsamen Bau, den hier keine Meeresbrandung zu stören droht.
Bitit, das Dorf, in dessen Nähe wir unser Lager aufgeschlagen hatten, war das größte der Insel und der Sitz des Königs, dessen Bekanntschaft wir bald machen sollten. Die Häuser befanden sich in einem auffallend verwahrlosten Zustande. Auch mit der Kunst schien es hier traurig bestellt zu sein.
Holzschnitzereien werden nicht mehr erzeugt; daß diese Kunst aber in früheren Zeiten auf einer bedeutenden Höhe gestanden hat, bewiesen vereinzelte alte Seelenfiguren, die wir in verfallenen Häusern aufstöberten. Es ließen sich an diesen Figuren deutlich Stilperioden unterscheiden. Die ältesten hatten eine primitive, fast kegelartige Gestalt, jedoch ohne Standfläche, so daß sie nur liegend verwendet werden konnten. Spätere wiesen schwache Andeutungen von Köpfen und Extremitäten auf. Erst zaghaft, dann immer vollendeter wurde die menschliche Gestalt nachgebildet. Bei einzelnen Figuren standen dann Arme und Beine schon im richtigen Verhältnis zur Größe des Körpers; andere waren durch die Nachbildung der Geschlechtsteile als männliche oder weibliche Figuren gekennzeichnet. Je nachdem beherbergen sie nach der Anschauung der Bidyogo die Seele einer verstorbenen Frau oder die eines Mannes. Von der liegenden Stellung war man auf die Darstellung stehender Gestalten übergegangen, ja einzelne Figuren saßen auf einem Schemel, wobei Figur und Schemel aus einem einzigen Stück Holz herausgeschnitzt worden waren.
Nicht nur der mühevollen und künstlerischen Ausführung wegen, sondern auch aus anderen Gründen waren diese Figuren besonders interessant. Die Frisuren der weiblichen sowohl wie der männlichen Gestalten waren mit großer Naturtreue wiedergegeben. Sie stimmten mit denen, die wir bei den Bewohnern von Orango gesehen hatten und später noch auf den Inseln Bubaque, Eguba und Urakan antreffen sollten, vollkommen überein. Auf Karasch aber war diese Haartracht längst verlorengegangen, und die Bewohner der Insel trugen meist ihren natürlichen Haarwuchs oder waren vollständig rasiert. Selbst die ältesten Leute erinnerten sich nicht mehr, die rot und schwarz gefärbten Lehmfrisuren gesehen zu haben.
In dieser Tatsache mußte man nun einen Beweis erblicken, daß einst auf allen Inseln die gleiche Tracht getragen wurde. Eine Aufgabe unserer Expedition bestand aber gerade darin, nachzuprüfen, ob die Inseln, wie ein französischer Autor behauptet hatte, von verschiedenen Volksstämmen bewohnt wurden, die zu verschiedenen Zeiten eingewandert wären, oder ob es sich um einen einzigen Volksstamm handle.
Die Feststellung nun, daß die auf Karasch erzeugten Seelenfiguren die auf vielen Inseln noch heute verbreiteten Lehmfrisuren trugen, in Verbindung mit manchen ähnlichen Beobachtungen auf anderem Gebiete, bestärkte uns in der Anschauung, daß es sich auf allen Inseln um ein und dasselbe Festlandvolk handle, das aus unbekannten Ursachen von dort verdrängt wurde. Die Bewohner der weit verstreuten Inseln verloren dann mit der Zeit die Verbindung untereinander, so daß sich ihre Kleidung, ihre Sitten und Gebräuche verschieden weiterentwickelten. Doch lassen sich diese Verschiedenheiten in fast allen Fällen auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen.
Möglicherweise war die Trennung der einzelnen Stammesteile vor noch nicht allzu langer Zeit erfolgt. Wir bemühten uns, Belege dafür zu finden, in welchem Zeitraum dieser Vorgang stattgefunden haben konnte. Bei der Feststellung des Alters der verschiedenen Seelenfiguren kam uns nun ein glücklicher Zufall zu Hilfe.
Eine der stehenden Figuren, die wegen ihrer weit fortgeschrittenen Ausführung der jüngsten Periode zugesprochen werden mußte, trug eine Kopfbedeckung, die vollkommen jener der englischen Seeoffiziere glich, welche zur Bekämpfung des Sklavenhandels auf englischen Kriegsschiffen um 1836 an die westafrikanische Küste beordert wurden. Bei dieser Gelegenheit hatten wohl die Inselbewohner zum ersten Male diese seltsame Kopfbedeckung gesehen, und der Eindruck war so nachhaltig gewesen, daß sie die Darstellung derselben bei ihren Seelenfiguren versuchten. Die Figuren waren jede aus einem Stück Holz geschnitzt, daher konnte die Kopfbedeckung keinesfalls erst später hinzugefügt worden sein.
Auf Grund derartiger Beobachtungen ließ sich auch das Alter aller anderen Figuren ziemlich genau feststellen; die ältesten dürften vor etwa 300 Jahren entstanden sein.
Trotz diesem Alter waren sie außerordentlich gut erhalten, das steinharte, termitensichere Holz trug nur schwache Spuren der Abnutzung durch die Zeit. Um so erstaunlicher war es, daß die Eingeborenen mit ihren primitiven kleinen Weicheisenmessern das widerstandsfähige Material in so vollkommener Weise hatten bearbeiten können. Auf unsere Fragen, warum solche Kunstwerke heute nicht mehr erzeugt würden, bekamen wir dieselben Klagen zu hören wie auf allen anderen Inseln.