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XXII.

Als im Tiergarten die Sträucher zu blühen begannen, kam Rainer nach Berlin. Er hatte Gisela nichts von seiner Ankunft mitgeteilt, er wollte sie überraschen. Aber eine innere Scheu ließ ihn doch das erste Zusammensein mit ihr immer wieder auf den nächsten Tag herausschieben. Vor sich selbst entschuldigte er das mit Arbeit. Er saß oft in den Direktionsbüros der Luftunion, in den Ministerien. Fast jeden Tag kam er an dem Hause vorbei, in dem sich die Bücherei befand, sah zu den mit matten Scheiben verstellten Fenstern hinauf, wünschte, Gisela möchte doch einmal eins dieser Fenster öffnen, um auf einen Augenblick herauszusehen. Die warme Frühlingsluft lockte ja dazu.

Und ging doch hastig und aufatmend weiter, wenn es nicht geschah.

Barbara hatte über ihren Berliner Aufenthalt nicht geschrieben. Nur eine kurze Benachrichtigung, daß sie mit ihrem Manne in Venedig angekommen sei, daß in wenigen Tagen das Schiff abfahren würde. Daß Venedig schön sei. Aber von Gisela kein Wort.

Wie nebenbei erkundigte er sich nach ihren Arbeitszeiten. Er wußte, daß sie früh um neun in die Bücherei kam, daß man dort durcharbeitete, bis halb fünf, oft bis fünf. Und daß der Leiter bisweilen noch am Abend lange mit einer der Damen zu tun hatte, weil die Anforderungen an das neue Unternehmen so groß waren.

Und nun malte er sich diese abendlichen Arbeitsstunden Giselas mit dem Doktor aus – und wurde auf den Menschen, den er gar nicht kannte, eifersüchtig.

Endlich stand er eines Abends doch in der Nähe der Haustür und wartete. Es war noch heller Tag, er konnte jeden, der heraustrat, genau erkennen. Immer wieder ging die Tür auf, und immer wieder erschien ein fremdes Gesicht.

Als er die Hoffnung schon aufgeben wollte, trat Gisela auf die Straße. Mit einer Dame, die lebhaft auf sie einsprach. Gisela blieb stehen, die andere auch, dann gingen sie wieder ein paar Schritte, direkt auf ihn zu. Nun streckte die andere die Hand aus, sicher, um sich zu verabschieden.

Und nun war Gisela allein.

Er trat rasch vor und zog den Hut. »Gisela.«

Eine Blutwelle schoß ihr ins Gesicht, ihre Stimme zitterte, als sie ihn begrüßte. »Rainer.«

»Gisela, ich –« er hatte sich all die Worte, die er ihr hatte sagen wollen, genau zurechtgelegt, und jetzt, wo sie vor ihm stand, fand er kein einziges.

»Ich weiß, daß du in Berlin bist, und ich habe jeden Tag darauf gewartet, daß wir uns begegnen würden«, sagte sie.

»Bist du mir böse?«

Sie schüttelte den Kopf. »Warum denn, Rainer? Weil du da draußen keine Zeit gefunden hast, an mich zu schreiben? Das wußte ich doch, und ich habe dir damals in Rossitten doch auch gesagt, wir wollten einander nichts versprechen. Erinnerst du dich nicht?«

»Ich hätte dir doch schreiben sollen«, er holte tief Atem. »Aber weißt du, zuerst, da kam so viel Neues, mit dem ich fertig werden mußte, daß ich nicht wußte, wie ich es dir sagen sollte – und nachher –«

Sie unterbrach ihn. »Wir können hier nicht stehenbleiben, da sind zuviel Menschen, die dich und mich kennen, und ich will nicht, daß sie über uns reden. Ich habe in einer halben Stunde Seminar in der Universität. Wenn du mich begleiten willst?«

Er sah sie betroffen an.

»Ich muß arbeiten«, sagte sie leise.

»Verdienst du denn nicht genug bei – bei der Union?«

»Doch, für heute und morgen. Aber ich muß auch an die Zukunft denken. Damals, auf der Nehrung, da war ich noch sorglos und habe eigentlich gar nicht viel gedacht. Jetzt geht das nicht mehr. Mit dem, was ich gelernt habe, kann ich nur als Hilfskraft beschäftigt werden, aber ich will später einmal selbständig sein. Ich bin ein armes Mädel, Rainer«, sie sagte das ohne jeden Unterton, nur wie um eine Tatsache zu konstatieren.

»Und ich hätte dir vielleicht helfen können.«

»Hier bei der Union? Nein, Rainer, das hättest du nicht gekonnt – und wenn du es getan hättest, ich würde es nicht einmal angenommen haben. Denn damit wäre für mich ein Fleck auf unsere Gemeinsamkeit von damals gekommen. Rainer, an die denke ich sehr gern zurück.«

»Und ich – du, es ist ganz merkwürdig gewesen. Draußen, in der großen Welt, habe ich mich zuerst heimlich zurückgesehnt, nach den Jungen, nach dem Holzhaus. Ich habe an den Hauptmann gedacht und an die Stunden, die ich oben in der Luft geflogen bin. Immer an den Dünen entlang. Eigentlich habe ich immer nur an den einen Flug gedacht, an den letzten, den mit dir. Und an die Abende, an denen wir beide am Strand gelegen haben und der Sonne zugesehen beim Untergehen. Und dann ist's ganz anders geworden. Ich muß dir das auch sagen, Gisela. Dann bin ich wie in eine andere Welt gekommen, und zu der hat die alte nicht passen wollen. Drüben in den Kaufmannskolonien müssen die Menschen viel nüchterner und praktischer denken, weil das Leben so aufregend ist. Mir ist's nüchtern und trostlos vorgekommen, und wenn ich allein war, habe ich versucht, mir in der Erinnerung alles wieder vorzustellen. Aber die Bilder sind grau geblieben. Und dann im Innern, da gibt's stets etwas Neues, den ganzen Tag hat man gearbeitet, und am Abend war man todmüde.«

»Du sollst dich nicht entschuldigen, Rainer.«

»Erst als ich mit Lettau zurückgekommen bin, ist alles wieder dagewesen«, er schwieg. Er hatte so gern von Barbara gesprochen, aber er wußte nicht, wie er beginnen sollte.

»Ich muß nun auch beichten, Rainer«, fing sie nach einer Weile an. »Ich bin ja doch durch dich hierher gekommen, ich hab's nur nicht gewußt. Sonst hatte ich nicht angenommen. Aber jetzt weiß ich alles, deine Schwester Barbara hat es mir gesagt, von dem Brief, von dem, was du ihr erzählt hast.«

»Und was hat Barbara gesagt?«

Ihre Augen streichelten ihn. »Ihr seid doch eins, Rainer, du und deine Schwester. Äußerlich seid ihr korrekt und wohlerzogen, und manchmal will es scheinen, als wäret ihr sogar kühl. Aber das ist nur ein Panzer, tief drinnen seid ihr warmherzige Menschen.«

»Barbara auch?«

Sie lächelte. »Ja, auch. Wir haben uns gut verstanden. Zuerst – nein, warum soll man davon reden?«

»Tu es, bitte, Gisela.«

»Zuerst haben wir uns nicht richtig gesehen, aber wenn zwei Frauen über einen Menschen miteinander reden, den sie – aber das geht dich nichts an –«

»Gisela, du bist nicht mehr so offen wie früher«, mahnte er.

Sie gab sich einen Stoß. »Das sollst du nicht denken. Also, den sie liebhaben, die eine als Kamerad und die andere als Schwester, dann verstehen sie sich.«

Er freute sich, daß sie so gut von Barbara sprach. »Kannst du nicht heute wenigstens das Seminar weglassen?«

»Rainer, wir können uns doch nicht in eine Konditorei oder in ein Kino setzen. Das paßt nicht zu uns. Ich höre oft, wenn die anderen jungen Mädchen in der Bibliothek von Berlin sprechen und von dem, was sie am Abend vorgehabt haben. Ich möchte auch nicht daran denken, daß es bei uns ebenso sein könnte. Aber wenn du am Sonntag Zeit hast, da bin ich den ganzen Tag frei. Da setzen wir uns auf die Eisenbahn und fahren nach Potsdam oder irgendwo hin, wo man ein Boot mieten kann und am Strande sitzen. Den ganzen Tag, Rainer.«

»Heute ist erst Mittwoch«, bedauerte er.

»Dann sind's nur noch drei Tage«, tröstete sie ihn.

Die drei Tage vergingen ihm wirklich wie im Fluge. Truckbrott kam nach Berlin und erzählte von Köln. »Nun werden wir bauen.«

Und der Vater rief an. »Morgen ist eine Konferenz bei den Sturmvogelwerken angesetzt worden, du solltest dabei sein.«

Eine der kleinen, viersitzigen Maschinen, die immer mehr aus dem Verkehr gezogen wurden, brachte Rainer und Truckbrott nach Mitteldeutschland. Sie hatten nur einen Monteur mitgenommen, und der saß hinten in der Kabine, Truckbrott steuerte selbst.

»Nun habe ich doch nicht mehr motorfliegen gelernt.«

»Wenn Sie Zeit haben, wollen wir das in den frühen Morgenstunden nachholen, Herr von Gordon.«

Das freute ihn. »Und Sie, Herr Truckbrott, wollen mir Unterricht geben?«

Der mußte einen Menschen um sich haben, der zu ihm sprach. Mußte die einsamen Stunden vertreiben, die ihn immer wieder gefangennahmen. Und deshalb wollte er jede Tageszeit mit Arbeit ausfüllen. »Wenn es Ihnen recht ist?«

In der Halle der Sturmvogelwerke war das große Modell aufgestellt worden, das Truckbrott im Winter gebaut hatte. Doktor Truckbrott und der Geheimrat umschritten es, als die Flieger ankamen. Auf einem Zeichentisch waren die Risse ausgebreitet.

Gordon sprang mitten in die Verhandlung hinein. »Wann können wir mit dem Bau beginnen?«

Der Doktor zeigte auf den Fabrikflugplatz. »Dort draußen stehen die drei neuen viermotorigen Maschinen für vierzig Personen, die im Spätsommer von der Luftunion in Dienst gestellt werden sollen, wenn die Probeflüge genügen.«

Der technische Direktor mischte sich ein. »Bisher genügen sie.«

»Das habe ich nicht anders erwartet«, sagte der Doktor ruhig. Für ihn brauchte es diese Probe nicht mehr, was am Zeichentisch richtig war, was das Fegefeuer des Kanalstroms passiert hatte, mußte sich in der Luft bewähren. Der Beweis, der da geliefert wurde, war für die andern. »Wenn die Probeflüge genügen,« fuhr er fort, »werden wir das luftreisende Publikum bald an den neuen, größeren Typ gewöhnt haben und können einen Schritt weiter gehen. Zum ersten Male haben wir hier die Kabinen nach der Seite in die Flügel auslaufen lassen. Wir haben den Rumpf verbreitert und massiert, haben ihn in Abteilungen geteilt und bieten unsern Gästen einen größeren Komfort. Das ist etwas Neues. Außerdem sind Gänge eingebaut worden, die zu den Motoren führen, die nun auch im Fluge für den Monteur nicht mehr unerreichbar sind. Das bedeutet Reparatur ohne Notlandung, erhöhte Sicherheit, erhöhte Bequemlichkeit.« Er lächelte fein. »Im Sinne des Surewskischen Projektes ist diese Maschine wohl schon ein Riesenflugzeug.«

»Der Surewski-Macmorris-Typ ist vergrößert worden«, warf der Sohn ein.

Der Doktor nickte. »Sechzig Meter Spannweite. Wir haben hier vierzig. Ich weiß, aber die ›T 1000‹ hat hundert.«

Gordon beschäftigte sich mit seinen eigenen Gedanken. »Können wir, sagen wir, in vier Wochen zwei dieser Maschinen in den Überlanddienst einstellen?«

Der Direktor hob die Hände. »Die Polizeibehörde.«

»Nicht in den Passagierdienst, ich denke an uns.« Er wandte sich an den Flieger. »Ich möchte unter Ihrer Leitung ein Konvoi von zwei Maschinen ausrüsten, um den bodenorganisatorischen Ausbau der ostasiatischen Route zu beschleunigen.«

Der überlegte. »Und der Bau der ›T 1000‹?«

»Ist jetzt reine Fabrikationssache. Das Konstruktive liegt fest. In vier Wochen haben wir die Expedition ausgerüstet.« Ein Blick, streifte den Sohn. »Es wäre mir lieb, wenn Rainer an ihr teilnehmen könnte.«

»Herr von Gordon wird uns sehr von Nutzen sein.«

»Also abgemacht. Die finanziellen Fragen werden in Berlin erledigt. Sie sprachen noch von einer Überraschung, Herr Direktor?«

Der ging voran bis in die Ecke der Halle, schritt eine schmale Treppe hinauf und blieb vor einer engen Tür stehen, die er aufschloß. Ein Druck auf einen Knopf, und das Licht flammte in einem schmalen, mahagonigetäfelten Gang auf. Die Tür fiel hinter ihnen zu.

»Wir sind in der ›T 1000‹«, sagte er.

Links lag eine Kabine mit Sesseln und Rauchtischen ausgerüstet, durch Schotten abgeteilt, ein Balkon davor, mit Fenstern, die jetzt auf die halbdunkle Halle zeigten. Ein eleganter Schlafraum daneben, eine Küche, Mannschaftskabinen. Alles sorgfältig ausgerüstet in den wirklichen Größen.

Der Direktor erklärte. »Aus sechs solchen Teilen werden die Flügel unserer Riesenmaschinen bestehen, aus sechs Teilen, die außerhalb der kurzen, gedrungenen zwei Rümpfe schweben. Dort hinten wird eine Treppe in den Speisesaal führen, im zweiten Rumpf bringen wir Rauchsalon, Damenzimmer und Spielzimmer unter.«

»Und zwischen den Rümpfen?« fragte Rainer atemlos.

»Den Kommandostand und die Maschinenräume. Zum ersten Male beabsichtigen wir eine zentrale Maschinenanlage aus vier dreitausendpferdigen Dieselmotoren mit Preßluftzuleitung zu den Propellern. Die Versuche auf dem Bremsstand sind abgeschlossen.«

»Wann kann der Bau beendet sein?«

»In einem Jahr können die praktischen Flugversuche beginnen.«

Am Sonntag sprach Rainer von nichts anderm als von der neuen Maschine. »Du wirst es nun bald selbst in allen Zeitungen lesen können. Papa sagt, man muß das Interesse steigern, alles muß mitarbeiten, die Presse, der Film, das Radio.«

Er hatte ihr eine Überraschung gemacht. Als sie in Potsdam angekommen waren, führte er sie durch die alten Straßen am Kanal entlang und stieß endlich eine Holztür auf.

»Werden wir hier ein Boot bekommen?«

Er ging hinter ihr, damit ihn sein vergnügtes Gesicht nicht verraten sollte. »Geh nur.«

Und dann standen sie auf der kleinen Insel auf dem schmalen Laufsteg, und unter ihnen schaukelte ein weißes Bootchen mit Mast und Segel, mit sauber gearbeiteten Rudern und hübschen bunten Kissen auf dem Boden. Vorn am Bug in blauen Buchstaben der Name: Gisela.

Sie errötete. »Was ist damit, Rainer?«

»Dein soll's sein. Damit wir nicht in Kinos und Cafés herumsitzen sollen, damit wir auf dem Wasser sein können und von der Nehrung träumen.« Und als er sah, daß ihre Augen traurig wurden: »Was ist dir, Gisela?«

»Du hättest mir nichts schenken sollen.«

Wieder lachte er spitzbübisch. »Ich hab's ja auch nicht getan. Da, lies einmal, ein Telegramm vom Piräus. Da war nämlich Barbara am Freitag, ein sehr langes Telegramm.« Er las: »Liebes Brüderchen, jetzt wirst du Gisela wohl selbst gesprochen haben, und sie hat dir von mir erzählt. Ich denke oft an sie, und damit sie das auch tut, sollst du ihr etwas sehr Schönes schenken von mir. Du wirst am besten wissen, was es sein muß. Morgen verlassen wir Europa, deshalb ist heute der richtige Tag für mein Geschenk. Barbara.«

»Nun, hab' ich's so recht gemacht?« fragte er.

Sie sah sich um, ob sie auf der Insel auch ganz allein waren. Da gab es nur das Bootshaus und dichte, grüne Büsche. Und wieder legte sie ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. »Ja, Rainer.«

»Und jetzt kommt noch etwas«, trumpfte er auf und holte einen Korbkoffer mit Tellern, Bestecken und Büchsen, die alle gefüllt waren. »Weekend nennt man das Ding, weil Englisch jetzt modern ist in Berlin. Das reicht für den ganzen Tag, und wenn du später allein hier fahren wirst, weil ich doch wieder fort muß, dann sollst du in das Köfferchen alles einpacken, was du brauchst.«

»Jetzt muß ich doch schelten.«

Er bettelte mit den Händen. »Bitte, tu's nicht, Gisela. Steig ein.« Sie setzten sich hintereinander und stießen ab. Unhörbar glitt das Boot in die Havel hinaus, durch Seerosenfelder hindurch, einen engen Kanal entlang, bis sich der Wind auf dem offenen See in das Segel legte und sie träumen konnten.

»Du und Barbara, ihr macht mir die Arbeit nicht leicht«, sagte sie.

»Ist's nicht schön, wenn man sich die ganze Woche auf den Sonntag freuen kann? Natürlich fährst du schon am Sonnabendnachmittag heraus und ruderst in eins von den Haveldörfern, nach Ferch oder nach Werder. Nun werde ich stets wissen, wo ich dich in Gedanken suchen muß. Wochentags in der Bibliothek und Sonntags auf der Havel. Du, ich werde oft lange Listen schicken, wenn ich Bücher und Karten brauche. Wir arbeiten ja nun zusammen.«

»Ja, wir arbeiten zusammen.«

»Freut dich's nicht?«

»Doch, Rainer.«

Als sie am Abend allein in ihrem Stübchen in Charlottenburg saß, befühlte sie die Arme, die die Frühlingssonne braun gebrannt hatte, und als sie sich im Spiegel ansah, lachten ihre Augen wieder.

»Ich bin doch ein glückliches Menschenkind«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.

Und das nickte ernsthaft wieder.


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