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X.

Auf dem Flugfeld von Staaken standen die Übungsmaschinen startbereit, als Truckbrott am nächsten Morgen das Haus verließ. Er ging hastig auf eins der größeren Flugzeuge zu, suchte mit den Augen unter den jungen Leuten und winkte endlich einen an sich heran.

»Sie werden mit mir aufsteigen.«

Der wollte hastig in den Führersitz steigen, aber Truckbrott hielt ihn zurück. »Rollen Sie zuerst zur Benzinstation und nehmen Sie Brennstoff auf für einen Streckenflug.«

»Wohin, Herr Truckbrott?«

Der nannte kein Ziel. »Für vier Stunden, Flugrichtung gebe ich unterwegs an.« Und dann zu den andern: »Die Schulflüge wird heute Herr Wollner leiten.«

Es war nichts Seltenes, daß Truckbrott mit einem der Schüler aufstieg, so wurde das Ereignis nicht weiter besprochen, und die Maschine rollte davon.

Um wenig später in die Morgenluft aufzusteigen.

Dann sahen die Zurückbleibenden ihr nach, der Start wurde fachlich und scharf kritisiert, die Platzrunde genau beobachtet. Und andere Dinge nahmen die Aufmerksamkeit wieder gefangen.

Truckbrott gab mit einer Handbewegung den Kurs nach Südwesten an. Unten waren scharfe Böen. Der Schüler wollte seine Kenntnisse zeigen, stieg bis achthundert Meter, ließ die Maschine dann wieder fallen, bis er die ruhigste Luftzone gefunden hatte, in der er bleiben konnte, und wunderte sich, daß von seiten des Lehrers nicht einmal ein anerkennendes Kopfnicken wie sonst erfolgte.

Der beachtete ihn kaum. Saß am zweiten Steuer, die Hände tief in die Taschen vergraben, während die Maschine jetzt rasch und ruhig dahinschoß.

Endlich, nach anderthalb Stunden ein Zeichen. Vor ihnen lag das grüne Feld der Sturmvogelwerke in Mitteldeutschland, ein Platz, der im Verkehr nicht angeflogen wurde. Zwei, drei Maschinen kreisten hoch oben in der Luft zu Probeflügen. Die verschlafene kleine Stadt lag im Nebel rechts seitwärts.

»Landen!«

Im Gleitflug ließ der Schüler die Maschine heruntergehen. Weil es keine Rauchfahnen gab, die den Bodenwind anzeigten, orientierte er sich nach der Windflagge, schoß einige Meter über die große Halle hinweg.

Setzte auf.

Truckbrott wartete kaum, bis der Motor endgültig abgedrosselt war, sprang ab und ging dem Platzwärter, der hastig angelaufen kam, entgegen.

Der erkannte ihn. »Da wird sich der Herr Doktor aber freuen.«

»Ist mein Vater in der Fabrik?« Er schüttelte die arbeitsharte Faust, die ihm hingestreckt wurde. »Helfen Sie meinem Piloten das Flugzeug befestigen, und sagen Sie ihm Bescheid. Ich will in drei Stunden wieder aufsteigen.«

Dann ging er den wohlbekannten Weg auf die Fabrikgebäude zu. In der großen Halle jagten die Treibriemen, trieben die Bohrmaschinen und Drehbänke, die aus Aluminiumrohren und Klötzen die Motorteile herausschälten. Auf langen Holzgestellen dehnten sich die Flügel zukünftiger Luftsegler, Menschen überall dazwischen mit Hämmern, mit Sauerstoffgebläsen. Funken, die in buntem Feuerwerk nach allen Seiten auseinandersprühten.

Dann ein langer Gang, ein großer Büroraum.

Eins von den Mädchen, die in weißen Kitteln über ihre Arbeit gebeugt saßen, sah auf. »Der Herr Doktor ist im Kanalstrom, soll ich melden?«

»Lassen Sie.«

Er wollte den Vater überraschen. Im niedrigen Raum saß der Doktor Ludwig Truckbrott vor einem an feinen Drähten aufgehängten Modell, das freischwebend zwischen zwei Rohren hing, aus denen ein Luftstrom herauszischte. Er sah nicht einmal auf.

»Was gibt's denn?«

Der Mann dort hätte sein älterer Bruder sein können, sein zweites Ich. Derselbe kleine, scharfgeschnittene Schädel mit den kurzen, borstigen Haaren, die hier nur schneeweiß waren, dieselben durchdringenden Augen, die das Modell keinen Augenblick losließen, die feinen, schlanken Hände, die ewig auf den Hebeln lagen und den Luftstrom regulierten.

Das Modell schwankte.

»Vater!«

Der Alte drehte hastig den Kopf, sprang auf. »Günter, Junge!« Mit raschem Griff stellte er den Zugstrom ab und legte dem Sohn die Hände auf die Schulter. »Ich habe mir immer gedacht, daß du einmal kommen würdest. Aber heute, nein, gerade heute war ich ganz ahnungslos.«

Truckbrott war an das Modell getreten. »Was hast du denn da?«

»Eine genaue Kopie des verunglückten ›Leviathan‹. Wir haben uns die Maße und Formeln beschaffen können und wollen nun alles noch einmal nachrechnen. Das tun, was andere vorher hätten machen müssen.« Wieder drehte er die Hebel. »Der verunglückte Start mag ein Zufall gewesen sein, da versagen unsere Berechnungen. Wenn aber all die Zahlen wirklich richtig sind war das Unternehmen ein bodenloser Leichtsinn und hätte noch unterwegs zur Katastrophe führen müssen. Unsere Geldgeber haben uns vorher die Hölle heiß genug gemacht, so ist meine Arbeit nun eine Art Rechtfertigung.«

»Ist das eine nicht so unnötig wie das andere?«

Die alten Augen suchten nach der Tür und vergewisserten sich, ob sie wirklich allein waren. Dann kam es leise, vertraulich: »Sie sollte es wenigstens sein, Junge, aber sie ist's nicht. Ja, wenn wir es nur mit Konstrukteuren und Fachleuten zu tun hätten. Denen macht man es leicht klar. Aber so eine Fabrik braucht Geldgeber, Laien, die keine Entwicklung sehen wollen, die nur den Erfolg fordern. Für ihr Geld. Sieh mal, für die marschieren wir nur in einer Rubrik ihres Kontobuches, und meist sogar auf der Ausgabenseite. Wir Konstrukteure ganz, und ihr Flieger, die ihr schon mehr im praktischen Leben steht, auch noch zum großen Teil.«

»Das weißt du, Vater, und sitzt trotzdem seit einem Menschenleben hier?«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Mit meiner Arbeit hat das nichts zu tun. Es ist ja auch keine Erkenntnis, die man sich dauernd vor Augen hält, nur manchmal kommt sie, wenn man grübelt. Aber das ist unfruchtbar. Ja, manche Stunden werden uns wohl verleidet, aber dann gibt's wieder andere, die sind unser eigenstes Eigentum. Wenn sich aus Zahlen und Linien die Formel herausschält, wenn wir die luftdynamischen Kräfte berechnen, ganz genau berechnen, die da draußen über unsern Köpfen durcheinandertoben. Nach den Gesetzen des Auftriebs, des Falls und der Erdenschwere. Und wenn dann unsere Formeln all diesen Gesetzen scheinbar Hohn sprechen, wenn wir ein Ding aus Holz und Aluminium, schwerer als die Luft, hinaufheben, wenn wir ihm eine Kraft geben dürfen, die alle Hindernisse überwindet, Dinge vorausahnen, nein, nicht ahnen – wissen, die in Jahren sein werden. Dann lacht man über solche Kleinigkeiten.«

»Du, Vater.«

Die grauen Augen suchten. »Du nicht, Günter?«

»Gestern ließ Gordon mich rufen und erzählte mir Neues von dem ›Leviathan‹.

Der Vater nickte. »Ich weiß, in England wollen sie einen neuen konstruieren.«

»Der Geheimrat hat sein Hauptbuch vor mir aufgeklappt, hat Zahlen aufmarschieren lassen. Dinge, die ihm am Herzen liegen, Weltverkehr, Weltwirtschaft, und nicht zuletzt der Kampf um das Primat, das er durch die neuen englischen Versuche bedroht sieht. Er will mich nach England schicken.«

»Und was hast du ihm gesagt?«

»Gestern habe ich noch um Zeit gebeten, weil etwas in mir aufgewacht ist, was ich selbst noch nicht kenne. Aber heute sehe ich klarer. Hauptsächlich über mich selbst. Man verkennt leicht seine eigene Stellung im Trott der Alltäglichkeit, und es ist gut, wenn uns das Schicksal äußere Ereignisse schickt, die uns wie auf einen Turm führen, die das weite Land vor uns ausbreiten und den Nebelschleier wegziehen, der vor unsern Augen gelegen hat. Ich glaubte mich bisher im Dienste der Flugidee, seit gestern weiß ich, daß ich im Dienst des Kapitals stehe.«

Die Stimme des Vaters zitterte. »Junge, wir alle sind nicht frei, auch die nicht, die es uns scheinen.«

»Sicher hat ihn etwas getrieben – von seinem Standpunkt aus mag er recht haben. Ich aber muß mich entscheiden, Person oder Sache. Und Vater, da kann es mir nicht zweifelhaft sein, auf welche Seite ich treten werde.«

»Und was wirst du tun?«

»Meine Stellung aufgeben, andere mögen an meinem Platze weiterlehren. Es ist wichtig genug, aber nicht das Wichtigste. Ich will mich selbst finden und dann wieder rein der Sache dienen. Ich will unabhängig an meinen Konstruktionen weiterarbeiten, Versuche machen, meinen Blick schärfen, die Schultern mit aller Kraft einstemmen, um das Rad der technischen Entwicklung wieder einmal eine Umdrehung weiterzubringen. Nicht als Kuli, als Herr. Wer wirklichen Fortschritt will, darf keine Konzessionen machen.«

»Und das Fliegen, Günter, es muß auch Menschen geben, die sich selbst einsetzen, die den Glauben an das haben, was andere errechneten. Das hast du immer getan.«

»Ich will's auch wieder tun. Aber, Vater, das Flugzeug der Zukunft, das soll mein sein, gedanklich in allem mein. Berechnen will ich's, ich werde rechnen, und du wirst rechnen, bauen will ich's, will's in jedem Teil und Teilchen kennen, wenn es aus all den Werkstätten hier wachst, und wenn es zusammengesetzt wird drüben in der großen Halle. Der Maschinenstand wird mein Maschinenstand sein, kein Ventil, kein Kolben an dem Motor, den ich nicht kenne. Wenn es dann aber fertig ist, will ich auch der Mann sein, der es führt. Mir soll's gehorchen. Und weil die Zeit drängt, will ich mich nicht mit Kleinkram aufhalten.«

Der Doktor sagte nichts.

»Ich gehe nach Schweden, dort will ich den Winter über rechnen und arbeiten. Ich habe einen guten Kameraden gefunden, der mich stützen wird, ein Mensch, der zuhören kann, schweigen, wenn's not tut – und der doch sich selbst genug ist, um nicht sklavisch nur meinem Willen zu dienen.«

»Ist's eine Frau?«

Truckbrott atmete tief auf. »Ja, Vater.«

»Frauen können gute Kameraden sein, Junge, aber sie werden nie vergessen, daß sie Frauen sind.«

»Und die Mutter?«

»Deine Mutter und ich sind aus einer andern Zeit, die einfacher, unkomplizierter gedacht hat. Vielleicht ist es das größte Lob, das man ihr sagen kann, wenn manche jetzt auch anders denken, sie ist ihrem Manne immer Frau gewesen und ihren Kindern immer Mutter.«

»Vater, ich bin nicht mehr jung, wenigstens nicht, wenn ich die Jungen vor mir sehe, die ich anleite. Mein Leben ist ganz Pflicht gewesen, und für die Frau war wenig Raum drin.«

»Und jetzt?«

»Sie ist wie etwas Neues in mein Leben getreten. Fordernd und doch wieder nicht fordernd – wohl mehr geben wollend. Und doch wie etwas, das als Naturgesetz sein Recht verlangt.«

»Liebst du die Frau, Günter?«

»Sie ist kein Kind mehr, sie kennt das Leben wohl besser als ich. Ihr Mann hat ihr einen großen Besitz hinterlassen, oben in Schweden.«

»Junge, Besitz fordert.«

»Es ist etwas in uns, das klingt gleich, deshalb fürchte ich die Forderung nicht.«

»Und du wirst sie heiraten?«

»Vater, ich weiß ja nicht einmal, ob Pia mich überhaupt haben will. Als ihr Gast gehe ich nach Schweden.«

Dann ging er hinein in die Stadt, schritt durch die altbekannten Straßen, in denen ihn jedes Haus grüßte, stieg Treppen hinauf und saß endlich in dem gemütlichen, alten Zimmer der Mutter gegenüber und hörte geduldig all dem zu, was sie ihm zu erzählen hatte.

Trotzdem ihre Welt nicht mehr die seine war.

Als die Stadt wieder im Nebel versank und die Maschine nach Norden zustrebte, wußte er, welchen Weg er zu gehen hatte.


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