Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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8

Am nächsten Tage rief Sergius schon beim ersten Morgengrauen nach Albine. Diese schlief in einem der Zimmer des oberen Stockwerkes, und der Gedanke kam ihm gar nicht, hinaufzusteigen. Er beugte sich aus dem Fenster, sah, wie sie nach dem Erwachen ihre Läden aufstieß. Ihre Blicke trafen sich, und da mußten sie beide sehr lachen.

»Heute gehst du nicht aus,« sagte Albine, als sie herunterkam. »Wir müssen uns ausruhen ... Morgen werde ich dich weit, weit fortführen an einen Ort, wo es uns ausnehmend gefallen wird.«

»Wir werden uns entsetzlich langweilen,« murmelte Sergius.

»Warum nicht gar ... ich werde dir Geschichten erzählen.«

Sie verbrachten einen entzückenden Tag. Die Fenster standen weit offen; das Paradeis hatte Zutritt ins Zimmer und freute sich mit ihnen. Sergius ergriff endlich Besitz von diesem glücklichen Zimmer, in dem er wähnte, geboren zu sein. Alles wollte er sehen und erklärt haben. Die Liebesgötter aus Stuck, die in den Nischen flogen, schienen ihm so spaßhaft, daß er auf einen Stuhl stieg und Albines Gürtel dem Kleinsten, einem Männlein, das mit der Kehrseite nach oben, dem Kopf nach unten Allotria trieb, um den Hals band. Albine klatschte in die Hände und rief, er gliche einem Maikäfer am Faden. Dann, wie von Mitleid ergriffen:

»Nein, nein, mach ihn los ... so kann er nicht fliegen.«

Aber am meisten beschäftigten Sergius die gemalten Liebesabenteuer über den Türen. Er ärgerte sich, daß ihm nicht klar wurde, was sich da eigentlich abspielte; die Malereien waren zu verblichen.

Mit Albines Hilfe rollte er einen Tisch herzu, den sie beide erkletterten. Albine begann zu erklären:

»Sieh nur, die da werfen sich Blumen zu. Unter den Blumen kann man nur noch drei nackte Beine erkennen. Ich glaube mich erinnern zu können, daß damals, als ich kam, noch eine liegende Frau zu erkennen war. Aber seither ist sie verschwunden.«

Sie betrachteten nacheinander alle Felder, ohne daß von den hübschen Boudoirunanständigkeiten irgendein Unlauteres bis zu ihnen gedrungen wäre. Die wie ein geschminktes Antlitz des achtzehnten Jahrhunderts zerbröckelnden Malereien waren genügend vergangen, um nichts als Knie und Ellbogen der in liebenswürdigen Unzüchten hingesunkenen Körper sichtbar werden zu lassen. Die zu unumwundenen Deutlichkeiten, in denen sich die den Alkoven fern durchduftende, vergangene Liebe gefallen hatte, waren von der Luft ausgelöscht; so war das Zimmer, gerade wie der Park, auf natürliche Art wieder jungfräulich geworden unter ruhigem Sonnenglänzen.

»Sie spaßen, die Jüngelchen,« sagte Sergius und stieg vom Tisch herunter. »Kannst du Heiß und Kalt spielen?«

Albine kannte alle Spiele. Nur mußte man, um Heiß und Kalt spielen zu können, mindestens zu dritt sein. Das brachte sie zum Lachen. Aber Sergius rief, zu zweit wäre es am allerschönsten, und sie beschlossen, immer nur zu zweit zu sein.

»Kein Laut ist zu hören, wie traulich ist es,« begann der junge Mann wieder und streckte sich auf dem Sofa aus. »Und die Möbel riechen alt und angenehm. Es ist traulich wie in einem Nest; dies ist ein Zimmer, in dem das Glück wohnt.«

Das junge Mädchen schüttelte ernst den Kopf.

»Wäre ich furchtsam gewesen,« flüsterte sie, »hätte ich mich wohl fürchten können in der ersten Zeit ... Gerade diese Geschichte will ich dir ja erzählen. Hier in der Gegend hab' ich sie gehört; vielleicht ist sie gar nicht wahr, aber hübsch ist sie doch.«

Und sie setzte sich neben Sergius.

»Vor vielen, vielen Jahren gehörte das Paradeis einem reichen, vornehmen Herrn, der sich mit einer Dame von großer Schönheit dort vergrub. Die Tore des Schlosses waren so wohl verschlossen, die Gartenmauern so hoch, daß niemand je auch nur den kleinsten Schleppenzipfel jener Dame zu sehen bekam.«

»Ich weiß,« unterbrach Sergius. »Nie wieder ist die Dame zum Vorschein gekommen.«

Da Albine ihn verwundert betrachtete, geärgert darüber, daß ihre Geschichte ihm schon bekannt war, fuhr er halblaut fort, selbst erstaunt:

»Die Geschichte hast du mir schon erzählt.«

Sie widersprach; dann schien sie sich eines Besseren zu besinnen und ließ sich überzeugen, was nicht hinderte, daß sie ihre Erzählung mit den Worten endete:

»Als der Herr das Schloß verließ, waren seine Haare weiß. Alle Öffnungen ließ er vermauern, damit nichts die Ruhe der Dame störte. In diesem Zimmer starb sie.«

»In diesem Zimmer!« rief Sergius. »Das hast du mir nicht gesagt... Bist du sicher, daß sie in diesem Zimmer gestorben ist?«

Albine ereiferte sich, alle Welt wüßte, daß es so sei, wie sie sagte. Der Herr habe das Lusthaus bauen lassen, um jene prinzessinnenhafte Unbekannte dort zu behausen. Die Schloßdienerschaften hätten später versichert, Tag und Nacht habe er dort zugebracht. Oftmals auch sei er gesehen worden, wie er durch die Alleen die kleinen Füße der Unbekannten in das dichteste Heckendunkel geleitete. Um nichts in der Welt aber hätten sie den Versuch gemacht, das Paar zu belauschen, das ganze Wochen lang im Park umherstreifte.

»Und hier ist sie gestorben,« wiederholte Sergius, der ganz beeindruckt war. »Und du hast dir ihr Zimmer angeeignet, wohnst in ihren Möbeln, schläfst in ihrem Bett!«

Albine lächelte.

»Du weißt doch, daß ich nicht furchtsam bin,« sagte sie. »Ach, und dann ist alles das so lange her ... Dir schien das Zimmer doch voll Glück.«

Sie verstummten und betrachteten eine Weile den Alkoven, die hochgewölbte Decke, die schattengrauen Winkel. Wie Liebesrührung lag es über den verblaßten Farben der Möbel. Leise seufzte die Vergangenheit auf, so ergeben, daß es klang wie der zärtlich schwüle Dank einer angebeteten Frau.

»Ja,« flüsterte Sergius, »es ist zu ruhig hier, als daß man sich fürchten könnte.«

Albine rückte näher an ihn heran und begann wieder:

»Nur wenige wissen, daß sie im Garten das Versteck vollkommenster Glückseligkeit entdeckten und ihre ganze Zeit dort verbrachten. Ich weiß das aus sicherster Quelle. Ein schattenkühler Winkel, in unzugänglichem Gesträuch verborgen und so wunderbar schön, daß man dort die ganze Welt vergißt. Sicher liegt die Dame dort begraben.«

»Ist es im Blumengarten?« fragte Sergius neugierig.

»Ach, ich weiß nicht, ich weiß nicht,« sagte das junge Mädchen mit einer mutlosen Bewegung. »Überall habe ich gesucht und nirgends noch die glückselige Lichtung entdecken können ... Nicht zwischen den Rosen ist sie, noch in den Lilien, noch im Veilchenflor.«

»Vielleicht ist es jene traurige Blumenecke, wo du mir das Steinbild eines Kindes mit abgebrochenem Arm zeigtest?«

»Nein, nein.«

Albine blieb eine kleine Weile in Gedanken versunken. Dann fuhr sie fort, als redete sie mit sich selbst:

»Schon am ersten Tage machte ich mich auf die Suche. Wenn ich Tage verbrachte im Paradeis, wenn ich die heimlichsten grünen Winkel durchstöberte, so war es, um mich nur eine Stunde lang auf der Lichtung auszuruhen. Wie viele Morgen habe ich nicht vergeudet mit vergeblichen Streifzügen, durch Dorngerank, beim Absuchen der entlegensten Parkecken! ... Oh, gleich hätte ich ihn erkannt, den verzauberten Unterschlupf mit seinem mächtigen Baum, dessen Laub ihn wohl ganz überdacht, mit dem Grasteppich wie aus Seidensammt, den grünen Buschwänden, die selbst die Vögel nicht durchdringen können!«

Sie warf einen Arm um Sergius' Hals, und bittend hob sie die Stimme:

»Sag', jetzt sind wir zu zweit, können zu zweit auf die Suche gehen, zu zweit werden wir finden, was wir suchen. Du bist stark und kannst mir die großen Zweige aus dem Wege biegen, damit ich jedes Dickicht ganz zu durchsuchen vermag. Du wirst mich tragen, wenn ich müde werde; du wirst mir helfen beim Überspringen der Bäche, du wirst auf die Bäume steigen, wenn wir unseren Weg verloren haben ... Welche Freude dann, wenn wir Seite an Seite mitten auf der Lichtung ruhen können unterm Blätterdach! Ich habe mir sagen lassen, daß man dort in einer Minute ein ganzes Leben durchlebt ... Nicht wahr, lieber Sergius, gleich morgen fangen wir an, den ganzen Park zu durchsuchen, Gebüsch für Gebüsch, bis sich unser Wunsch erfüllt.«

Sergius zuckte lächelnd die Achseln.

»Wozu?« sagte er. »Ist es denn im Blumengarten nicht schön genug? Wir sollten bei den Blumen bleiben, scheint mir, ohne irgendein größeres Glück in der unbestimmten Ferne zu suchen.«

»Dort ist die Tote begraben,« flüsterte Albine und verfiel wieder ihrer Träumerei. »Vor Lust, dort geruht zu haben, ist sie gestorben. Der Schattenzauber dieses Baumes ist tödlich... Gerne wollt' ich so sterben. Wir lägen einer dem andern im Arm und stürben; kein Mensch fände uns.«

»Nein, sei still, du machst mich ganz betrübt,« unterbrach Sergius sie beunruhigt. »Wir wollen in der Sonne leben, weit fort von Todesschatten. Deine Worte ängstigen mich, als wollten sie uns in ein nicht wieder gutzumachendes Unglück drängen. Sicher ist es unrecht, unter einem Baum zu ruhen, dessen Schatten solche Schauer schafft.«

»Ja, es ist unrecht,« erklärte Albine ernst. »Alle Leute hier im Land haben mir gesagt, es sei unrecht.«

Eine Stille trat ein. Sergius erhob sich vom Ruhebett, auf dem er gelegen hatte, lachte und äußerte, die Geschichten wären gar nicht nach seinem Geschmack. Die Sonne begann schon zu sinken, als Albine endlich einwilligte, für kurze Zeit in den Garten hinunterzugehen. Sie führte ihn links an der Umfassungsmauer entlang bis zu einem dornenstarrenden Schuttfeld. Hier hatte früher das Schloß gestanden, noch war alles schwarz verbrannt von der Feuersbrunst, die die Mauern niedergelegt hatte. Unter dem Gestrüpp barsten feuergebackene Steine, verfaulten Überreste von Holzwerk. Wie ein wüster Felsenflecken sah es aus, durchhöhlt, verbrannt und mit rauhem Gras bestanden, kriechenden Gewächsen, die in alle Spalten krochen wie Nattern. Und sie vergnügten sich damit, diesen Hexenkessel nach allen Seiten zu durchqueren, im Schutt zu stochern und nachzusuchen, ob sich nichts von dieser eingeäscherten Vergangenheit enthüllen wollte. Sie gestanden sich ihre Neugier nicht ein, liefen sich nach zwischen geborstenen Planken und gestürztem Gemäuer; in Wirklichkeit aber dachten sie an nichts anderes als an die Legende dieser Ruinen, an die Dame, schöner als der Tag, die knisternde Seidenschleppen einst über die Stufen zog, auf denen jetzt nur mehr träge Eidechsen umherkrochen.

Sergius erklomm schließlich den höchsten Schutthaufen und sah über den Park hin, der seine unübersehbaren grünen Matten breitete, und versuchte zwischen den Bäumen die graue Wand des Lusthauses zu erspähen. Albine stand still neben ihm; sie war nachdenklich geworden.

»Das Lusthaus ist dort zur Rechten,« sagte sie, ohne daß er sie gefragt hätte. »Es ist alles, was übrigblieb von den Baulichkeiten ... Du kannst es genau sehen am Ende der Lindendeckung!«

Wieder schwiegen sie. Und als führte sie mit lauter Stimme die Gedanken weiter aus, die sie innerlich beide beschäftigt hatten, begann sie wieder:

»Wenn er zu ihr ging, führte sein Weg wohl durch diese Allee; dann umschritt er die großen Kastanien und hielt sich unter den Linden ... Kaum eine Viertelstunde hatte er zu gehen.«

Sergius tat den Mund nicht auf. Auf dem Rückweg gingen sie durch die Allee, umschritten die großen Kastanien und bogen unter die Linden. Ein Liebesweg war es. Es war, als suchten sie Spuren im Gras, eine abgefallene Bandschleife, einen Hauch vergessener Wohlgerüche, irgendein Zeichen, das klar ihnen kündete, sie fanden sich wirklich auf dem Weg zur Lust glücklichen Zusammenseins. Es wurde Nacht. Die großvergehende Stimme des Gartens rief nach ihnen aus den grünen Gründen.

»Warte,« sagte Albine, als sie wieder vor dem Lusthaus angelangt waren. »Komm erst in einigen Minuten herauf.«

Sie lief vergnügt voran und schloß sich ein in dem Zimmer mit der blauen Decke. Zweimal ließ sie Sergius an die Türe klopfen, dann erst tat sie leise die Türe halb auf und empfing ihn mit einer tiefen Verneigung im alten Stil.

»Guten Tag, mein teurer Gebieter,« sagte sie und küßte ihn.

Dies belustigte sie ungemein. Sie spielten Liebesleute in aller Kindlichkeit und versuchten eine Leidenschaft nachzustottern, die einstmals hier zu Tode gekommen war. Wie eine Schulaufgabe plapperten sie sie in entzückender Torheit her, verstanden nicht, sich auf die Lippen zu küssen und versuchten es mit den Wangen, umtanzten einander schließlich unter Lachausbrüchen, ahnungslos, wie eines den andern seine Freude an ihrer gegenseitigen Neigung fühlen lassen konnte.


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