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XXVIII.

Gisela hatte in diesen Wochen alle guten Vorsätze beiseitegeschoben; trotz der wichtigen Vorlesungen, die sie in Hamburg versäumte, war sie in Berlin geblieben und wohnte bei Barbara. Die war sehr nachdenklich geworden.

Gisela wollte ihr helfen. »Was ist dir?«

»Kind, es gibt Dinge, die man wohl erst erleben muß, wenn man sie verstehen will. Und hat man sie erlebt, dann muß man sich mit ihnen auseinandersetzen, immer wieder und immer wieder, man sucht eine Lösung, findet sie nicht und zuletzt zweifelt man an sich selbst.«

»Würdest du mit deiner Mutter sprechen, wenn sie noch lebte?«

»Ich weiß nicht, ob da nicht etwas ist, das auch eine Mutter nicht verstehen kann. Menschen, die den Kampf hinter sich haben, vergessen zu leicht, daß auch sie Stunden gehabt haben, in denen sie zweifelten.«

»Geht es um deinen Mann?«

Barbara erschrak. »Was willst du, Gisela?«

»Dir helfen.«

Sie schmiegte sich dicht an die Freundin und strich ihr leise über das dunkle, glänzende Haar.

Und Barbara sprach, als ob sie allein wäre, mit ihrem Gewissen. »Ich weiß, daß nie ein Gedanke zwischen mir und Alfred gestanden hat, und ich glaubte, als ich seine Frau wurde, hätte ich alles ausgelöscht, was vorher war. Und wenn ich an die Zeit denke, in der ich sein Weib war, dann ist sie für mich voll Licht. Trotzdem wacht ein Anderes auf und will sich zwischen mich und ihn schieben, gegen das ich mich wehren muß, um seinetwillen – und damit ich die Achtung vor mir selbst nicht verliere.«

»Barbara, ich habe auch einmal gedacht, ich täte dem Vater weh, wenn ich Rainer liebhatte.«

»Der Vater ist nicht der Mann.«

»Unsere Erinnerungen sollen wir ehren, aber wir dürfen ihnen nicht uns selbst opfern.«

»Laß mich heute, Gisela.«

Als am andern Tage der Geheimrat sie besuchte, empfing sie ihn unbefangen wie früher. Der brachte eine neue Nachricht.

»In zwei Tagen startet der ›Leviathan‹. Wir haben gestern eine Konferenz gehabt, in der Truckbrott sehr lange sprach. Wir haben uns von ihm überzeugen lassen und haben festgesetzt, daß in einer Woche die ›T 1000‹ ihren ersten großen Streckenflug antreten wird. Nach Tokio.«

Giselas Augen leuchteten.

»Was weißt du von Japan, kleine Studentin?«

»Daß es unglaublich schön sein muß.«

»Rainer wird die Reise mitmachen und von Japan aus zu Schiff nach San Franzisko gehen, um sein letztes Lehrjahr in Südamerika zu absolvieren.«

»Oh!«

»Aber vorher soll er Tokio kennenlernen. Ich bin auch dort gewesen als junger Mensch, und ich meine, ich könnte meinem Sohn immer noch ein guter Führer sein, wenn wir den Fujijama besteigen und Nagasaki besuchen. Auch will ich die Verhandlungen mit der Regierung des Mikado selbst führen, der Baron Ishii ist ein guter Freund von mir. Ich habe mit Worringer gesprochen, der meinte, ich wäre noch kräftig genug, die Strapazen einer Weltreise auszuhalten, trotzdem rät er mir zu einer gewissen Regelmäßigkeit. Auch für dich, Barbara, sagt er, wäre das Klima in Japan zuträglich. Deshalb –«

Er weidete sich an den gespannten Gesichtern.

»Deshalb ist eine Kabine auf der ›T 1000‹ für Frau Barbara von Lettau mit Begleitung belegt worden, und wenn Gisela es mit ihrem studentischen Gewissen in Einklang bringen kann –«

Er kam nicht weiter, Gisela war ihm um den Hals gefallen. »Das kann sie, Vater.«

»Dann soll sie einmal an Ort und Stelle prüfen, ob die langatmigen Beschreibungen der Weltreisenden über das japanische Kirschenfest wirklich richtig sind.«

»Mit Rainer –«

Der Geheimrat wurde ernst. »Mit Rainer. Aber dann kommt ein Trennungsjahr.«

Gisela jubelte. »Fliegen wird das, fliegen, wie ich, wie wir.« Die Tränen traten ihr vor Freude in die Augen. Dann aber sah sie auf Barbara. »Und du, Barbara, freust du dich denn gar nicht?«

»Ich habe auch ein Jahr vor mir«, sagte die leise.

»Dann wird auch alles klar sein, was heute noch dunkel ist.«

Während die Vorbereitungen für die polizeiliche Abnahme und die Indienststellung der ›T 1000‹ mit Eifer betrieben wurden, trafen die letzten Berichte über den Start des ›Leviathan‹ ein. Und als die ›T 1000‹ ihren Abnahmeflug begann, wurden in Croydon die letzten Benzintanks gefüllt, und MacKenney prüfte, bereits im Fliegeranzug, noch einmal seine Apparate.

Früh am Morgen waren Macmorris und Lady Olga eingetroffen, die letztere im einfachen Reisekleid, und hatten sich ohne Aufenthalt in das Flugzeug begeben.

Der Sender Daventry verbreitete die Nachrichten über die ganze Erde. Truckbrott hatte den Empfänger der ›T 1000‹ auf die englische Welle einstellen lassen, und während der Erste Offizier das Kommando führte, folgte er den Meldungen.

»Der ›Leviathan‹ steht startfertig auf dem Felde von Croydon«, klang es aus dem Schalltrichter. »Trotz der frühen Morgenstunde wartet eine tausendköpfige Menge auf das Ereignis – der Lordmayor von London begibt sich zum Flugzeug – er spricht mit dem Viscount, sie schütteln einander die Hände – soeben erscheint das Auto des Ersten Seelords, er fährt bis dicht an die Tragflächen heran. Seine Lordschaft steigt aus, er tritt – nein, er springt zur Seite, salutiert – der Prince of Wales im weichen Sporthut ist mit ihm gekommen. Die Menge jubelt ihm zu.«

Ein fernes Brausen erfüllte den ganzen Raum. Leise hatte Doktor Truckbrott die Kabinentür geöffnet und war zu seinem Sohn getreten.

»Nun feiern sie drüben den Triumph eines andern, Junge.«

Der wies auf den Riesenschatten der ›T 1000‹, den die Morgensonne auf die Erde malte und der mit ungeheurer Geschwindigkeit über das Land flog.

»Ist das nicht Erfolg genug?«

»Du bist noch zu jung, Günter, um auf das zu verzichten, was die Welt an Ehren zu vergeben hat.«

»Erfolg kann nur in uns sein«, erwiderte der Sohn hart.

»Der Prinz spricht mit MacKenney, der ihn an der Treppe empfangen hat, er steigt ein, um die Maschine zu besichtigen. Die Menge drängt die Policemen zur Seite, die bilden mit den Armen eine Kette – die Kette reißt. Ein Jagdflugzeug knattert über den Platz heran und treibt sie zurück.«

Der Unsichtbare räusperte sich. »Sofort nach dem Start wird ein Beamter der Gesellschaft aus der Kabine des ›Leviathan‹ heraus einen Funkspruch an die ganze Welt geben.«

Ein dienstfreier Pilot unterbrach. »Der Oberregierungsrat vom Polizeipräsidium läßt den Herrn Kommandanten bitten, den Lautsprecher im Rauchsalon mit Daventry zu verbinden.«

Truckbrott lächelte. »Du siehst, Vater, es ist ein europäisches Ereignis.«

»Seine Königliche Hoheit haben das Flugzeug verlassen und begeben sich mit dem Seelord und dem Lordmayor auf den Turm der Luftpolizei – die Türen werden geschlossen –« ein Donnern ließ die Worte unverständlich werden. Dann brüllend: »MacKenney läßt Gas geben – die Eisenschienen fliegen zur Seite, die Propeller jagen, der ›Leviathan‹ setzt sich in Bewegung.«

Brausend klang das Rule Britannia über alle Welt.

»Die Lady am Kabinenfenster – sie lächelt – der ›Leviathan‹ ist in die Flugrichtung eingebogen – die Motoren laufen mit Vollgas – die Räder streifen den Boden nur noch –«

Schreien – Brüllen – Toben.

» Tree cheers for MacKenney –«

»Sie rollen in die Luft – der ›Leviathan‹ hebt sich – schwankt – jetzt biegt er in die Kurve – steigt – hundert Meter, zweihundert – er biegt auf London zu – fünfhundert Meter –«

Eine neue Stimme dazwischen. »Funkstation an Bord des ›Leviathan‹. – Wir überfliegen in siebenhundert Meter Höhe Buckingham Palace – Tower – wir halten Kurs auf Dover, Reisegeschwindigkeit vierhundertfünfzig Stundenkilometer. Weitere Nachrichten folgen vom Eiffelturm.«

Die ›T 1000‹ hatte den Harz erreicht und stand hoch über den Gebirgstälern. Truckbrott trat in den Rauchsalon. »Welche Aufgaben haben die Herren noch für das Flugzeug?«

Der Regierungsrat erhob sich. »Danke, nichts mehr.«

»So können wir wenden?«

Der Beamte, bedauernd: »Leider. Während die Engländer die Aufmerksamkeit der ganzen Welt für sich haben.«

Zwei Stunden später meldete Eiffelturm den ›Leviathan‹, am Mittag Bordeaux, am späten Nachmittag Kap Finisterre über Madrid.

Die ›T 1000‹ war längst in Tempelhof gelandet und wurde für den Japanflug vorbereitet. Truckbrott war in die Stadt gefahren.

Im Büro der Luftunion neue Depeschen. »Wegen Sturm im Gebiet der Azoren hat sich MacKenney entschlossen, seinen Kurs nördlich des 47. Breitengrades zu halten und direkt St. Johns anzusteuern.«

Eine Einladung Barbaras für den Abend hatte Truckbrott abgelehnt, er mußte allein sein. Er war wieder nach Tempelhof gefahren und saß einsam in dem Büro des Luftdienstes, den Hörer am Kopf. Meldungen über die Funksender kamen jetzt seltener, dafür hatte er die Betriebswelle der Imperial Airways, die den technischen Verbindungsdienst mit dem ›Leviathan‹ versah, eingeschaltet und notierte mechanisch die Morsezeichen. Es war gegen zwölf Uhr nachts.

Seit achtzehn Stunden flog der ›Leviathan‹ nun. Die Maschine tackte. Zuerst das Betriebszeichen, dann Ortsbestimmung. 51 Grad nördlicher Breite, 9. Längengrad, Zeit 23 Uhr 56 Minuten. Geschwindigkeit 300 Kilometer, Flughöhe 2000 Meter. Motorengang wieder regelmäßig, Luft ruhig. Kurs: West-West-Nordwest.«

Truckbrott stieß die Tür zum Nebenraum auf. »Wann hat ›Leviathan‹ Motorenstörung gemeldet?«

»Vor zwanzig Minuten.«

Das mußte er überhört haben.

Jetzt wieder: »24 Uhr 10 Minuten. Störungen am linken Motorpaar wiederholen sich. Geschwindigkeit 260 Stundenkilometer.«

Der ›Leviathan‹ hatte viel Zeit verloren, die Motoren mußten schon lange unruhig laufen.

24 Uhr 25 Minuten: »Zuleitung zum linken Motorpaar versagt. Reparatur notwendig. Nacht sternklar, See leicht bewegt. ›Leviathan‹ geht zu Zwischenlandung auf das Wasser. Weitere Meldungen nach Aufrichtung des Antennenmastes.« Gleich darauf eine Beruhigungsmeldung an alle: »MacKenney probt seinen ›Leviathan‹ in allen Lagen, er wird jetzt, 2000 Kilometer von jeder Küste entfernt, auf See niedergehen und etwa eine Viertelstunde dort verharren.«

Kurz – kurz – lang – kurz – lang – kurz – lang –: »Notmast aufgerichtet, Landung reibungslos – ›Leviathan‹ liegt ungefährdet.«

Das Telephon schrillte. »Geheimrat von Gordon hier. Was sagen Sie zu der Notlandung?«

»Motorpanne. Er hat Ersatzteile an Bord.«

24 Uhr 40 Minuten: »Reparaturraum bei Landung beschädigt, hat Wasser genommen. Schotten gedichtet.«

24 Uhr 50 Minuten: »Ersatzlager unerreichbar. Weiterflug ohne linkes Motorpaar unmöglich.«

1 Uhr: »Umbauversuch mißglückt, wir brauchen Hilfe.«

Um 1 Uhr 10 Minuten lief in Tempelhof folgender Funkspruch ein: »Britische Regierung meldet ›Leviathan‹ in Seenot. Flugzeug liegt ohne Ersatzteile auf 50 Grad Länge, 9 Grad Breite. Mit Reparaturlast für Seeflugzeuge unerreichbar, kann deutsches Großflugzeug starten?«

Die Frage wurde sofort nach Westend an Gordon weitergegeben, der mit Barbara und Gisela noch immer wartete. Barbara preßte die Hand auf die Brust.

»Was wirst du tun, Papa?«

»Die Entscheidung hat Truckbrott als Kommandant.«

Sie preßte ihr Ohr neben das des Vaters, hörte die ruhige Stimme: »›T 1000‹ kann in einer halben Stunde starten.« Es schnürte ihr die Kehle zusammen. »Das ist sein Sieg.«

Und der Geheimrat: »Der Sieg des deutschen pedantischen Aufbaus.«

»Können wir den Start sehen?«

Gordon sah auf die Uhr. »Er wird rascher sein als wir.«

Draußen in Tempelhof heulten die Alarmsirenen im Lager der Bordmonteure, die mit den Piloten draußen untergebracht waren. Lichter flammten auf, Scheinwerfer suchten, Trecker holperten aus dem Dunkel heran, Seile spannten sich, Kommandos.

Und ein Funkspruch: »›T 1000‹ wird zur Hilfeleistung starten, haltet Ersatzteile Croydon bereit. Brennstoff, Öl.«

Mit langen Fingern tasteten die Lichter der ›T 1000‹ in die Dunkelheit, die Motoren liefen an, die Propeller schwirrten. Leuchtraketen überall. Ein grünes Licht jetzt auf dem Polizeiturm.

Start frei.

Eng aneinander gedrängt standen Barbara und Gisela am Turmfenster und starrten in die Nacht. Unten das Telephon: »›T 1000‹ startet soeben.«

Zwei Minuten später donnerten die Motoren durch die Luft heran. Nur Umrisse konnte man am Nachthimmel erkennen.

Der Geheimrat stand hinter ihnen. »Das ist er.«

Und Gisela: »Rainer wird traurig sein.«

Wieder der Geheimrat: »Ich versuche ihn in Amsterdam zu erreichen, wenn er noch nicht abgeflogen ist, soll er mit dem Tankflugzeug die ›T 1000‹ besteigen.«

Ein grünes Licht stand einsam in der Luft, gleich darauf ein blaues.

»Das gilt uns.«

Und die ›T 1000‹ verschwand im Westen.

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