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XXVI.

Gisela, die nun in Hamburg Barbaras Zimmer bewohnte, war womöglich noch eifriger geworden. Der Geheimrat war ein Frühaufsteher, schon zeitig am Morgen sah sie seine schlanke Gestalt in raschen Schritten durch den Park gehen. Immer genau eine halbe Stunde, wie der Professor es verordnet hatte. Dann wußte sie, daß es Zeit war, sich zu beeilen.

Einen prüfenden Blick über den Frühstückstisch, der für sie und ihn in dem kleinen Kabinett neben der Bibliothek gedeckt wurde, ob die Eier richtig zugedeckt waren und der Aufschnitt zurechtgestellt. Ein Griff an die Benzinflamme, dann stand er meist schon im Zimmer.

Jeden Tag fast die gleiche Unterhaltung.

»Guten Morgen, Gisela.« Und mit einem Blick auf die Uhr: »Sie fahren nicht mit mir?«

Das hatte sie schon im Anfang abgelehnt. Es sei nicht richtig, wenn eine Studentin am Universitätsportal vorführe, während die Professoren zu Fuß gingen. Auch der Kommilitonen wegen vermied sie das.

Und dann: »Haben Sie Briefe, die uns gemeinsam interessieren?«

Er liebte es, wenn sie aus den oft eintreffenden Schreiben Barbaras vorlas, wenn sie ihm kurz berichtete, wie ihr Tag verlief.

Nach Briefen von Rainer fragte er nie. Die trafen meist mit Sammelsendungen in dem Geschäftshaus ein, sobald ein Kurierflugzeug die lange Reise beendet hatte. Und jedesmal wartete dann ein besonderer Bote des Hauses Gordon vor der Universität, damit sie den Brief auch nicht um eine Stunde später, als es notwendig war, erhalten sollte.

Und oft kam es dann vor, daß die pflichttreue Gisela eine Vorlesung vorübergehen ließ, um in einem stillen Winkel der Anlagen ihren Brief zu lesen.

Sie war oft zweifelhaft, wie der Geheimrat nun über sie dachte. Im Verkehr mit andern hanseatischen Familien hatte sie erkannt, daß der Hamburger Kaufmann ein kühl und sachlich denkender Mensch ist, in dessen Leben Gefühlsmomente keine allzu große Rolle spielen durften. Wohl weil die Anforderungen, die die Wirtschaft stellte, so ungeheuer groß waren.

In wenigen Köpfen konzentrierte sich hier der deutsche Handel mit Übersee. Tausende waren von den richtigen Dispositionen eines einzigen Menschen abhängig. Und daß Geheimrat von Gordon einen besonderen Faktor im Wirtschaftsgetriebe darstellte, erkannte sie deutlich.

Die Gewohnheit, die er seit Barbaras Fortgang ausgenommen hatte, in der Stadt zu essen, ließ er bestehen. Auch sie blieb lieber in einem der kleinen Restaurants in der Nähe der Universität und saß auch an den Abenden viel allein, wenn ihn Sitzungen abhielten.

Dann schaltete sie die große Lampe in der Bibliothek ein, schob den Sessel in den Lichtkegel und vertiefte sich in ihre Lieblingsbücher. Nur den Hund als Kameraden neben sich.

Eigentlich war heute wieder ein Kurierflugzeug fällig gewesen, aber vergeblich hatte sie auf den Boten gewartet. Und hatte den letzten Vorlesungen kaum folgen können. Früher als gewöhnlich fuhr sie nach Flottbek hinaus und suchte in ihrem Zimmer.

Nichts.

Also mußte man warten.

Sie erschrak, als plötzlich die Tür aufging und der Geheimrat in die Bibliothek trat. Er zog seinen Sessel dicht neben sie, seine Augen forschten.

»Enttäuscht?«

Sie mühte sich, ihm ihre Erregung nicht zu zeigen. Gordon griff in die Tasche. »Der Brief ist gekommen, aber ich habe ihn unterschlagen, weil ich ihn selber in Ihre Hände legen wollte, Gisela.«

Deren Hände zitterten. Was kam da – was wollte er eigentlich?

»Sie sollen nachher lesen, wenn Sie mir nicht noch ein Stündchen Gesellschaft leisten wollen heute abend. Es ist viel Post angekommen, besonders eine wichtige Nachricht. Wegen starken Nebels auf der sibirischen Strecke hat Truckbrott die Versuchsflüge früher, als geplant war, abgebrochen, die beiden Maschinen folgen dem Kurierflugzeug unmittelbar.«

»Und sind schon in Berlin?«

»Nein, aber sie sind heute in Moskau gestartet und werden morgen nachmittag eintreffen. Ich denke, Rainer schreibt Ihnen das.«

»Ja, und warum sagen Sie mir es selbst, Herr Geheimrat?« fragte sie tonlos.

»Weil wir uns heute besprechen müssen, über Dinge, die ich auch sonst mit Ihnen besprochen hätte, aber weniger unvermittelt.«

»Tun Sie das, Herr Geheimrat.«

»Rainer wird den Winter über in Deutschland bleiben, in Hamburg, in Berlin und in den Sturmvogelwerken. Sie werden also oft mit ihm zusammenkommen. Ich habe Ihnen, als wir uns im Herbst in Berlin trafen, nicht verhehlt, daß ich gewisse Bedenken nur schwer in mir beschwichtigen konnte.«

Gisela wäre am liebsten aufgesprungen, und doch saß sie willenlos, ohne sich zu rühren, im Sessel.

»Diese Bedenken sind heute verschwunden. Weil ich Sie nun wirklich kennengelernt habe, Gisela.« Er machte eine Handbewegung, daß sie ihn nicht unterbreche. »Geschwunden. Ich habe Ihren festen, klaren Charakter erkannt, und ich habe auch aus Rainers Briefen gelesen, daß die praktische Arbeit im Osten seinen weichen Charakter gefestigt hat. Sie und Rainer sind aber noch jung, und seine Lehrgänge sind noch nicht beendet. Im Frühjahr will ich ihn nach Südamerika schicken, auf ein Jahr. Wenn er dann zurückkommt, soll er einen festen Posten in meinem Hause übernehmen, einen Posten, der ihn auf eigene Füße stellt.«

»Sie wollen, daß ich vorläufig gehe, Herr Geheimrat?«

»Nein, ihr habt euch beide als gebunden betrachtet, Gisela, voreinander, ohne daß ihr es euch gesagt habt. Laßt es so.« Er war aufgestanden und hatte den Arm um ihre Schulter gelegt. »Bleib als mein Töchterchen bei mir und als seine Freundin und Kameradin. Du hast einen guten Verbündeten gewonnen – mich.«

Sie zog seine Hand an die Lippen. »Herr Geheimrat.«

»Töchter sollten ihren Vater nicht Geheimrat nennen«, lächelte er. Und dann lustig: »Und morgen fahren wir nach Berlin, um unsere Weltreisenden abzuholen.«

Der Schnee hatte das grüne Feld von Tempelhof unter seinem dicken Teppich verdeckt. Glitzernd lag das Flugfeld im Sonnenschein, als die beiden Riesenvögel sich herabsenkten. Und mitten auf dem Feld standen Gordon und seine beiden Töchter.

Kaum waren die Maschinen herangerollt, als schon ein dick vermummter Mensch im Freisprung den Führersitz verließ und auf die drei zulief.

»Rainer!«

Der sah verdutzt von einem zum andern. »Was ist das?«

Der Geheimrat zog Barbara zur Seite. »Wir kommen später an die Reihe, laß ihn nur.« Dann trat er auf Truckbrott zu. »Wir können mit dem Ergebnis der Expedition zufrieden sein.«

Der hatte sich über Barbaras Hand gebeugt. »Wir können den Streckenflug im Frühjahr aufnehmen.«

Und Barbara empfand es dieses Mal gar nicht ärgerlich, daß er zuerst von den Ideen sprach, die ihn erfüllten.

Schon am andern Tage fuhr er in die Sturmvogelwerke und begutachtete den Bau. »Wir haben noch harte Monate vor uns, Vater.«

Und als habe er draußen seine wahren Kräfte erst erkannt, so setzte er sich nun ein. Und Rainer mit ihm. Sie wohnten in der Stadt. Aber schon am frühen Morgen wartete das Auto vor der Tür, um sie in die Halle zu bringen, in der die Riesenmaschine stand.

Überall wurde gearbeitet. Monteure glitten in den Flügeln entlang und prüften die Verstrebungen, im Maschinenraum arbeitete ein Ingenieurtrupp, Architekten und Zimmerleute vollendeten die Einrichtung, optische Instrumente wurden eingebaut und wieder herausgerissen.

Als eines Abends die Arbeiter die Halle bereits verlassen hatten, saßen Rainer und Truckbrott einander im Kommandostand gegenüber.

»Jetzt ist es nun Wirklichkeit geworden«, nahm Truckbrott das Wort. »Wir haben uns nicht beirren lassen, haben ruhig weitergebaut, Bausteine zusammengetragen und aneinandergefügt. Mit der Vollendung eines größeren Typs haben wir uns immer die Unterlagen für den nächstgrößeren geschaffen. Und doch will mir die ›T 1000‹ immer noch wie ein Sprung erscheinen.«

»Macht Sie das unsicher, Herr Truckbrott?«

»Nein. Sie werden mich nicht ganz verstehen können. Sie haben die Entwicklung ja nicht von Anfang an mitgemacht. Wir Alten haben unsere leichten Vögel noch aus Draht, Leinwand und Sperrholz zusammengebastelt, wir haben noch den Wind in den Spanndrahten singen hören und haben es erlebt, daß das dünne Zeug riß, daß uns Böen in der Luft das Leben sauer machten, uns heruntertrieben, daß wir mit gebrochenen Decken und zerknicktem Fahrgestell irgendwo im Acker lagen. Und daß andere uns für Phantasten hielten.«

Rainer mochte ihn nicht unterbrechen.

»Aber, wenn wir damals aufgestiegen sind, haben wir stets unsere große Zukunft vor uns gesehen. Phantastisch manchmal, und in technischen Einzelheiten nicht immer so, wie sie geworden ist. Aber wir haben klar erkannt, daß wir den Menschen ein neues Verkehrsmittel schaffen müssen, furchtbar in seinen Kriegswirkungen, unübersehbar verbindend in ruhiger Zeit. Jeder von uns, der zum ersten Male etwas Neues versucht hat, mußte sein Leben einsetzen. Sturzflüge, Überschläge, die Masse hat's wohl für Akrobatik gehalten und ist zu uns gekommen, wie sie in den Zirkus geht. Wir haben nicht vergessen, worauf es ankam. Wir mußten den Luftozean ja erst einmal erforschen, wir mußten unsere Kräfte prüfen – und das haben wir getan. Als der erste Metallvogel gebaut wurde, ist wieder von Phantasterei geredet worden. Das Metallflugzeug hat die Zukunft. Und wenn ich nun jetzt in dieser Maschine sitze, die in wenigen Wochen zum erstenmal in die Luft steigen wird, dann weiß ich, was Hunderte vor mir gedacht, gehofft und gewünscht haben, die heute nicht mehr leben, das habe ich vollenden dürfen. Und manchmal ist es mir, als stünden wir vor einem Ziel.«

»Gibt es das?« fragte Rainer.

»Für unsern Gedankenkreis muß es ein Ziel geben, für andere kann es ein Anfang sein. Der Erfinder muß sich beschränken können, wenn er nicht ein haltloser Phantast werden will, der der Welt nichts Ganzes gibt. Wir werden die Ausmaße der ›T 1000‹ erweitern, die Motorkraft verstärken, die Stabilität und Tragfähigkeit weiter erhöhen. Das ist Verbreiterung der Basis, kein Hochbau mehr. Die Maschine, die ohne Zwischenlandung in der Luft bleiben kann, solange ihr Führer es will, die ist eine Vollendung. Wir sollen alles Gute nicht immer nur im Gestern wissen und im Morgen erhoffen, wir wollen es im Heute erkennen. Und andere sollen auf unsern Erfahrungen aufbauen. Rainer, deshalb spreche ich heute mit Ihnen. Sie sollen eines Tages ein Führer der Luftunion werden, denken Sie daran, wie Ihr Vater kühne Ideen ausgenommen hat, und vergessen Sie nicht, daß es Ihre Aufgabe sein wird, Neues, das noch nicht ist, zu fördern. Schärfen Sie Ihren Blick, lehnen Sie haltlose Utopien ab, aber stützen Sie den Erfinder. Und vergessen Sie nicht, daß ein Neues nicht nur aus kühnen Ideen wächst, daß ein zäher Wille dazu gehört, es in fleißiger, zielbewußter Arbeit aufzubauen.«

Als Rainer am nächsten Sonntag Barbara in Berlin von diesem Abend sprach, senkte sie den Kopf. Und dann zu Truckbrott, der ihr am Abend auf Stunden gegenübersaß:

»Sie haben Rainer ein Privatissimum gehalten, das wohl auch für mich mit bestimmt war?«

Erst nach langer Zeit antwortete er. »Es ist mir einmal nicht leicht geworden, zu verstehen, daß mein Flugkamerad mich verkannt hat.«

»Truckbrott, wir Frauen sehen immer zuerst den Erfolg.«

»Und wir den Weg.«

»Wenn das Leben uns in seine Schule genommen hat, können wir den auch erkennen.«

Seine Augen leuchteten. »Heute glauben Sie?«

»Soll ich Ihnen nun sagen, daß es mir immer noch nicht leicht wird? Ich lese alle englischen Zeitschriften, und dann zittere ich für Ihre Idee. MacKenney ist nach London zurückgekehrt, die Blätter berichten von praktischen Versuchen. Es ist keine Frage, im Frühjahr wird der ›Leviathan‹ starten.«

»Das denke ich auch.«

»Wieder zum Amerikaflug – und dieses Mal wird er ihn vollenden. MacKenney hat in den zwei Jahren, die dann verflossen sind, auch gelernt.«

»Wir werden auch über den Ozean fliegen, und wenn der ›Leviathan‹ es vor uns tut, werde ich MacKenney seinen Erfolg nicht neiden.«

»Ich mühe mich, Sie zu verstehen, Truckbrott.«

»Ich will Menschen und Material nicht in Gefahr bringen. Ostasien soll für die ›T 1000‹ die Probestrecke werden.«

Sie senkte den Kopf. »Um Ihretwillen wünschte ich, MacKenney möchte ebenso denken.«

In den nächsten Wochen kam er selten nach Berlin, die Motoren waren eingebaut worden und liefen nun in den Maschinenräumen Probe. Alle Zuleitungen wurden noch einmal geprüft. Draußen rasten die Stürme des Vorfrühlings, warmer Südwind verwandelte den Flugplatz in einen Sumpf, aber bald gewann die Sonne an Macht, die Wasserlachen verschwanden, die Rasendecke wurde dichter und widerstandsfähiger.

Und eines Tages standen die Tore der Halle, die seit einem Jahr fest verschlossen gewesen waren, weit offen, langsam, von Motortreckern gezogen, rollte die ›T 1000‹ auf das Feld. Und zum ersten Male glitzerte die Sonne auf ihren silbergrauen Flügeln.

Der Bau war fertig.

Um ein weniges später wachten die Bewohner der kleinen Stadt von einem neuen Geräusch, das über ihren Köpfen tobte, erschrocken auf und sprangen aus den Betten. Aber sie sahen nicht viel. Nur im Morgennebel einen silbergrauen, riesigen Schatten, der rasch in dem Dunst verschwand.

Sie steckten die Köpfe zusammen. »Nun haben sie drüben beim Sturmvogel wieder so ein neues Ding fertiggebaut. Die werden immer größer.«

Eine Arbeiterfrau machte sich wichtig: »Dieses Mal soll es ein ganz großer sein.«

»Ja, ja, Frau Nachbarin.«

»Eins, das um die ganze Erde fliegen kann.«

»Ja, das schöne Geld, das es gekostet hat, unsereins sollte es haben.«

»So ist's, Frau Nachbarin.«

Die Probeflüge der ›T 1000‹ hatten begonnen.


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