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Einleitung

Die Blüte der alten französischen Verserzählung fällt in die Zeit von Mitte des XII. bis Mitte des XIV. Jahrhunderts.

Die ersten Anreger dieser Literatur waren die Bretonen, welche ihre alten Volksromanzen mit Musikbegleitung sangen. Die Romanze mit der zugehörigen Musik hieß Lai. Ihre Art ist nicht prinzipiell verschieden von derjenigen der alten Balladen der übrigen nordischen Völker gewesen, aber die Kelten haben offenbar eine besondere Genialität gezeigt, und ihre Spielleute waren deshalb auch bei andern Völkern geliebt und geschätzt. Eine Weile begnügten sich die Franzosen mit der bloßen Melodie und nahmen den ihnen unverständlichen keltischen Text mit in Kauf, dann entstehen französische Bearbeitungen der keltischen Texte, die ersten französischen Lais. Diese fallen in die Zeit einer Geschmacksveränderung: man wollte die Erzählung nicht mehr gesungen haben, sondern gesprochen. So haben die französischen Lais den Balladencharakter völlig aufgegeben und sind gereimte Verserzählungen geworden, bei denen hauptsächlich das Stoffgebiet und wahrscheinlich nur bis zu einem gewissen Grade die eigentliche Handlung der alten keltischen Lais herübergenommen wurde: denn eine Handlung verändert sich sehr, wenn man sie aus der lyrisch-epischen Balladenform in ruhige Erzählung überträgt; auf jeden Fall aber wurde die Handlung aus den einfachen und urtümlichen Verhältnissen in die ritterliche und galante Zeit versetzt. Der Inhalt dreht sich um Liebe, ritterliche Abenteuer, Feenmacht und Zauberwesen.

Die Form der Verserzählung, die auf diese Weise geschaffen wurde, nahm nach einiger Zeit nun Stoffe und Motive auf, die von ganz anderer Seite kamen, und zwar zum großen Teil aus dem Orient, nämlich Schwänke aller Art: Komische Liebesabenteuer, Prellereien, Foppereien und ähnliches. Für jene erste Art von Erzählungen behielt man das Wort Lai, die andere nannte man Fabliau. Der Unterschied ist lediglich ein Unterschied der Motive und Auffassung, nicht der Darstellung und Form, und so können bald die Bezeichnungen durcheinandergehen. Von einer dritten Seite kommen die frommen Erzählungen, die Legenden hinzu, teils umgedichteten uralten Motiven entstammend, teils frisch entstehend aus moralischen und frommen Belehrungen, die man anschaulich und eindringlich machen wollte.

Wir haben also drei Arten von Verserzählungen auseinanderzuhalten: die vornehm-ritterlichen, mit tragischen, heroischen, märchenhaften Motiven; die komischen, mit Motiven aus dem gemeinen Leben und niedriger Auffassung der Verhältnisse; und die frommen, mit sehr oft närrischen, oft aber auch innig zarten Darstellungen.

Man kann sich von vornherein sagen, daß dieselbe Form nicht gleichmäßig glücklich für die drei verschiedenen Arten war. Das vornehme Lai war eigentlich ein Auflösungsprodukt gewesen; seine Empfindungen und Stoffe paßten im Grunde nicht für die bänkelsängerartige Behandlung, sondern beanspruchten eine edlere Form, so wie die alte Volksballade sie bot. Auch die edle Legende paßt nicht so recht für die Ausdrucksweise der Spielleute; ausgezeichnet aber ist die französische Verserzählung für die komischen Geschichten. Das Fableau ist also das ästhetisch bedeutsamste Werk der Richtung.

Damals wie heute war die Literatur international; die Völker beeinflußten sich gegenseitig, und ausgebildete Formen, interessante Motive, gestaltete Stoffe wurden von den fremden Völkern übernommen. So finden wir auch die französische Verserzählung in ihren drei Arten bei den übrigen Völkern, je nach dem besondern Genie der betreffenden Völker verschiedenartig nachgebildet. In der vorliegenden Sammlung sind einige deutsche Erzählungen mitgeteilt; man wird bald spüren, daß sie weitschweifiger sind und weniger glücklich in der Disponierung der Stoffe.

Aus den großen Ritterepen hat sich der Roman entwickelt; auch hierin ging Frankreich voran; aus den Verserzählungen wurde die Novelle geschaffen, und hier übernahm Italien die Führung.

Bei der Lektüre muß man sich immer vorhalten, daß die Erzählungen für den Vortrag bestimmt sind, nicht für das Lesen. Sie sind von den wandernden Spielleuten gedichtet und rezitiert in jenen Zeiten, als es das unterhaltende Buch noch nicht gab. Vor allem darf man deshalb nicht Qualitäten von ihnen verlangen, die erforderlich sind, wenn man auf dem Einzelnen verweilen will. Das Gewicht liegt auf der schnell fortschreitenden Erzählung eines an sich interessierenden Vorganges. Die ihnen gestellte dichterische Aufgabe haben die alten Trouveres fast immer mit großem Geschick gelöst: er gibt gewiß bedeutendere Dichtungen wie die von ihnen hinterlassenen, aber in ihrer Art sind sie fast immer vollendet.

Paul Ernst.


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