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XII.

Durch verschneiten Wald waren sie im Schnellzug nach Norden gefahren, der finnischen Grenze zu. Und je näher Frau Pia ihrer Heimat kam, desto mehr wuchs sie. Als trüge sie dieses Land. Truckbrott starrte auf die vorbeifliegende Gegend, deren Konturen im Dämmerlicht verschwammen.

Frau Pia beugte sich zu ihm. »Es ist schön bei uns.« Und dann nach einer Weile. »So in Gedanken?«

Er zwang sich zur Aufmerksamkeit. »Es ist nicht leicht für einen Mann, alles hinter sich zu werfen.«

»Sollte es nicht leicht sein, sich ganz in eine Idee zu versenken?«

Er faßte ihre Hand. »Ich bin undankbar.«

»Lieber Freund, muß ich Sie wieder an unsere Abmachung von Berlin erinnern? Dankbarkeit ist ein Wort, das zwischen uns nicht fallen sollte. Um Ihre Idee geht's und um unsere Kameradschaft. Sie werden arbeiten, und ich will zusehen. Glauben Sie, daß ich so wenig ehrgeizig bin, daß ich nicht später mein Teil von Ihnen fordern werde – wenn Sie der Mann sind, von dem Europa spricht?«

Der Schaffner klopfte an der Tür, um das Bett zurecht zu machen. Pia Linth hatte zwei nebeneinanderliegende Abteile belegt, um bequemer zu reisen.

»Wenn Ihre Pläne weiter gediehen sind, haben wir das nicht mehr nötig.«

Aber ihm schien es plötzlich, als legten sich die Kilometer, die der Zug zurücklegte, wie ein Wall zwischen ihn und die Welt. Und er zermarterte sein Hirn, ob er recht getan hatte. Viele Stunden waren vergangen, seit der Lapplandexpreß Stockholm verlassen hatte. Eine Ewigkeit würden sie fahren bis ans Ziel.

»Morgen mittag sind wir in Haparanda.«

Lange mochte er das Licht in seinem Abteil nicht löschen. Da drüben hinter der dünnen Wand schlief die Frau, die nun auf Monate seine Kameradin sein wollte – vielleicht für ein Leben. Günter Truckbrott glaubte zu wissen, welche Wege ihre Gedanken einschlugen. In Berlin hatte er offen mit ihr sprechen wollen, aber sie hatte lachend abgelenkt. »Später, lieber Freund, später.«

Er verglich das Verzeichnis der Kisten, in die seine Materialien verpackt waren und die schon vor drei Wochen ein Linthscher Frachtdampfer in Stettin ausgenommen hatte. Modellteile, Aluminiumproben, Verstrebungen. Dort oben sollte entstehen, was in der Hast der Alltäglichkeit nie geworden war, das große, genau ausgerechnete Modell, das in allen, selbst in den kleinsten Teilen ein genaues Ebenbild des zukünftigen Luftriesen sein würde. Zwei Monteure fuhren auf dem Dampfer mit, um alles zusammenzusetzen.

Ein halbes Jahr, ein Winter, angefüllt mit Arbeit – er sah in die Zukunft. Dann hatten die theoretischen Fragen ein Ende, dann kam die Praxis zu ihrem Recht.

Und der Beweis war zu liefern, wie er seine Zeit genützt hatte.

Der Beweis für das, was viele in Berlin einen Irrweg nannten.

Der Zug gewann ein anderes Aussehen, je mehr er sich der Grenze näherte. Zwischen die blonden Hünengestalten der Schweden mischten sich kleine Menschen mit breiten Backenknochen und tiefliegenden, kleinen Augen. Strähniges schwarzes Haar in die Stirn gekämmt. Finnen und Lappen. Die Landschaft glitzerte in der Sonne.

Frau Pia zeigte hinaus. »Wir werden bald kurze Tage haben und lange Abende. Hinter dem Herrenhaus von Linthbakken gibt es einen großen Schuppen, fest und massiv gebaut. Ich habe große Lampen da anbringen lassen, es wird Ihr Versuchsraum sein.«

So sehr er in seine Pläne vertieft war, alles verflog, als sie den Zug verließen und als das Land sie aufnahm. Vorsorgliche Hände halfen ihnen in dicke Pelze, hüllten sie in warme Decken, schoben heiße Steine auf den Boden, und mit Schellengeläut führen sie im Schlitten durch die tiefverschneite Stadt.

Auf einen fremdartigen Ruf standen die Pferde vor dem Portal eines großen Hauses. Ein pelzvermummter Mann trat heraus.

»Sie werden müde sein, Frau Linth.«

»Lassen Sie, wir bleiben sitzen. Lynge, nur ein Wort im Vorbeifahren. Die Kisten aus Deutschland?«

»Die ›Oesel‹ hat alles richtig gebracht, und wir haben es weiterverladen.«

Weil er den Deutschen kaum beachtete, mahnte ihn Pia. »Sie kennen Herrn Truckbrott?«

»Ich erinnere mich.«

Als sie weiterfuhren, lachte Pia. »Der gute Lynge möchte mich am liebsten in ein Nonnenkloster sperren, oder noch lieber in einen orientalischen Harem – zu dem er der Pascha ist. Trotz seiner eigentümlichen Einfälle kann man aber mit ihm auskommen. Wer lange hier oben lebt, wird so, die Einsamkeit ist zu groß.«

»Und Sie nehmen das um meinetwillen auf sich?«

Er konnte die Augen nicht sehen, mit denen sie ihn verstohlen musterte. Nur den leisen Druck ihres Armes fühlte er durch das Pelzwerk. Dann sagte sie. »Seit Wochen stelle ich mir das, was kommen soll, vor. Ich werde mich ganz leise um Ihre Tür herumschleichen, damit nichts Sie stört, wenn Sie arbeiten. Der große Hof verlangt auch bald ganz die Herrin. Und die will ich sein, ganz und gar. Und dann sitzen wir einander am Tisch gegenüber oder am offenen Kaminfeuer und Sie erklären mir. Glauben Sie mir, ich kann auch zuhören. Wenn der eisige Ostwind über die russische Steppe heranfegt, gibt es nichts Schöneres, als selbst warm zu sitzen und seinem Brausen zu lauschen. Wenn aber die Nächte sternklar werden, dann ziehen wir die Pferde aus dem Stall und nehmen den kleinen Schlitten, den, in dem nur für zwei Menschen Platz ist. Dann geht's durchs Tal hinauf, durch den Wald, bis wir an die endlose Hochebene kommen, auf der nichts zu sehen ist, als nur Schnee und Schnee. Darüber jagen wir wie die wilden Trolle, so schnell die Pferde laufen können. Sehen Sie uns, Truckbrott?«

Er nickte. »Ich sehe, Frau Pia.«

»Und dann – eines Tages, wenn alles zu Ende ist, dann treten Sie vor die Welt. Nach Stockholm reisen wir, nach Kopenhagen, nach Deutschland, unser Marchenidyll verfliegt. Ich will Sie nicht in einen Venusberg locken, aus dem es keine Rückkehr gibt. Alle Ihre Gedanken, die in der Stille gewachsen sind, sollen dann lebendige Form annehmen. In mächtiger Halle wird der Bau vollendet. Ich weiß, dann muß ich zurücktreten. Zwischen Hämmern und Maschinen ist kein Platz für die Frau. Sie werden eine neue Zeit schaffen, aber während es immer größer wird um Sie, während aus Zahlen ein Werk wird, sollen Sie an den Winter in Nordland zurückdenken als an die Zeit, die den Plan in Ihnen reifen ließ.«

Die Straße führte mitten durch den niedrigen Wald, die Pferde schnaubten, weißer Schaum flog ihnen um die Mäuler.

»Wir sind bald am Ziel.«

Eine scharfe Wegbiegung, ein Gatter, ein Holztor, von eilfertigen Händen aufgerissen. Der Schlitten schwankte, als die Pferde unvermittelt einbogen, die Kufen schurrten über die Steine der Vorfahrt. Das Gefährt stand. Der Mann, der sie aus den Pelzen gewickelt hatte, belud sich mit den Koffern, drinnen in der Halle knixte ein blondes Mädel.

»Du hast es behaglich gemacht, Christa.«

Das Mädel lachte.

»Und für den Herrn?«

»Es ist alles bereit, Frau Linth.«

Eine Kopfbewegung ließ den Diener und das Mädchen lautlos verschwinden. Pia streckte ihrem Besuch beide Hände hin. »Willkommen auf Linthbakken, Günter Truckbrott.«

Schon am nächsten Tage begann die Arbeit. Die deutschen Monteure hatten alles sorgfältig aufgestellt und an Hand der Verzeichnisse verglichen. Aus dem Schuppen war eine Versuchsanstalt geworden, in der die drei unermüdlich schafften.

Während Truckbrott in dem schweren Herrenzimmer saß und rechnete, bauten die Leute aus Holzstämmen ein festes Untergestell, um das Modell aufzunehmen. Jeden Tag kam ein Reiter aus der Stadt, schwer beladen mit Briefen und Zeitschriften, die der Lapplandexpreß heranbrachte, und die Truckbrott mit der Welt verbanden.

Und aus denen er die Fortschritte der Fliegerei ersehen konnte.

Überall regte es sich. Seit Surewskis verunglücktem Versuch wollte die Idee des Riesenflugzeugs nicht zur Ruhe kommen. Die Zeitschriften brachten lange Artikel, phantastische Bilder, aus denen der Fachmann doch herauslesen konnte, was für ihn wichtig war.

Farman stellte wieder einen neuen Typ ein, wieder hatte er die Spannweite seiner Tragflächen erweitert, die Kabinen vergrößert und ihren Komfort erhöht, unzählige Pferdekräfte angespannt. Die Amerikaner bauten, die Engländer, besonders das Problem Macmorris-Surewski machte viel von sich reden.

Pia Linth saß über all den Blättern und sah sie verständnislos an. »Die Welt scheint von einem neuen Rekordfieber besessen zu sein.«

Truckbrotts Finger fuhr über die Linie. »Einmal werden sie es alle erreichen, große Erfindungen können nicht mehr geheimgehalten werden.«

»Sie haben das Modell ›T 1000‹ ja auch in Deutschland gezeigt.«

»Zwischen dem Modell und dem Bau liegt eine weite Spanne.«

»Und wenn man es Ihnen vorwegnimmt?«

Er beruhigte sie. »Mit ›T 1000‹ wird eine neue Ära des Luftverkehrs beginnen.«

Staunend stand sie dann wieder im Schuppen vor dem wachsenden Modell, in dem Truckbrott herumkroch. Die roten, grünen und gelben Leitungen, die sich zwischen den Spanten dahinschlängelten, gefielen ihr. »Ein lustiges Spielzeug.«

Stundenlang konnte er die Lage eines Benzintanks auskalkulieren, den Blechbehälter immer wieder losschrauben, um ihn an anderer Stelle anzubringen. Mit allerfeinster Wage jeden Ausschlag kontrollieren.

Wenige Tage nach ihrer Ankunft kam Lynge und überschüttete Frau Pia mit geschäftlichen Dingen. Die seufzte. »Sie haben sonst auch allein disponiert.«

»Nie, wenn Sie auf Linthbakken waren.«

Sie wurde zornig. »Sagen Sie es doch offen, daß Sie mich beaufsichtigen wollen!«

Der blonde Schwede saß an dem Schreibtisch des verstorbenen Hausherrn. »Sie können tun und lassen, was Sie wollen, Frau Linth, Sie dürfen es aber Ihrem geschäftlichen Berater nicht verübeln, wenn auch er seine Pflichten ernst nimmt.«

»Und was hat mir mein geschäftlicher Berater zu sagen?«

»Ein Besitz wie der Ihre braucht eine starke Hand, eine Hand, die nur der Herr haben kann.«

»Sie unterschätzen sich.«

Der biß sich auf die Lippen. »Konstrukteure sind Phantasten.«

»Männer, die heute schon klar erkennen können, was morgen ist – und die es mit eisernem Willen schaffen.«

»Seit den Frauen wirkliche Helden fehlen, suchen sie sich Heldenersatz.«

Sie blieb ruhig. »Vielleicht sind Kaufleute für uns wirklich zu nüchterne Menschen.«

»Und was soll letzten Endes daraus werden? Wollen Sie diesen Deutschen etwa heiraten?«

Pia sah der Flamme zu, die am Holz leckte. »Und wenn ich das wollte?«

»Dann verpflichten Sie bitte einen andern als Ihren Güterdirektor«, sagte er brüsk.

»Eifersucht?« sie lächelte. »Sie sind kein Junge mehr, Lynge, warten Sie ab.«

»Also sind Sie mit sich selbst noch nicht im reinen?«

»Sie sprechen immer von mir, Lynge?«

»Um wen kann es sich handeln?«

Sie machte eine Pause. »Um ihn.«

Der Direktor lachte höhnisch auf. »Der wartet ja nur darauf, sich hier als Herr zu gebärden. Für den Grundherrn auf Linthbakken werden die Luftgespinste bald zu Seifenblasen verfliegen. Kein Mann ist so ein Narr, daß er ein sicheres Leben aufgeben sollte um eine Unsicherheit.«

»Sie sollten bei Nietzsche lesen von Menschen, die ohne Gefahr nicht leben können.«

»Bücherweisheiten!«

»Und wenn ich Ihnen sage, daß er mich noch nicht einmal gefragt hat, Lynge?«

Der blieb trotzig. »Der Stolz sollte es der Herrin von Linthbakken verbieten, auf einen Mann zu warten.«

Ihre Augen flimmerten. »Frauen wollen immer genommen sein.«

Am andern Tage kam ein Brief aus Deutschland. Keins von den geschäftlichen Schreiben, wie sie die Sturmvogelwerke beinahe täglich schickten, in denen Vater und Sohn ihre Erfahrungen austauschten. Ein weißer Büttenumschlag war's, die Adresse mit der Hand geschrieben in großen, steilen Schriftzügen.

Sie saßen sich beide am Kamin gegenüber. »Gute Nachrichten?« fragte sie.

»Eine Anzeige.«

»So.«

Und doch las er die wenigen Zeilen immer wieder. Als er dann den Rock wechselte und im weißen Arbeitskittel in den Schuppen ging, schlich sich Pia leise in sein Zimmer. Die Karte steckte noch in der Innentasche.

Sorgfältig lithographiert: »Geheimrat Theodor von Gordon zeigt die Verlobung seiner Tochter Barbara Luise Christine mit Herrn Alfred von Lettau, Deutschen Generalkonsul in Mukden, an.« Auf der andern Seite ein ähnlicher Text mit Lettaus Namen darunter.

Das also hatte ihn so entgeistert.

Rasch steckte sie die Karte wieder zurück und rief nach Christa. »Der Schlitten soll heute abend bereit sein.«

Für das Abendessen machte sie besonders sorgfältige Toilette, aber Truckbrott bemerkte es kaum. Wie abwesend saß er ihr gegenüber.

»Sie sind kein amüsanter Gesellschafter heute, mein Freund«, schmollte sie.

Er raffte sich auf. »Entschuldigen Sie mich.«

»Heute ist Vollmond, klarer Sternhimmel, den wollen wir nutzen.«

»Lassen Sie mich bei meiner Arbeit.«

»Kann eine Frau nicht auch einmal fordern – einmal wenigstens?«

Sie saßen eng nebeneinander, derselbe Pelzsack wärmte ihre Füße, dieselbe Decke breitete sich über ihre Knie. Dem Kutscher hatte Pia ein Zeichen gegeben zurückzubleiben. »Wir fahren allein.«

Und dann, während sie über die Hochfläche dahinjagten. »Das alles ist mein Land.«

Er schwieg.

Pias Hand faßte nach seinem Arm. »Günter Truckbrott, sind Sie noch nicht heimisch geworden hier?«

»Einmal werde ich wieder fortgehen müssen«, sagte er langsam.

»Sie müssen nicht, Sie können bleiben, Sie können immer wieder zurückkehren. Lynge hat mich neulich gemahnt, Linthbakken braucht einen Herrn.«

»Pia, ich bin ein Pflichtenmensch.«

Sie strich leise über seine Stirn, während er die Tiere im Schritt gehen ließ. »Das liebe ich an dir, Günter.«

Er fühlte, daß sie sich an ihn schmiegte, fühlte ihre frauliche Gestalt durch die Hüllen hindurch. Sein Blut jagte.

Wieder ihre leise Stimme. »Habe ich nicht gute Kameradschaft gehalten?«

»Und wenn die Pflicht mich ruft?«

»Dann sollst du gehen.«

»Pia, glaubst du an mich?« fast gegen seinen Willen kamen die Worte von seinen Lippen. Der Gedanke an die andere Frau, die ihn in seinem Handeln nicht hatte verstehen wollen, preßte sie ihm hervor. Der Gedanke an den Tag, an dem er einen Kameraden verloren hatte.

»Ich glaube an dich, Günter Truckbrott«, sagte Pia Linth.


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