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V.

Die Berliner Streckenmaschine stand in elfhundert Meter Höhe über Hamburg. Truckbrott zog das Tiefensteuer, drosselte ab und ließ das Flugzeug gleiten. Mit unheimlicher Geschwindigkeit wuchs die Erde an ihn heran. Deutlich vor ihm das grüne Feld, das graue Dach der Halle, die niedrig über den Boden dahinkriechende Rauchsäule, die ihm die Landerichtung anzeigte.

»Aber das Hallendach weg, Herr Truckbrott!« schrie der Monteur.

Jetzt waren die Häuser dicht unter ihnen, ein paar fast spielende Bewegungen, die Maschine legte sich noch einmal in die Horizontale, drehte dann scharf über den linken Flügel, richtete sich wieder auf, Erde, überall Erde – leicht und federnd setzte der Vogel auf und rollte aus. Noch einmal heulten die Motoren auf, ein Junge lief auf den Flügel zu, faßte an, um die Landung zu stützen. Wenige Augenblicke später stand die »D 916« auf der Asphaltfläche.

Truckbrott kümmerte sich nicht um die aussteigenden Passagiere, er war abgesprungen und stand nun neben dem Flugleiter.

»Sie werden erwartet.«

Truckbrott schüttelte den Kopf.

»Es gibt Piloten und Piloten, lieber Truckbrott. Wenn der berühmte Ostasienflieger selbst eine Maschine steuert, dann gibt es schon Leute, die sich darum kümmern.«

Ein junger Mensch war herangetreten und verbeugte sich korrekt – ein wenig zu korrekt. »Papa läßt Sie bitten, sobald es Ihre Zeit erlaubt, ihn zu besuchen.« Barbaras Bruder konnte seine Befangenheit nicht ganz bezwingen. »Unser Wagen wartet draußen, wenn es Ihnen recht ist?«

Kaum zehn Minuten brauchte Truckbrott, um den unförmigen Fliegeranzug abzustreifen, in dem peinlich sorgfältig angezogenen Menschen erkannte man die Eskimogestalt des Flugzeugführers nicht wieder. Rainer von Gordon saß verlegen lächelnd neben ihm im Fond.

»Ich habe Papa gebeten, Sie selbst abholen zu dürfen«, sagte er.

Truckbrott war zu sehr mit eigenen Gedanken beschäftigt, um die Unruhe des andern zu bemerken. Wochen waren seit Amsterdam vergangen, Wochen, die ihn in alle Himmelsrichtungen kommen ließen, denn der Dienst nahm ihn ganz in Anspruch. Aber wie durch einen Zufall hatte er Hamburg nicht berührt. Rainers Gesicht erinnerte ihn an Barbaras Züge, an die letzten Augenblicke in Schiphol, an ihre kühle, abweisende Art.

Der junge Mann sprach weiter. »Ich wollte mit Ihnen sprechen – vorher – ehe Sie Papa sehen werden, meine ich.«

Der war nun zwei Jahre jünger als die Schwester, oder waren es drei? Gleichgültig, die war ein fertiger Mensch, und neben ihm saß ein unsicher tastender Junge.

»Was wollen Sie mit mir besprechen, Herr von Gordon?«

Rainer setzte sich aufrecht. »Es ist, weil Papa Sie sicher fragen wird, und weil ich meinte – ich dachte –« Er räusperte sich. »Ich habe das dritte Semester in Hannover hinter mir, Papa hat mir das technische Studium erlaubt. Papa ist sehr für eine universelle Allgemeinbildung – jetzt will er aber, daß ich ins Ausland gehe, nach Südamerika, glaube ich. Die meisten jungen Hamburger aus den alten Kaufmannsfamilien tun das. Wir haben ja auch eine Niederlassung drüben in Rio. Papa meint, ein Hamburger Kaufmann muß die Welt gesehen haben.«

»Da hat Ihr Herr Vater recht.«

Rainer sah ihn zweifelnd an, es zuckte um seinen Mund, nur einen Augenblick, dann war er wieder der beherrschte junge Patrizier. »Bestimmt, Herr Truckbrott, ich will auch gar nichts dagegen sagen. Ich freue mich auf Drüben.« Er spielte mit seinen Handschuhen. »Es wird ja so viel in unseren Familien von Amerika geredet, daß es gar nichts Besonderes für uns ist, aber …«

»Sie haben also doch Bedenken?«

Der Wagen bog nicht in die Innenstadt ein, wo das Gordonsche Geschäftshaus dicht am Ufer der Alster lag, sondern schwenkte in die Elbchaussee ein. »Papa erwartet Sie draußen, in Flottbeck. Ich habe keine Bedenken, Herr Truckbrott, ich möchte nur jetzt noch in Europa bleiben, drei Monate vielleicht. Wir haben in Hannover ein Segelflugzeug gebaut, alles eigene Konstruktion – zuerst sollte es auf der Wasserkuppe geprobt werden, nun aber – kurz und gut, die Maschine ist nach Rossitten unterwegs, und ich möchte bitten, daß Sie mich bei Papa unterstützen. Ich möchte einen Kursus auf der Kurischen Nehrung mitmachen.« Er schwieg plötzlich und suchte in den Augen des andern.

Kurze Zeit war es still zwischen den beiden, dann eine merkwürdige Frage: »Was sagt Ihre Schwester dazu, Herr von Gordon?«

»Barbara? Ich weiß nicht. Früher hat sie sich für all diese Dinge brennend interessiert. Die Mädels – ihre Freundinnen meine ich –, die haben sie oft damit aufgezogen. Wissen Sie, die Hamburger verstehen nicht viel von Fliegerei und solchen Dingen, hier ist die Börse alles – und Verwandtschaft – und Familie. Dafür hat sich Barbara sonst gar nicht begeistern können, und jetzt ist das ganz anders geworden. Sie hat –«

»Sprechen Sie ruhig, Herr von Gordon.«

»Ausgelacht hat sie mich«, stieß der hervor und wurde brennend rot. »Ausgelacht wie einen Schuljungen. Sie hat gesagt, der zukünftige Chef des Hauses Gordon brauche nicht als Monteur oder Pilot anzufangen. Sie hat merkwürdige Ansichten jetzt, die Barbara.«

»So, ausgelacht«, kam es nachdenklich aus der andern Ecke.

»Aber Papa hat noch gar nichts gesagt. Ich glaube, er will auch mit Ihnen darüber sprechen. Natürlich hat er Sie nicht nur deswegen gebeten, es sind bestimmt andere, wichtigere Dinge. Aber wenn es auch eine Nebensächlichkeit ist, Herr Truckbrott, für mich nicht – und deshalb möchte ich Sie bitten, wenn Papa – wenn«, die Augen baten. Jungenaugen plötzlich, gar nicht zu dem eleganten Menschen passend. »Wollen Sie mir helfen?«

»Vielleicht.«

Dem genügte das. »Ich will auch gern nach Südamerika gehen, wenn der Kursus vorbei ist. Papa soll nicht denken, daß ich ihm einen Strich durch seine Pläne machen will.«

Der Wagen glitt durch das Parktor und stoppte an der Vorfahrt. Die feierliche Kühle des alten Hauses nahm Günter Truckbrott gefangen. Was Generationen zusammengetragen hatten, war hier kunstsinnig geordnet – und doch heimisch. Die alten Niederländer an den Wänden mußten da sein, mußten den Hintergrund bilden für die hohen chinesischen Vasen, für die schweren Möbel, die ein Vorfahr aus Indien mitgebracht hatte. Und weiche Teppiche aus dem Orient wollten jeden Schall abfangen.

Das war Barbaras Welt.

Die breite Marmortreppe führte sicher hinauf in ihre Zimmer, die Blumen in den Vasen hatte sie geordnet, der Park draußen unterstand ihr. Und aus dieser Umgebung heraus versuchte Truckbrott ihren kühlen, widerspruchsreichen Charakter zu begreifen.

Theodor von Gordon unterbrach die Gedanken. Mit ausgestreckter Hand kam er auf Truckbrott zu. »Sie sind ein seltener Gast in Hamburg geworden.« Und dann nach dem Sohne hin. »Sag' Barbara, daß wir in einer halben Stunde essen wollen.« Er zog den Flieger in sein Arbeitszimmer. »Heut wollen wir Sie bestimmt nicht loslassen. Es gibt nämlich allerlei, was wir zu besprechen haben.«

Als sie einander in den Sesseln gegenübersaßen, fuhr er fort. »Geschäftliches – und anderes.«

Truckbrott glaubte zu verstehen. »Ihr Sohn Rainer hat mich bereits eingeweiht.«

Gordon lachte. »Hat er – na, davon später. Erst das Wichtigste. Sie wissen, wie ich der Fliegerei gegenüberstehe, der von heute und der von morgen. Und Sie wissen, daß es mein Bestreben gewesen ist, die hervorragendsten Piloten im Streckendienst zu beschäftigen. Galt es doch für eine neue Sache zuerst einmal das Interesse und das Vertrauen des Publikums zu gewinnen. Wir haben deshalb Männer wie Sie und andere – na, sagen wir einmal, stumpfsinnig in den täglichen Dienst eingespannt, und für den unbeteiligten Zuschauer mag der Vorwurf naheliegen, daß wir unser gutes, unser bestes Material verschwendet haben.«

Als Truckbrott nicht antwortete, fuhr der Geheimrat fort. »… verschwendet haben. Manchen hat das System abgestoßen, und wir haben den einen oder den andern dadurch verloren – mag sein. Mir erscheint das kein Verlust, denn ich kann heute sagen, die Tüchtigsten sind uns geblieben.«

Der Flieger witterte eine versteckte Schmeichelei und schwieg beharrlich. Gordon ging sonst doch geradere Wege.

»Im Flugdienst von heute«, sagte der langsam. »Die Verhältnisse ändern sich rasch, die Maschinen werden größer, der Bedarf an Piloten steigt, mehr aber noch der an Lehrern, die die Praxis unseres eigenartigen Dienstes kennen. Wir stehen vor einer Umwälzung des Flugwesens. Ich habe neulich mit Ihrem Vater zusammengesessen und seine weitschauenden Pläne bewundert. Es ist ja auch Ihre Arbeit mit, die in den Konstruktionen steckt, die der Doktor da ausrechnet und am Modell erprobt. Und seit dem Tage weiß ich's: Bis heute mögen uns Piloten genügt haben, die Zukunft verlangt den Luftkapitän, und den, lieber Truckbrott, sollen Sie uns erziehen.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, Herr Geheimrat …«

»Ich will Ihnen etwas nehmen und etwas geben. Den täglichen Dienst mögen andere versehen. Sie sollen lehren.« Und als Truckbrott wieder schwieg: »Sie haben Bedenken?«

»Ich bin kein Lehrer.«

»Das begreife ich nicht.«

»Lehren ist ein Abschluß, ein Weitergeben dessen, was man selbst erfahren hat, dessen, was man selbst nicht mehr ausführen kann. Lehren scheint mir das Schicksal eines Menschen zu sein, dessen Aufstieg beendet ist.«

»Sie haben keine hohe Auffassung von der Lehrtätigkeit.« Ohne daß sie es bemerkt hatten, war Barbara ins Zimmer getreten und blieb an der Tür stehen. »Hausfrauenpflichten zwingen mich, das Gespräch zu unterbrechen.« Sie übersah die Falte aus der Stirn des Vaters, »Hausfrauenpflichten auch dem von der Reise angestrengten Gast gegenüber. Aber nein, ich habe mich falsch ausgedrückt, Herr Truckbrott, vom Dienst.« Und dann, als sie an dem sorgfältig gedeckten Tisch saßen: »Sie sind ein Rattenfänger, Herr Truckbrott, Sie fangen die Seelen der Kinder.«

»Barbara!« Der Bruder wollte auffahren.

»Ich spreche nur im Gleichnis, Rainer, es war keine Kränkung deiner Männlichkeit. Wenn man in dein Zimmer kommt, findet man merkwürdige Dinge, Konstruktionen und Zeichnungen, die nicht recht in die Kontenspalten eines alten Handelshauses passen wollen.«

Um den Sohn vor Unüberlegtheiten zu bewahren, riß der Geheimrat das Gespräch an sich. »Ich hatte das auf später verschieben wollen, nun aber bitte ich um Ihre Ansicht.«

Truckbrott fühlte Barbaras Augen auf sich ruhen, die spöttische Art ihres Wesens reizte ihn. Schärfer als es sonst seine Art war, nahm er das Wort. »Es wird nicht die Absicht Ihres Sohnes sein, Flugzeugführer zu werden, und doch will mir scheinen, der zukünftige Kaufmann muß in der Luft gefahren sein, so wie der ehemalige es zur See tat. Er muß lernen, um später anordnen zu können. Aber See und über der Erde.«

»Rainer wird Ihnen dankbar sein«, sagte Barbara kühl. »Auch wenn er der einzige Sohn aus einer hanseatischen Familie bleiben sollte, der diesen Weg einschlägt.«

Truckbrott freute sich, daß der Geheimrat von andern Dingen sprach, während sie aßen, und erst später auf das alte Thema zurückkam, als sie allein waren.

»Barbara denkt merkwürdig kühl über diese Fragen,« seine Augen forschten, »– seit Schiphol. Hat es einen Streit gegeben?«

»Verschiedene Ansichten müssen kein Streit sein – das Unternehmen Surewskis wurde von Fräulein Barbara anders beurteilt.«

»Die Frau hat Ihnen die Idee angeboten?«

Truckbrott nickte. »Die unmögliche Idee, und Fräulein Barbara hat es für unbarmherzig gehalten, als ich mich weigerte.«

»Und weshalb taten Sie es nicht? Geld wäre wohl zu beschaffen gewesen?«

»Ich habe andere Pläne.«

Der Geheimrat wurde warm. »Und in denen werde ich Sie stützen. Sie sollen in Ihrer Lehrtätigkeit keinen Abschluß Ihrer Laufbahn sehen, nein, einen Anfang. Der Luftriese der Zukunft braucht einen Führer und Offiziere, die sollen Sie sich erziehen.«

Er hielt ihm die Hand hin.

Truckbrott zögerte noch. »Und Rainer?«

»Wenn es das ist, was es sein muß, eine Etappe auf seinem Wege, dann will ich ihn nicht hindern«, sagte der Geheimrat.

Da schlug Truckbrott ein.

Am Abend traf er Barbara noch einmal. Den ganzen Nachmittag war sie unsichtbar geblieben, hatte Hausfrauenpflichten vorgeschützt, denn der Geheimrat war Witwer. Truckbrott schlenderte durch den Park der Elbe zu. Da vorn, wo die Bäume sich lichten, mußte man einen Ausblick haben. Eine Dampfsirene heulte.

Da vorn lehnte eine schlanke Frauengestalt und sah auf die weite Wasserfläche hinaus. Sie mußte seinen Schritt gehört haben, denn als hätten sie soeben erst ein Gespräch abgebrochen, fuhr sie fort. So, als vollende sie laut einen Gedanken.

»Abendstimmungen wecken das Poetische in uns, das träumerisch Weiche. Man kommt in Gefahr, hier ganz unhamburgisch zu werden.«

Ihr Ton störte ihn. »Warum wehren Sie sich dagegen, Fräulein Barbara?«

»Weil ich muß.« Und dann gleichmütig, konventionell. »Sentimentalitäten gehören nicht in das Erziehungsschema meiner Heimatstadt. Gerade Sie sollten das gut verstehen.«

»Die weibliche Auffassung darf anders sein als die des Mannes«, parierte er.

Sie zuckte die Achseln. »Was soll das Verstehen, wenn die männliche Sachlichkeit es immer wieder tötet. Schließlich, mein Ziel ist es ja wohl, einmal einem so kühl denkenden Haushalt vorzustehen. Ich habe in der letzten Zeit gelernt, daß man keine Umwege machen soll.«

»Sie denken an Surewski?«

»Der ist tot – und Sie haben recht behalten, sachlich recht. Und es war ein Umweg, daß die Frau mich dauerte. Einer von denen, die ich jetzt vermeide – weil man klüger wird.«

»Wo ist unsere Kameradschaft geblieben, Barbara?«

Sie rührte sich nicht. »Haben Sie die nicht mit Füßen getreten?«

»Ich mußte einen geraden Weg gehen, Fräulein von Gordon.«

Jetzt erst sah sie ihn an. »Das müssen wir alle, wir wollen es nur manchmal nicht begreifen. Aber das gibt sich. Nur kann es sein, daß Kameradschaften bei allzuklarem Blick in Fetzen gehen.« Sie wandte sich ab. »Rainer fragte nach Ihnen, er sitzt über seinen Zeichnungen und konstruiert. Seinen Willen hat er nun erreicht. Wenn ich auch hier die Logik noch nicht erkennen kann.«

Und mit kühler Kopfneigung ließ sie ihn stehen.


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