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Albine irrte zur selben Zeit noch im Paradeis umher, in stummem Leidenskampf, wie ein todwundes Tier. Sie weinte nicht, ihr Gesicht war weiß, die Stirn durchschnitt eine tiefe Falte. Warum mußte sie so tödlich leiden? Was hatte sie verschuldet, daß der Garten ihr so unvermittelt Versprechungen nicht mehr erfüllen wollte, die er seit Kindertagen ihr zuflüsterte. Sie grübelte vor sich hin, ohne der Alleen zu achten, die Schatten nach und nach durchdrang. Und doch war sie immer folgsam gewesen dem Gebot der Bäume.
Sie konnte sich nicht erinnern, eine Blume geknickt zu haben. Immer war sie die liebende Tochter alles Grünenden verblieben, die in Ergebenheit lauschte und sich gänzlich auslieferte im Glauben an das ihr bestimmte Glück. Als das Paradeis am letzten Tage ihr zugerufen hatte, sich unter dem großen Baum hinzustrecken, hatte sie sich hingestreckt, hatte die Arme gebreitet, eingedenk der ihr zugeflüsterten Lehren. Lag die Schuld also nicht an ihr, so war es der Garten, der sie verriet und quälte, einzig um der Lust willen, ihr Leiden zu schaffen.
Sie blieb stehen und sah um sich. Gesammeltes Schweigen lag auf der massigen Blätterdunkelheit; Wege, die sich schwarz umbauten, wurden zu finsteren Sackgassen; auf den Rasenstreifen in der Ferne entschliefen die schweifenden Winde. Verzweifelt streckte sie die Hände aus und schrie in wilder Abwehr auf. Dies konnte das Ende nicht sein. Aber ihre Stimme verklang im Schweigen der Bäume. Dreimal beschwor sie das Paradeis, ihr Antwort zu geben, ohne daß ihr aus den ragenden Zweigen Klarheit geworden wäre, ohne daß auch nur ein einziges Blatt sich ihrer erbarmt hätte. Als sie dann weiterirrte, fühlte sie sich winterlichem Schicksal preisgegeben. Jetzt, da sie die Erde nicht mehr anklagte als empörtes Geschöpf, vernahm sie leise Stimmen, die über den Boden rannen, das Lebewohl der Pflanzen, die sich einen glücklichen Tod wünschten. Einen ganzen Sommer lang Sonne getrunken, blumenhaft gelebt zu haben, in ständigem Wohlgeruch verströmt zu sein und dann entrückt zu werden beim ersten Leiden, in der Hoffnung, irgendwo wieder aufzuerstehen, war das nicht ein genugsam erfülltes langes Leben, das nur verunglimpft werden konnte durch eigensinniges Sich-überleben-Wollen.
Wohltun mußte der Tod, eine endlose Nacht so vor sich haben, um des kurzverlebten Tages zu gedenken und die flüchtigen Freuden ewig zu bewahren!
Sie blieb stehen, wehrte sich aber nicht mehr inmitten der großen Andacht des Paradeis. In dieser Stunde glaubte sie zu verstehen. Der Garten behielt ihr den Tod vor als höchste Wonne. Zum Sterben hatte er sie mit so viel Zartheit geleitet. Nach der Liebe kam nur noch der Tod. Und noch nie hatte der Garten sie inniger geliebt; undankbar hatte sie sich erzeigt, als sie ihn verklagte; immerdar war sie sein geliebtes Kind. Die Schweigsamkeit der Blätter, die dunkel verstellten Pfade, die Rasen, auf denen die Winde entschlummerten, sie alle schwiegen nur, um ihr die Lust langen Schweigens näher zu bringen. Gemeinsam mit ihr wollten sie in die Ruhekälte eintreten; in trockenem Laub wünschten sie sie zu entführen, vereist wie das Quellengewässer, mit Gliedern, steifgefroren wie die kahlen Äste und mit sanft schlummerndem Blut. Sie würde ihr Leben bis zur Neige miterleben, bis zum Tod. Vielleicht war es schon beschlossen, daß sie in kommenden Frühlingszeiten als Rose erwachte, als blonde Wiesenweide oder junge Waldbirke. Das große Weltgesetz war es: sie mußte sterben.
Da durchwanderte sie zum letztenmal den Garten auf der Suche nach dem Tode. Welchem duftenden Gewächs tat ihr Haar not, um den Duft seiner Blätter zu verstärken? Welche Blume ersehnte als Gabe den Atlas ihrer Haut, die unschuldige Weiße ihrer Arme, die zarte Röte ihrer Brust? Welchem leidenden Strauch sollte sie ihr junges Blut weihen? Den an Alleerändern sprossenden Gräsern hätte sie sich gerne dienstbar gemacht und sich dort zu Tode gebracht, auf daß es mächtig grüne und kräftig aus ihr wüchse, vogelreich im Mai und von heißen Sonnen geküßt. Aber das Paradeis verhielt sich noch lange schweigend und wollte sich nicht dazu verstehen, ihr anzuvertrauen, in welch letzter Liebkosung es sie zu entführen gedachte. Sie mußte alle Stätten wieder aufsuchen, alle ihre Lieblingswege durchpilgern. Es war jetzt fast vollkommen Nacht und ihr schien, sie sänke nach und nach in die Erde. Sie erstieg die hohen Felsen und stellte ihnen die Frage, ob sie auf dem Kieselbett ausatmen sollte. Sie durchquerte den Wald und wünschte sich in schrittverlangsamender Erwartung, ein Eichbaum möge stürzen und sie in hoheitsvollem Sturz begraben. Sie ging an den Wiesenbächen entlang und beugte sich bei fast jedem Schritt vor, um zu sehen, ob auf dem Wassergrund kein Lager bei den Wasserrosen ihr bereitet sei. Nirgends rief sie der Tod oder streckte die kühle Hand nach ihr. Doch täuschte sie sich nicht, wohl war es das Paradeis, das ihr helfen sollte zu sterben, wie es sie die Liebe gelehrt hatte. Sehnsüchtig durchstreifte sie das Gesträuch wie an dem lauen Morgen, als sie auf der Suche nach Liebe war. Und plötzlich, in dem Augenblick, als sie in den Rosengarten trat, ersah sie den Tod in den abendlichen Düften. Wollüstig lachte sie und begann zu laufen. Mit den Blumen mußte sie sterben.
Vorerst lief sie in den Rosenwald. Dort im letzten Dämmerschein suchte sie in den Hecken, pflückte von allen Beeten Rosen, die beim Nahen des Winters ermatteten. An der Erde pflückte sie Rosen, ohne der Dornen zu achten, vor sich pflückte sie Rosen mit beiden Händen; Rosen pflückte sie aus der Höhe, hob sich auf die Zehenspitzen und bog die Zweige nieder. So in Eile war sie, daß sie Zweige knickte, sie, die sonst jeden Grashalm behutsam achtete. Bald hatte sie eine Rosenlast auf den Armen, unter der sie wankte. Nachdem sie die Hecken geplündert und sogar die losen Blätter eingesammelt hatte, machte sie sich auf zum Gartenhaus; dort ließ sie im Zimmer mit der blauen Deckenbemalung die Rosenbürde zur Erde gleiten und begab sich in den Garten zurück.
Jetzt sammelte sie die Veilchen auf, wand sie zu riesigen Sträußen, die sie einen nach dem anderen an die Brust preßte. Dann suchte sie die Nelken zusammen und schnitt sie bis auf die kleinsten Knospen ab, band mächtige Büsche weißer Nelken, wie milchiges Sprühen, mächtige Büsche roter Nelken wie rinnendes Blut. Dann pflückte sie noch Malven, Heliotrop, Winden und Lilien. Mit beiden Händen griff sie in die blühenden Malvenstengel, deren seidige Rüschen sie unbarmherzig zerdrückte; sie wütete in den Blütenschlingen der den Abendlüften kaum geöffneten Winden, mähte Heliotropfelder ab und häufte ihre Ernte zusammen; wie Binsenbündel trug sie Lilienstengel unter den Armen. Als sie wiederum beladen war, ging sie ins Gartenhaus und warf die Veilchen, Nelken, Malven, Nachtviolen, Lilien und Heliotrope zu den Rosen; und ohne sich Zeit zu lassen, stieg sie wieder hinab.
Diesmal begab sie sich nach jenem düsteren Winkel, der wie der Kirchhof des Paradeis anzusehen war. Ein sengender Herbst hatte hier Frühlingsblumen zur zweiten Blüte verlockt. Auf den Knien liegend, im Gras, machte sie sich vor allem über die Tuberosen- und Hyazinthenbeete her und erntete ein mit der Genauigkeit eines Habsüchtigen. Die Tuberosen waren ihr Blumen der Kostbarkeit, aus denen sie Tropfen für Tropfen Reichtümer, Gold, außerrodentliches Gut gewann. Die Hyazinthen, blühend beperlt, wurden ihr zu Halsgeschmeiden aus Perlen, denen Menschen unbekannte Freuden enttropften. Und trotzdem sie verschwand in der Menge der abgeschnittenen Hyazinthen und Tuberosen, fiel sie, etwas weiter, verheerend in Mohnfelder ein, und dann gelang ihr noch, eine Ringelblumenwiese zu plündern. Über Tuberosen und Hyazinthen häuften sich Ringelblumen und Mohn. Sie lief zurück und entledigte sich ihrer Lasten im blauüberwölbten Zimmer. Wieder stieg sie hinunter; was sollte sie nun pflücken? Den ganzen Blumengarten hatte sie abgeerntet. Hob sie sich auf den Fußspitzen, traf ihr Blick im Schattengrau nur noch auf erstorbene Gartenfelder, beraubt ihrer zärtlichen Rosenaugen, des roten Lächelns ihrer Nelken, des duftenden Heliotropgelocks. Mit leeren Armen aber wollte sie nicht ins Haus zurück; so griff sie nach Gräsern und Blattgrün; kniend preßte sie ihren Busen bodenwärts und suchte im letzten Leidenschaftsumarmen die Erde selbst fortzutragen. Jetzt wurden Gewürzpflanzen geerntet; Zitronat, Minze, Eisenkraut sammelte sie in ihre Röcke. Sie fand eine Einfassung von Balsamkraut und ließ kein Blättlein stehen. Zwei große Fenchelstauden sogar riß sie aus und warf sie sich über die Schulter wie Baumstämme. Wäre es möglich gewesen, hätte sie mit zusammengebissenen Zähnen den ganzen Gartenteppich ergriffen und fortgeschleift. Auf der Schwelle des Gartenhauses wandte sie sich um und warf einen letzten Blick auf das Paradeis. Dunkel lag es, die Nacht war vollkommen hereingebrochen und hatte sein Antlitz mit schwarzen Tüchern überbreitet. So ging sie auf Nimmerwiedersehen.
Bald war das große Zimmer geschmückt. Sie hatte eine brennende Lampe auf den Spiegeltisch gestellt und die in der Zimmermitte gehäuften Blumen ausgelesen, die sie zu großen Gewinden band und überall verteilte. Auf dem Spiegeltisch zuerst um die Lampe tat sie breite liliengewobene Spitze, die unschuldsweiß das Licht sänftigte. Dann warf sie Hände voll Nelken und Malven über das alte Sofa, dessen bemusterter Stoff schon mit roten hundertjährig verwelkten Sträußen besät war; der Stoff verschwand, das Sofa zog sich an der Wand wie ein nelkenstarrendes Malvenbeet. Die vier Sessel reihte sie vor der Bettnische auf; den ersten füllte sie mit Ringelblumen, den zweiten mit Mohn, den dritten mit Nachtviolen, den vierten mit Heliotrop; von den überblümten Sesseln sah man nur noch die Lehnenknäufe; wie blühende Pfeiler nahmen sie sich aus. Schließlich bedachte sie das Lager. Sie rollte einen Tisch in die Nähe des Kopfendes und überhäufte ihn mit Veilchen. Das Bett verbarg sie vollständig unter all den Tuberosen, den ganzen Hyazinthen, die sie gepflückt hatte. Die Schicht war so dicht, daß sie an der vorderen Langseite, am Fuß- und Kopfende und zwischen Wand und Bett überquoll und in schleppenden Trauben niederhing. Nun aber gab es noch die Rosen. Sie streute sie auf Geratewohl überallhin und achtete nicht einmal, wohin sie fielen; über Spiegeltisch, Sofa, Sessel sanken sie, überspielten einen Teil des Bettes. Minutenlang regnete es Rosenbüsche, sank gewitterschwer die Blumenflut nieder und überspülte die Ritzen des brüchigen Bodens. Als sich die Rosenmengen aber kaum minderten, flocht sie Girlanden und schlang sie über die Wände. Den kleinen Liebesgöttern aus Stuck, die den Alkoven neckend überspielten, hingen Gewinde um Hals, Arme und Flanken; ihre kleine Nacktheit verhüllte sich in Rosen. Über die Deckenbläue, die länglichen, von zartfarbenem Bandgeschlinge umrahmten Wandfelder, die altersverwischten galanten Malereien spannten sich Rosenschleier, ein wehender Mantel von Rosen. Das große Zimmer war geschmückt. Hier wollte sie den Tod erwarten.
Eine kleine Weile stand sie und sah in die Runde. Gedankenvoll suchte sie zu erforschen, ob der Tod zugegen sei. Sie raffte die Gewürzkräuter auf, Zitronat, Minze, Eisenkraut, Balsaminen und Fenchel, bog sie, wirrte sie ineinander zu Gefügen, mit denen sie die kleinsten Spalten und Löcher von Tür und Fenstern ausdichtete. Dann zog sie die grobgenähten Kattunvorhänge zusammen und streckte sich still, ohne Seufzen auf das Bett, das Blütenlager von Hyazinthen und Tuberosen.
Eine letzte Lust war es. Mit weit offenen Augen lächelte sie dem Zimmer zu. Mit wieviel Liebe hatte sie dies Zimmer nicht erfüllt, und wie selig starb es sich hier. In dieser Stunde kam ihr nichts Unreines mehr von den Stuckamoretten, nichts Erregendes von den Malereien. Nur erstickende Blumendüfte zogen unter der Deckenbläue. Und dieser Duft schien der Duft längst vergangener Liebe zu sein, der den Alkoven lau durchwehte, atemberaubend starker Duft. Vielleicht war es Atem der vor einem Jahrhundert hier verstorbenen Dame. Sie fühlte sich vor Entzückung unbeweglich, die Hände über dem Herzen faltend, lächelte sie und lauschte den Düften, die flüsternd ihren Kopf durchschwirrten. Sie spielten ihr seltsame Duftmusik auf, die sie langsam, ganz langsam einschläferte. Erst kam ein kindisch lustiges Vorspiel: ihren Händen, die die Gewürzpflanzen brachen, entströmte der herbe Geruch zusammengepreßter Kräuter, die ihr vom tollen Rasen ihrer ersten Mädchenzeit in der Wildnis des Paradeis erzählten. Dann ließ ein Flötenlied sich vernehmen, zartes, moschusduftendes Tönen, das den Veilchenstimmen auf dem Tisch am Kopfende des Bettes entquoll. Und dieses Lied, dessen Melodie ruhig begleitend die Lilien auf dem Spiegeltisch überzierte, sang vom ersten Zauber ihrer Liebe, dem ersten Geständnis unter hohen Bäumen im Gehölz, vom ersten Kuß. Ihr Atem ging schwerer; jetzt trat die Leidenschaft auf im jähen Ausbrechen scharfduftender Nelken, deren Kupferstimmen eine Zeitlang alles übertönten. Sie glaubte vergehen zu müssen bei den kranken Klängen der Ringelblumen, der Mohnblüten, die sie an die Qualen des Begehrens erinnerten. Und plötzlich beruhigte sich alles, sie vermochte freier zu atmen und entglitt in sanfte Tiefen, abwärts gewiegt vom Choral der Malven, der sich verlangsamte, sich löste in eine wunderbare Hymne; Heliotropgesang kündete das Nahen der Hochzeit. Hier und dort flochten die Nachtviolen verschwiegene Triller ein. Eine Stille dann. Schmachtend begannen die Rosen. Von der Deckenwölbung floß ein Chor ferner Stimmen. Reicher Zusammenklang war es, dem sie anfänglich leise erschauernd lauschte. Der Chor wurde lauter, bald war sie ganz durchbebt von den gewalttätigen, sie umschütternden Klängen. Die Hochzeit brach an. Rosenfanfaren kündeten den grausig süßen Augenblick. Sie keuchte, preßte fester und fester die Hände aufs Herz, ihrer selbst nicht mehr mächtig, sterbend. Sie öffnete den Mund mit vergehenden Sinnen, dem erlösenden Kuß entgegen, als Hyazinthen und Tuberosen aufdampften und sie einhüllten in so tiefen letzten Seufzer, daß der Rosenchor von ihm verdunkelt wurde.
Albine war gestorben, in schluchzend höchster Lust.