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XIII.

Gisela schlug den Kragen ihres dicken Flauschmantels hoch, klemmte die Büchermappe unter den Arm und versenkte beide Hände tief in die Taschen. So, nun konnte sie den Kampf mit dem Nebel aufnehmen, der wattedick über Königsberg lag und die Straßenlaternen zu gelben Klexen mit weitausfließenden Höfen machte. Rechts und links drängten sich Studenten und Studentinnen an ihr vorbei, trabten über den Paradeplatz, um sich in den engen Straßen zu verlieren.

Gisela zögerte. Sollte sie zuerst noch auf einen Sprung zu Tante Ina heraufsetzen? Es war so gemütlich bei ihr in der Dämmerstunde, immer glühten die Holzkohlen im Samowar, es roch nach Tee und nach Onkel Gerds Zigarren.

Aber nein. Der Vater war heute morgen so griesgrämig gewesen, so eigentümlich. Natürlich legte sich die feuchte Vorfrühlingsluft ihm auf die Lungen. Wenn es nur erst wärmer werden wollte – aber darauf mußte man in Ostpreußen lange warten. Mit dem Frühjahr würde sich sein Zustand ganz sicher bessern.

Mit dem Frühjahr – Giselas Gedanken gingen auf Reisen. Übersprangen die kurzen ostpreußischen Übergangsmonate, glitten in den Sommer hinein, zogen Vergleiche aus dem vergangenen Jahr und malten für das neue.

Gelber, endloser Sandstrand, flimmernde Hitze. Aber nur ein paar Schritte lief man auf bloßen Füßen, dann wartete die kühle See, schlug über dem Körper zusammen – trug ihn.

Am Schloß blieb sie einen Augenblick stehen. Das war noch nicht geschlossen. Man konnte noch hineinwischen, zwei Minuten träumen. Die im Nebel verschwimmenden Giebel und Türme der alten Ordensburg nahmen die Gedanken mit, soweit man immer wollte.

Rainer hatte ihr erzählt, wie er im Spätsommer da zum ersten Male gestanden hatte. Und wie es ihm gewesen sei, als schaue er in eine andere Welt. Für den Kaufmannssohn war der Osten Handelsland der Hansa gewesen. Markt, auf dem man kaufte, um an andern Orten mit Profit weiterzuverkaufen. Die Mauern hier träumten eine andere Zeit. Von weißen Mänteln und Männern in Ringhemd und Sturmkappe, von Ritten in feindliches Land, von blutigem Sterben da unten, wo die Wälder sich in dem leuchtenden Blau der Seen spiegelten.

An der Hauptwache zog ein junger Mensch den Hut und kam auf sie zu. »Gisela.«

Die erkannte ihn sofort. »Guten Abend, Alwin.«

Der Königsberger Betonarbeiter lachte. »Ich habe immer gedacht, man müßte Ihnen einmal begegnen, weil Sie gar nicht mehr zu uns in die Arbeitsgemeinschaft kommen.«

»An den Abenden liegt immer das Seminar.«

»Ach, so. Ja, Sie sind eben Studentin. Tagsüber habe ich auch Arbeit. Hinten, nach dem Cranzer Bahnhof zu bauen sie ein Betonhaus. Für drei Monate reicht's noch. Zuerst kann ich nun mit dem Hauptmann nicht hinaus auf die Nehrung, aber ich komme nach, und –« er lachte pfiffig, »um Ostern habe ich auch einen Kollegen gefunden, der mich eine Woche vertritt. Wir müssen doch die ›Ostpreußen‹, die wir im Winter gebaut haben, selbst aufmontieren. Eine feine Kiste, Gisela.«

»Besser als die ›Hannover‹?«

Der zuckte geringschätzig die Achseln. »Besser? Wissen Sie, Gisela, die ›Hannover‹ haben Studenten gebaut. Mit dem Formelkram mögen die ja Bescheid wissen, aber nicht mit dem, was man in der Praxis braucht. Ich sage Ihnen, im großen Weltrekord diesen Sommer schießt die ›Ostpreußen‹ den Vogel ab. In allen Konkurrenzen. Der Hauptmann sagt, wenn ich lange genug für das Training Zeit habe, darf ich sie fliegen.«

Ihre Gedanken glitten in die Erinnerung. »Kommen denn viele von den Alten wieder?«

Der Königsberger machte die Gebärde des Geldzählens. »Da fehlt's. Bei mir, wir haben ja unsere Sportgemeinschaft, die gibt etwas dazu – und selber habe ich auch ein bißchen gespart. Wenn nur die Zeitschriften nicht so teuer wären. Man muß doch auf dem laufenden bleiben. Viele werden wohl nicht kommen. Für andre ist's zu weit bis nach Ostpreußen, mancher hat nun auch seinen festen Beruf.«

»Ja, mancher hat seinen Beruf –«

»Gisela, ich habe immer gedacht, der Rainer würde Flieger bleiben. Weil er doch die ›Hannover‹ so gut geflogen hat. Für einen Studenten wirklich sehr gut.« Er sah sie forschend an. »Und ich habe immer gedacht, der Rainer würde einmal wiederkommen nach Ostpreußen.«

»Der ist weit fort.«

»Hauptmann Wilhelmy hat's gesagt, in Ostasien soll er sein. Für die Firma. Wenn einer Chef von einem großen Hause werden soll, ist das wohl anders als bei unsereinem.«

»Ja, das ist wohl anders.«

»Und Ihnen hat er auch nicht geschrieben, Gisela?«

Sie mußte Rainer verteidigen. »Doch, zweimal oder dreimal. Wie er nach Ostasien mit dem Dampfer gefahren ist aus Suez, und dann von Indien auch. Er weiß ja, daß ich mich über die fremdländischen Marken freue. In die Länder selbst komme ich ja doch nie.«

»Dreimal ist nicht viel, Gisela.«

»So ein Brief reist einen langen Weg, Alwin – und er muß nun auch in Gegenden wohnen, wo es vielleicht keine Post gibt. Mit Karawanen reist man da. In der Universitätsbibliothek habe ich mir die Bücher über Ostasien ausgeliehen, die studiere ich nun.«

»Das möchte ich wohl auch, aber ich habe keine Zeit. Gisela, zu Ostern packen wir alles auf einen großen Wagen, die ganze ›Ostpreußen‹, und dann marschieren wir über Land, die ganze Nehrung entlang, weil der Dampfer so früh noch nicht fährt. Der Hauptmann auch. Dann gibt's eine lustige Woche auf der Vogelwiese und am Predien.«

Unwirklich schlug eine Uhr durch den Nebel. Gisela schrak zusammen. »Mein Gott, schon sechs, der Vater wird schelten. Auf Wiedersehen, Alwin, grüßen Sie die andern. Zu Ostern komme ich nicht, aber im Sommer – im Sommer.«

Sie hatte nicht gern von Rainer gesprochen. Sonst hätte sie sagen müssen, daß sie wohl einen Brief von ihm bekommen hatte, aus Mukden. Den ersten nach den beiden kurzen Karten von unterwegs. Und daß sie in dem Brief den alten Rainer, wie er in ihrer Erinnerung lebte, nicht wiedergefunden hatte.

Und daß ihr das weh tat.

Da schrieb ein korrekter junger Kaufmann, der all die Buntheit vom Promenadendeck erster Klasse des großen Ozeandampfers aus ansah. Der mit Weltbummlern und Überseekaufleuten in den Salons zusammensaß und in eleganter Gesellschaft im Auto all die Schönheit durchraste – wohl kaum beachtete, von der sie als von etwas Unerreichbarem träumte.

Als er ihr sein Reiseziel mitteilte, hatte sie es auf dem Atlas verfolgt, hatte die Route aufgesucht, die der Dampfer nehmen mußte, und sie hatte sich ausgedacht, was sie ihm alles Liebes schreiben wollte auf seine ausführlichen Briefe. Wie sie teilnehmen wollte an seinem Erleben. Und der Vater hatte den Kopf geschüttelt, weil sein Mädel plötzlich soviel von Ägypten, vom Persischen Golf und von Indien sprach.

»Bleibe im Lande und nähre dich redlich.«

Dagegen hatte sie sich gewehrt. »Bist du denn nie gereist, Vater?«

»Doch, Gisela, ich bin mit deiner guten Mutter an den Rhein gefahren und an die Mosel, den Schwarzwald haben wir auch gesehen und München und Salzburg.«

»Aber im Ausland bist du nie gewesen?«

»Kind, Salzburg liegt doch schon in Österreich. Reisen ist sehr schön, Reisen bildet.«

Was war das gegen die Wochen, die Rainer auf dem Schiff zurücklegte, gegen die ungeheuren Entfernungen. Und gegen die andere Welt, die er sah und die ihn umformte.

Schon von der Straße aus vermißte Gisela das Licht im Wohnzimmer. Da saß der Vater doch immer. Er würde bei dem Nebel doch nicht etwa fortgegangen sein – man hatte schon Sorgen als einzige Tochter.

Hastig lief sie die Treppe herauf, schloß die Tür. Nein, der Hut hing am gewohnten Platz.

»Vater!«

Eine leise Antwort hinter der Schlafzimmertür.

»Was ist dir, Vater?«

Der alte Professor Northmann lag fest zugedeckt im Bett. Jetzt hörte sie es, der Atem ging pfeifend. »Der Nebel legt sich auf den Hals, es ist kalt im Zimmer.«

»Hat die Marjell denn nicht angelegt?«

»Doch, aber es friert mich. Ich meine, du solltest mir einen Tee kochen.«

Während das Wasser in der Küche brodelte, lief sie wieder ins Schlafzimmer. »Aber Schmerzen hast du nicht, Vater?«

Der lächelte müde. »Ein wenig schon, es sticht in der Brust. Aber wenn es erst warm wird, dann gibt sich das auch. Wenn ich erst wieder mit meinen alten Herren im Königsgarten sitzen kann.«

Gisela erhob sich energisch. »Ich werde den Arzt holen.«

Der machte ein besorgtes Gesicht, verschrieb teure Medikamente, befühlte und horchte. »Ihr Vater ist nicht sehr kräftig, Fräulein Gisela. Wenn Sie in den nächsten Tagen im Hause bleiben könnten?«

Der Vater wollte es nicht leiden, aber sie tat es doch. Wurde Krankenpflegerin, saß am Tage bei ihm und schlief nachts bei offener Tür im Nebenzimmer.

Um auch den leisesten Ruf zu hören.

Immer tiefer grub sich eine Sorgenfalte im Gesicht des Vaters ein, die nicht weichen wollte. Gisela merkte, daß ihn etwas bedrückte.

Eines Abends sprach er. »Wenn ich einmal tot bin, wird meine Pension nicht weitergezahlt, Gisela. Ich und deine Mutter, wir haben lange auf die Hochzeit warten müssen. Damals waren alle Lehrerstellen an den Gymnasien sehr besetzt, und wir hatten beide kein Geld. Deshalb bist du so spät geboren worden und hast alte Eltern gehabt.«

»Der Arzt will nicht, daß du viel redest«, mahnte sie. »Es ist dir nicht gesund.«

»Laß nur, es ist besser, es kommt einmal heraus. Viel sparen haben wir nicht können, Kind, das Leben hat immer viel Geld gekostet, und wenn wir gereist sind, sind wir immer dritter Klasse gefahren und haben in einfachen Gasthöfen gewohnt.«

»Warum sagst du mir das, Vater?«

»Du sollst nicht denken, wir hätten etwas versäumt an dir.«

Sie küßte ihn auf die heiße Stirn. »Aber das weiß ich doch, Vater. Schlaf jetzt lieber, in vier Wochen ist Frühling.«

Der Professor blieb hartnäckig. »Dann kam die Krankheit, an der deine liebe Mutter gestorben ist, die hat viel Geld gekostet. Und schließlich das Unglück mit der Inflation – du bist arm, Kind.«

Als der Arzt am nächsten Tag kam, fand er seinen Patienten in schwerem Fieber, und am übernächsten Tage brauchte er nur noch einen Schein auszufüllen. –

Professor Northmann hatte seine weite, große Reise angetreten, in der es keine Klassen gibt und keine billigen Gasthöfe. –

Und Gisela stand vor dem Nichts.

Wieder einmal sprach Frau Ina mit ihrem Mann. »Könnten wir nicht helfen?«

Der sah vor sich hin. »Wir könnten sie jetzt zu uns nehmen und im Sommer nach Rossitten. Aber damit ist Gisela nicht geholfen.«

»Und ein Stipendium?«

»Ich habe alles versucht.«

»Gerd, was soll nun werden?«

Der zeigte auf ein Aktenstück der Luftunion. »In Berlin soll eine neue Bücherei eingerichtet werden. Alles, was der Flieger braucht, ein Zeitschriftensaal und ein Bildarchiv werden angegliedert, Technik, Meteorologie, Landkarten und Erdbeschreibungen. Die Union baut nicht nur ihr Streckennetz aus, sie geht auch daran, den Weltverkehr zu organisieren. Ich habe von großen Plänen für die Zukunft gelesen. Geheimrat von Gordon hat mir im vergangenen Herbst einen sehr freundlichen Brief geschrieben. Wenn ich mich direkt an ihn wenden würde?«

Ina dachte nach. »Gordon?«

»Wegen Rainer, meinst du? Ist noch etwas zwischen ihm und Gisela?«

»Ich glaube nicht.«

Wilhelmy nickte. »Sag' ihr nicht, an wen ich schreibe. Sie weiß ja, ich habe genug Freunde bei der Union. Wenn es ohne das ginge, mir wäre es wirklich lieber. Aber wie die Verhältnisse heute liegen, ist ein Gesuch ohne Protektion aussichtslos. Hunderte warten. Vielleicht braucht sie ihr Studium nicht einmal ganz aufzugeben, kann wenigstens einige Fächer belegen.«

Gisela war mit allem einverstanden. Im einfachen, schwarzen Kleidchen saß sie Ina gegenüber und hörte zu, was die ihr zu sagen hatte. Der Abschied würde ihr nicht leicht werden, hier war sie geboren, groß geworden, mit allem wurzelte sie im Osten, und was jenseits des Korridors lag, schien ihr wie ein fremdes Land.

Sie schalt sich. Hatte sie nicht immer mit sehnsüchtigen Augen in unbekannte Fernen geschaut? Und jetzt, wo das Schicksal sie an der Hand nahm, damit sie die allerersten kleinen Schritte machen sollte, jetzt verzagte sie schon. Sie streichelte das glatte, kluge Köpfchen des Dachshundes.

»Zuerst ist es immer nicht leicht«, sagte sie. –

Mit einem Brief Rainers zusammen brachte der Geheimrat das Gesuch mit in die Villa an der Elbchaussee.

»Dein Bruder schreibt, Barbara.«

Die war mitten in Hochzeitsvorbereitungen. Da gab es viel zu bedenken, denn zwischen dem Vater und Lettau war besprochen worden, daß das Paar sofort nach China zurückkehren sollte. Dem Generalkonsul stand ein geräumiges Haus zur Verfügung, die Verhältnisse im Süden des Landes hatten sich konsolidiert, eine längere Abwesenheit des diplomatischen Vertreters wäre jedoch unerwünscht gewesen.

Und Barbara war viel zu sehr Kaufmannstochter, um solche Gründe nicht gelten zu lassen.

»Rainer hat in Mukden die besten Einführungen gefunden. Durch Lettau stand ihm das diplomatische Corps, auch das des Auslandes, offen, den Handelskreisen genügte sein Name. Das Weiche, Jungenhafte, das ihm zuletzt noch anhaftete, scheint sich zu verlieren.«

»Das liegt im Blut, Papa, Rainer ist Hamburger.«

Trotzdem sie gleichmütig gesprochen hatte, glaubte der Geheimrat einen Unterton herauszuhören. »Du scheinst von der Charakterfestigung deines Bruders nicht entzückt zu sein.«

»Rainer geht den Weg wie alle andern. Er wird als vollendeter internationaler Gentleman mit Lettau zu meiner Hochzeit erscheinen. Gerade im Ausland schließt sich das Europäertum mehr zusammen und schablonisiert.«

»Das muß sein.«

»Rainer ist noch sehr jung, Papa.«

»Seine kaufmännischen Berichte gefallen mir. Ich wünsche, daß er die Umstellung des Welthandels, der wir entgegengehen, mitmacht. Mehr und mehr werden sich im Inland Handelszentren bilden, besonders für wertvolle Waren, die man auf dem Luftweg besser befördern kann als zur See. Das wird die Vorherrschaft mancher Küstenstadt beheben. Wer das Moment richtig erkennt und handelt, wer der erste ist, wird den besten Platz einnehmen können. Rainer hat mich verstanden. Er wird sein Arbeitsgebiet immer mehr ins Innere vorschieben. Gerade die Verbindung mit Lettau ist mir deshalb besonders wichtig.«

»Hast du in deinen Plänen für mich auch Ausgaben vorgesehen, Papa?« fragte Barbara.

»Ich habe Lettaus Werbung nicht bewerkstelligt, habe dir mehr freie Hand gelassen, als es sonst in hanseatischen Kreisen üblich ist. Man kann hier von einer Liebesheirat sprechen, denke ich.«

Keine Miene in ihrem Gesicht zuckte. »Das kann man.«

»Barbara, den Eindruck einer strahlenden Braut machst du nicht.«

Sie schwieg.

»Ich will nicht hoffen, daß du dich von den Verhältnissen hast überrumpeln lassen.«

»Ich bin deine Tochter, Papa. In uns Gordons liegt genug Stärke, um dem Schicksal entgegenzutreten. Und genug Ehrgefühl, um bei der Stange zu bleiben. Wenn du Pläne hast, die ich stützen kann, sollst du auf mich rechnen.«

»Du warst schon als Kind eigenwilliger und stärker als Rainer. Um so mehr freue ich mich, daß er der Weichheit Herr geworden ist, die ihn im vergangenen Jahr fast übermannt hatte. Dieser Kursus in Ostpreußen stellte sich leider als eine recht überflüssige Episode für ihn heraus. Ich mußte heute daran denken, weil ein Brief mich erinnerte.«

»Aus Ostpreußen?«

»Rainers Lehrer bittet mich, eine junge Verwandte, die unverschuldet in Schwierigkeiten geraten ist und ihr Studium deshalb abbrechen muß, bei der Union unterzubringen.«

»Wer ist das?«

Der Geheimrat suchte in dem Brief. »Ein Fräulein Northmann, hier steht's, Gisela Northmann. Studentin der Bibliothekswissenschaften im dritten Semester. Eine alltägliche Geschichte. Der Vater hat von der Pension gelebt, das kleine Vermögen ist verflogen, und durch den unerwartet frühen Tod steht das Mädel plötzlich vor dem Nichts.«

»Wirst du helfen, Papa?«

»Ich bin Wilhelmy verpflichtet, und weil das junge Mädchen seine Nichte ist, will ich es tun. Der Etat ist zwar voll besetzt …«

»Um so leichter wird es dir fallen, hier etwas Ganzes zu geben. Ich denke, die junge Dame wird ihre Studien gern in Berlin fortsetzen wollen, so besteht die Möglichkeit, sie anzustellen, und sie doch nur halb zu beschäftigen. Natürlich mit einer Verpflichtung, nach ihrem Examen im Dienste des neuen Instituts zu bleiben.«

»Du interessierst dich für den Fall?«

»Es kommt nicht oft vor, daß du von Geschäften mit mir sprichst, Papa. Und weil es nicht nur Rainer betrifft, der sich in Ostpreußen sehr wohl gefühlt hat, sondern weil du es auch zu einer Zeit bringst, die mich vor eine Wende stellt, so laß es mich wie eine Art Opfer an die Götter ansehen – wenn der Vergleich nicht zu lächerlich klingt.«

Und drei Tage später konnte Hauptmann Wilhelmy Gisela ihre Anstellung berichten. Die las und schüttelte den Kopf. »Geheimrat von Gordon hat persönlich geantwortet –« sie wurde rot. »Das hättest du nicht tun sollen, Onkel Gerd.«

Ina beruhigte. »Er weiß nicht, daß du Rainer kennst.«

»Aber es kommt doch von Rainer, ohne ihn hätte sich Onkel Gerd nicht an den Geheimrat wenden können.«

»Oho, ich habe genug Freunde bei der Union.«

»Und ich kann's auch gar nicht zurückweisen. Daß es kein Geschenk werden soll, dafür werde ich schon sorgen.«

Der kleine Haushalt war bald aufgelöst, die wenigen Dinge, an denen Giselas Herz hing, pfropften ein Hinterzimmerchen, das bei Ina Wilhelmy leer gestanden hatte, voll bis an die Decke. Und eines Abends stand Gisela auf dem nüchternen Bahnhof von Königsberg und fiel Ina zum letzten Male um den Hals.

»Durchbeißen, Kleines.«

Das sagte sie sich immer wieder, während der Zug durch die Nacht fuhr, und während sie eingeengt zwischen den Menschen in dem vollen Abteil aufrecht in der Ecke saß.

»Durchbeißen.«

Fliegen würde sie ja nicht, aber ein winziges Rädchen sollte sie sein in der großen Maschine, die den zukünftigen Weltverkehr trieb. An einem Werk arbeiten mit Rainer Gordon.

Aber der durfte nichts davon wissen.

So saß Gisela zwei Tage später über Kataloge gebeugt in einem großen Saal. Einen riesigen Bücherberg vor sich, den sie einordnen sollte. Der Bibliothekar blieb hinter ihr stehen.

»Es ist ein Chaos, Fräulein Northmann, man kann nicht gerade sagen, daß wir aus dem Nichts schaffen, eher geht es aus dem Vollen. Dazu die täglichen Materialanforderungen, obgleich nichts bisher katalogisiert ist.«

»Die Leute sind hier ein anderes Tempo gewöhnt«, tröstete ihn Gisela.

»Wissen Sie, eigentlich ist mir eine ruhige Bibliothek lieber, Fräulein Northmann«, vertraute er ihr an. »Ich bin Gelehrter, schließlich ist man doch keine Maschine.«

»Aber man wird schon manches von der Maschine annehmen müssen.«

Der Bibliothekar ging weiter. »Das weiß Gott.«

Für dieses Semester hatte Gisela nicht mehr belegen können, aber sie erkundigte sich eifrig nach den Möglichkeiten, die ihr der Sommer bieten würde, denn gerade in der praktischen Arbeit erkannte sie deutlich, daß ihr noch viel fehlte. Sie wollte kein Protektionskind sein.

Eines Tages sah sie auch Theodor von Gordon. Auf den ersten Blick erkannte sie ihn, als er in den Zeitschriftensaal trat. Er erinnerte sie an Rainer, nur war alles an dem Vater schärfer, selbstsicherer, ausgeglichener. Sie fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem er sie anreden würde. Vielleicht fiel dann Rainers Name – oder er würde sie ansehen, so, als müsse er etwas ergründen.

Aber nichts geschah. Gordon beachtete sie nicht einmal, während er sich von dem Gelehrten herumführen ließ.

Und das befriedigte Gisela.


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