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VI.

Als Rainer von Gordon aus dem Walde heraustrat, blieb er zuerst wie geblendet stehen. Vor ihm lag leuchtend im schimmernden Mittag das Meer. Bewegungslos. Und nach Osten hin wurde der Wald immer schmaler, die Düne immer steiler. Bestimmt war dort das Übungsgelände der Segelfliegerei, und er mußte bald am Ziel sein.

Draußen schwamm ein Mensch, die rote Badekappe leuchtete. Seit einer Stunde irrte Rainer nun bereits im Walde herum, weil er die Fahrstraße verlassen und einen von den einsam verschwiegenen Waldwegen benutzt hatte. Und auf dem hatte er sich verlaufen.

»Halloh!«

Der draußen wendete dem Ufer zu und hob winkend den Arm. Rainer hielt die Hände als Schalltrichter an den Mund.

»Wie komme ich zu den Fliegern?«

»Warten«, klang die helle Antwort, dann peitschten Arme das Wasser, in langen, amerikanischen Stößen kam das Wesen näher, richtete sich auf und lief rasch die letzten Schritte den flachen Strand hinauf. Ein schwarzes, fest anliegendes Trikot, mit weißen Bändern eingefaßt, weiche, abgerundete Formen.

Rainer stotterte. »Ich wußte nicht …«

Ein paar tiefdunkle Augen lachten ihn vergnügt an, während die Schwimmerin sich die Badekappe vom Kopf zog und den schwarzen Jungenkopf schüttelte. »Daß ich ein Mädel bin?« Und dann spottend. »Schadet es etwas?«

Er hatte die Reisemütze gezogen und stand nach Worten suchend vor ihr. Aber das Mädel plapperte unbekümmert weiter. »Zu den Fliegern wollen Sie? Bleiben Sie mal einen Augenblick stehen, da hinten habe ich nämlich mein Badetuch.«

Während er gehorsam wartete und verzweifelt auf das Meer hinaussah, um nicht etwas zu sehen, was nicht für ihn bestimmt war, hüllte sie sich in ihr weißes Laken und stand bald wieder leise lachend hinter ihm.

»Brav. Zur Belohnung dürfen Sie sich auch mit mir in den Sand setzen und warten, bis ich trocken bin.« Sie musterte ihn. »Zu den Fliegern wollen Sie?«

»Ja, und ich möchte eigentlich keine Zeit verlieren, wenn Sie erlauben. Mein Koffer ist sicher schon mit dem Gerätewagen angekommen, der unten am Schiff wartete.«

Alles, was er sagte, schien ihr ein unbändiges Vergnügen zu machen. »Der Hauptmann ist mit den Jungen oben auf der Düne, ganz weit hinten nach Pillkoppen zu, den finden Sie jetzt doch nicht. Und wenn ich Sie gehen lasse, verfehlen Sie nur noch einmal den Weg. Also seien Sie artig und legen Sie sich in den Sand.« Und als er ihrer Aufforderung Folge leistete: »Sie sind sicher der Neue?«

»Kennen Sie denn die Flieger?«

Das Mädel konnte mit den Augen ganz allein lachen, und das tat es. »Ich wohne ja da.« Dann prüfend: »Wie heißen Sie?«

Er wollte korrekt aufstehen, aber sie winkte gnädig mit dem weißen Arm, mit einem sehr hübschen Arm, schien ihm.

So markierte er eine Verbeugung, »von Gordon.«

»Und weiter?«

Er verstand nicht.

»Wie Sie mit dem Vornamen heißen, will ich wissen.«

»Rainer.«

Als sie ihn nachdenklich musterte, wurden ihre Augen nachtschwarz. »Rainer von Gordon ist ein sehr hübscher Name«, sagte sie. »Er klingt wie Musik. Haben Ihre Leute alle solche Namen?«

»Meine Schwester heißt Barbara.«

Sie nickte. »Ich bin Gisela Northmann. Und wenn Sie ins Fliegerlager gehören, Rainer, dann dürfen Sie Gisela zu mir sagen, und jetzt müssen Sie mir die Hand geben.«

Er fühlte einen kräftigen Druck, als er die kleine, feste Mädchenhand schüttelte.

»Ich bin die Nichte von Hauptmann Wilhelmy, der hier die Kurse abhält, und bin bei Tante Ina zu Besuch.«

»Ferienbesuch?«

»Ja.« Wichtig. »Ich bin nämlich Studentin und soll mich erholen.« Als sie den erschrockenen Ausdruck in seinem Gesicht sah, schüttelte sie die schwarzen Haare. »Nicht weil ich krank bin, nur das erste Semester hat mich angestrengt. Papa meint, ich wäre zu fleißig gewesen.«

»Sie waren sicher sehr fleißig.«

»Natürlich, erst habe ich für das Abiturium gebüffelt, na, und als das bestanden war, da gab's so viel Neues, daß man kaum wußte, wo man anfangen sollte. Weil ich nämlich für Germanistik, Literatur und Bibliothekswissenschaften zugleich belegt habe.«

»So ernst habe ich's zuerst nicht genommen«, bekannte Rainer.

Gisela sah ihn von unten an. »Auch Student? Oje, von Studenten halten wir hier nämlich nicht viel.«

»Ich komme von der Technischen Hochschule.«

»Dann schon gar nicht, Onkel sagt, die Studenten wissen alles besser, theoretisch nämlich, und praktisch schmeißen sie uns die Kisten kaputt und machen Bruch.« Das kam so drollig ernst hervor, daß er lachen mußte.

»Ich werde also manches Vorurteil überwinden müssen?«

Das Wort Vorurteil schien eine Erinnerung in ihr aufzuwecken, sie richtete sich auf. »Ich bin ein Schaf. Natürlich ist von Ihnen schon gesprochen worden, der Onkel hat's getan. Sie sind doch der reiche Hamburger Junge, der vom Luftverkehr besonders angemeldet wurde, weil Ihr Vater Aufsichtsrat oder noch mehr bei der Verkehrsfliegerei ist, nicht wahr?«

»Papa ist Präsident der Union«, sagte er leise und schämte sich fast deswegen. »Aber ich bin noch gar nichts und will hier nur lernen, wie jeder andere.«

Es verging eine Zeitspanne, ehe Gisela antwortete. Dann stand sie auf. »Ich will mich jetzt da hinten anziehen, und Sie warten hier, Rainer. Wenn ich fertig bin, können wir gehen.« Und halb über die Achsel hinweg. »Wenn Sie wirklich denken, was Sie eben gesagt haben, dann können wir's schon mit Ihnen versuchen.«

Kaum fünf Minuten später stand sie im einfachen weißen Waschkleid vor ihm, Tuch und Trikot als Bündel unter den Arm geklemmt. Er wollte ihr die Sachen tragen und mußte sich wieder eine Belehrung gefallen lassen. »Wir sind hier Kameraden, auch wenn ich ein Mädel bin, und jedes trägt seinen Kram selbst.«

Während sie durch die Dünen schritten, erzählte sie von dem Königsberger Semester. »Ich habe eine Dachstube, eine richtige Studentenbude. Und alles voll Bücher. Da kann man wunderschön arbeiten – und manchmal, wenn die Sonne zu sehr lockt, dann setzt man sich aufs Fenstersims, läßt die Beine baumeln und sieht den Vögeln zu. Das ist auch schön.«

»Und warum studieren Sie, Gisela?« wollte er wissen.

Die wurde ernst. »Papa kann mich sicher später an einer Universitätsbibliothek anbringen oder an einer von den Staatsbüchereien. Papa hat nur eine kleine Pension, und da darf ich ihm nicht allzulange auf der Tasche liegen. Aber das verstehen Sie nicht, Rainer.«

»Warum sagen Sie das?«

Gisela legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich bin so. Ich muß alles heraussagen, was ich denke. Aber Sie sollen mir lieber von sich erzählen. Wollen Sie zur Fliegerei gehen?«

»Jetzt will ich das. Und zuerst will ich hier fliegen lernen. Segelfliegerei – und Motorfliegen später auch. Aber bleiben – ich glaube, mein Vater hat ganz andere Pläne mit mir.«

»Ein Mann baut sich sein Leben selbst.«

»Jeder nicht, Gisela, auf manchen wartet ein fester Pflichtenkreis, und es wäre feige, wenn er dem ausweichen wollte. Mein Vater ist Chef des Hauses Gordon, das eben finanziell hauptsächlich an der Flugunion interessiert ist, und mein Großvater war's, mein Urgroßvater – so werde ich's auch einmal sein. Und weil Papa noch keine Hilfe braucht, deshalb will ich alles erst einmal studieren, praktisch studieren. Hier und in Berlin später – und dann in Übersee, weil alle Hamburger dahin gehen. In Brasilien, in Nordamerika und sicher auch in Indien und China.«

Ihre Augen suchten in der Weite. »Die Welt sehen ist schön, Rainer.« Ein Gedanke wuchs in ihr auf und schlug sie in Fesseln. »Ich muß einmal die Welt mir aus Büchern zusammenholen, aber ein bißchen eingestaubt ist die Welt so schon, die man zwischen Druckbuchstaben findet. Rainer, ich möchte …«

»Was denn, Gisela?« Er wunderte sich gar nicht, daß sie sich wie zwei alte Freunde beim Vornamen nannten, es mußte so sein. »Was wünschen Sie sich?«

»Ein Junge will ich sein, fliegen, überallhin, die Welt sehen, das Steuer fest in der Hand halten, das Schicksal meistern – es zwingen«, sie ließ die erhobenen Arme sinken. »Aber das ist ja alles Unsinn.«

»Sind Sie noch nie geflogen?«

»Onkel Wilhelmy erlaubt es nicht. Ich glaube, er darf es nicht, und ich möchte doch so gern einmal dabei sein. Und wenn's nur ein einziges Mal wäre.« Sie blieb an der Waldecke stehen und zeigte auf ein braunes Holzhaus. »Dort ist das Fliegerlager.«

Und am Nachmittag war Rainer von Gordon bereits in die neue Gemeinschaft ausgenommen. Der Hauptmann hatte ihm im Büro fest in die Augen gesehen. »Sie sind uns willkommen, Gordon, als Kamerad, als einer, der wirklich nur lernen will.«

Die stahlblauen Augen erinnerten Rainer an Truckbrott. Er hielt den Blick aus. »Das will ich.«

Er wollte zurückschrecken, als er in die große Stube trat, die er mit fünf andern teilen sollte. Es kostete ihn Mühe, am einfachen ungedeckten Tisch an einer Bank zu sitzen und sein Essen auf einfachstem Teller zu verzehren. Er sah, daß all die jungen Leute in geflickten Sachen und derben Stiefeln herumliefen, daß sie arbeitsharte Hände hatten. Aber er sah auch die hellen Augen in den wettergebräunten Gesichtern, und er fühlte drüben vom andern Tisch Giselas Blick forschend auf sich ruhen und glaubte in ihrem Gesicht eine Bangigkeit zu lesen, daß er die Probe nicht bestehen würde. Und als er sah, daß die andern Schüsseln und Bestecke zusammensetzten, um sie in die Küche zu tragen, griff er selbst mit zu und freute sich, als die nachtschwarzen Augen ihm zublinkten.

Gleich nach Tisch zog er seine ältesten Sachen an und ging mit den andern in den Schuppen, wo nebeneinander die Flugmaschinen standen. Leichte Dinger, aus Sperrholz zusammengefügt, und mit Drähten bespannt, und ganz im Hintergrund das große, schwere Flugzeug der Arbeitsgemeinschaft Hannover, an dem er selbst mit konstruiert hatte.

Vorsichtig wurden die Vögel herausgetragen, auf einen zweirädrigen Wagen gesetzt, vor den sich die Jungen spannten, zehn, zwölf vor jedes Seil. Schwer stemmten sie sich gegen die Knüppel und zogen. Die Räder versanken im Triebsand, die ewig wandernde Düne schleuderte ihnen den Sand ins Gesicht und stach wie mit Nadeln. Und doch war alles vergessen, als sie oben standen. Zwischen Haff und Meer die gewaltige Sahara der Kurischen Nehrung, fern am Horizont nach Litauen zu verschwindend.

Einer der ältesten Schüler nahm am Steuersitz Platz, die Maschine war dicht an den Steilhang gezogen worden, der ins Haff abfiel. Die letzten Vorbereitungen, das Gummiseil, kräftige Fäuste, die hineingriffen. Ein Kommando, ein Zug.

Und ruhig schwebte der Vogel hinaus über die Wasserfläche, hob sich, stieg und schoß davon nach Osten, immer dem Dünenkamm folgend.

Ruhe kannten sie hier nicht. Der Hauptmann trat zu Rainer. »Ich habe Sie mit hierhergenommen, damit Sie einen wirklichen Start sehen, jetzt aber kommt Ihre Arbeit.«

Auf ihn wartete drinnen in den Dünen am Flachhang ein kleines Fluggestell. Unermüdlich erklärte der Lehrer die Griffe, einer nach dem andern nahm den lustigen Führersitz ein, einer nach dem andern wurde vom Gummiseil wie von einem Katapult in die Luft geschleudert, flog fünfzig Meter, hundert, um dann zu landen. Schwankend und unsicher die einen, elegant die andern.

»Wenn Sie heute noch nicht starten wollen, Gordon?« fragte der Hauptmann.

Aber Rainer schüttelte den Kopf. »Ich will.«

Nun saß er selbst in der Maschine, hielt den Steuerknüppel fest in den Händen und preßte die Füße in die Steuerung. Eine letzte Probe an den Verwindungen, den beweglichen Flächen. Ein Blick auf das Seil.

Wilhelmy trat dicht an ihn heran. »Vergessen Sie nicht, was Sie gelernt haben.« Dann zurücktretend die Kommandos. »Ausziehen – fertig – los.«

Im Augenblick schwebte der Vogel wohl in zehn Meter Höhe, schwankte, wollte sich auf die Seite legen. Es wirkte sich alles anders aus als am Boden. Jeder Zug ließ das leichte Gestell schwanken. Rainer fühlte, daß die Aufwärtsbewegung beendet war, fühlte die Maschine hinten schwer werden. Die Lehren des Hauptmanns fielen ihm ein. »Schwanzlastige Flugzeuge gleiten ab und stürzen.« Unwillkürlich rückte er das Tiefensteuer, stellte die Maschine in den Wind, spürte ein Gleiten, ein Nahekommen der Erde. Es durfte noch nicht zu Ende sein, er wollte weiter, viel weiter.

Glitt – um endlich doch sanft aufzusetzen.

Einer kam mit der Stoppuhr gelaufen: »Fünfundfünfzig Sekunden, dreihundert Meter.« Rainer sah anerkennende Blicke, hörte Bemerkungen über seinen Flug.

Seinen Flug.

Die schienen zufrieden zu sein. Aber er dachte an ein paar schwarze Mädchenaugen, die für sich allein lachen konnten und die dann wieder so sehnsüchtig in der Weite suchten, weil sie auch fliegen wollten –

Gisela wußte es schon, als er todmüde am Abend zurückkam, sie stand am Schuppen und sah zu, wie sie die Maschine hereintrugen.

»Das haben Sie gut gemacht, Rainer«, ganz leise war's gesagt, nur für ihn. Und die Augen streichelten ihn. Trotz seiner Müdigkeit hing er die schweren Türen mit ein und stapfte dann durch den Sand dem Hause zu. Als die andern schon oben in den Stuben verschwunden waren, stieg er die Treppe hinan. Da huschte in der Dämmerung etwas an ihm vorbei, eine Hand streichelte leise über sein Haar.

»Müde, Rainer?«

Er richtete sich auf, aber die Augen blickten jetzt ganz mütterlich. »Alle sind zuerst müde, das ist so. Ich hab's auch gewußt, und deshalb hab' ich Ihre Sachen schon ausgepackt, damit Sie nun schlafen können. Gute Nacht, Rainer.«

»Gute Nacht, Gisela.«

Aber die war längst verschwunden.


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