Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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Zweites Buch

1

Die sorgfältig zugezogenen Kattunvorhänge vor den breiten Fenstern erfüllten das Zimmer mit gedämpfter Weiße jungen Tages. Das Zimmer war hoch, sehr geräumig, und die Einrichtung bestand aus alten, weiß lackierten Louis-XV.-Möbeln, mit Bezügen, rotblumig auf Streugeblätter. Über Pfeilerspiegeln und den beiden Türen zur Seite des Alkovens konnte man noch die gemalten rosigen Gliederchen kleiner Liebesgötter erkennen, die in Scharen flatterten und sich mit genau nicht mehr feststellbaren Spielen vergnügten, während die in länglich runden Feldern angeordneten Holzverkleidungen der Wände, die Flügeltüren, das ehemals azurblaugrundige Deckengewölbe, zierlich umrahmt und beschleift, umschlungen von zartlachsfarbenen Bändern, sich in sehr sanftem Grau verloren, einem Grau, das die zarte Empfindsamkeit dieses welken Paradieses bewahrte. Der große Alkoven der Fensterwand gegenüber öffnete sich unter Wolkenschleiern, die Amoretten aus Stuck, sich neigend und überschlagend auseinanderrafften, wie, um keck das Bett zu betrachten. Fenster wie Alkoven waren mit kattunenen, grobgenähten Vorhängen behangen, deren Einfalt sich verwunderlich ausnahm inmitten dieses Zimmers, dem lauer Duft vergangener Wollüste anhaftete.

Albine saß neben einem Spiegeltisch, auf dem ein Teekessel über Spiritus kochte, und betrachtete aufmerksam die Vorhänge des Alkovens. Sie war in Weiß gekleidet, ein Tuch aus alten Spitzen umschlang ihr Haar, sie ließ die Hände baumeln und hielt Wache in der Haltung eines erwachsenen Mädchens. Schwaches Atmen, wie das Seufzen eines müden Kindes, ließ sich in der großen Stille vernehmen, nach Ablauf einiger Minuten aber wurde sie unruhig und konnte sich nicht enthalten, mit leisen Schritten hinzugehen und eine Ecke des Vorhangs behutsam zu heben.

Sergius schien zu schlafen am Rande des großen Bettes, einen Arm hatte er unter den Kopf geschoben. Während seiner Krankheit waren ihm Haare und Bart gewachsen. Er war sehr bleich, die Augen waren blau umzeichnet, die Lippen blaß, er hatte etwas von der Anmut eines genesenden Mädchens.

Gerührt wollte Albine den Vorhang wieder fallen lassen. »Ich schlafe nicht,« sagte Sergius mit ganz leiser Stimme. Er richtete den Kopf nicht auf und bewegte keinen Finger, wie von angenehmer Müdigkeit gelähmt. Seine Augen hatten sich langsam geöffnet; leise ging der Atem seines Mundes über eine ihrer bloßen Hände und ließ den Flaum ihrer hellen Haut erbeben.

»Ich hörte dich,« flüsterte er weiter, »du gingst ganz leise.« Sie war entzückt über diese Anrede, kam näher und kauerte sich vor das Bett, um ihr Gesicht in gleiche Höhe mit dem seinen zu bringen.

»Wie fühlst du dich?« fragte sie.

Und nun kostete sie ihrerseits die Süße, dieses Du, das ihr zum erstenmal über die Lippen kam.

»Oh, jetzt bist du geheilt,« fing sie wieder an. »Weißt du, ich weinte den ganzen Weg entlang, wenn ich mit schlechten Nachrichten zurückkam, von da unten. Man sagte mir, du habest das Delirium, und verschonte dich das böse Fieber, würde es dir den Verstand rauben. Wie hab' ich deinen Onkel Pascal geküßt, als er dich hierherbrachte, damit du ganz gesund würdest!«

Mütterlich ordnete sie das Bettzeug.

»Siehst du, die verbrannten Felsen dort unten waren nichts für dich, du brauchst Bäume, Kühle und Ruhe ... Der Doktor hat niemand verraten, daß er dich hier versteckte. Es ist ein Geheimnis, von dem nur er und deine Freunde wissen. Er hielt dich für verloren ... glaub mir, hier haben wir keine Störung zu befürchten. Onkel Jeanbernat raucht seine Pfeife vor den Salatbeeten. Die anderen erkundigen sich heimlich nach dir. Sogar der Doktor wird nicht mehr herkommen, weil ich jetzt dein einziger Arzt bin... es scheint, daß du Medizin nicht mehr benötigst, du brauchst Liebe, verstehst du?«

Er schien nicht zu verstehen, der Schädel war ihm wie leergebrannt. Da seine Augen, ohne daß er den Kopf bewegt hätte, von einer Ecke des Zimmers in die andere wanderten, dachte sie, er suche herauszufinden, wo er sich befände.

»Dies ist mein Zimmer,« sagte sie. »Ich habe es dir überlassen, es ist hübsch, nicht wahr? Ich habe mir die schönsten Möbel, die auf dem Speicher standen, herausgesucht; dann hab' ich mir die Kattunvorhänge genäht, um vom Tageslicht nicht geblendet zu werden ... Und du störst mich gar nicht. Ich werde im zweiten Stock schlafen. Da stehen noch drei, vier Zimmer leer.«

Aber er schien nicht beruhigt. »Bist du allein?« fragte er.

»Ja, warum fragst du mich das?«

Er antwortete nicht auf die Frage, sondern murmelte mit einem gequälten Ausdruck: »Ich habe geträumt, ich träume immer... Glocken höre ich, und das macht mich so müde.« Nach kurzem Schweigen fing er wieder an: »Geh und mach die Türe zu, schiebe die Riegel vor, ich will, daß nur du da bist, du ganz allein.«

Als sie zurückkam und sich einen Stuhl heranschob, um sich an sein Bett zu setzen, freute er sich kindlich und wiederholte: »Jetzt kann niemand herein. Und ich werde die Glocken nicht mehr hören ... Wenn du sprichst, wird es ruhiger.«

»Willst du etwas trinken?« fragte sie. Er habe keinen Durst, bedeutete er. Mit erstauntem Ausdruck betrachtete er Albines Hände, so daß sie lächelnd eine Hand auf den Rand des Kissens legte. Da ließ er seinen Kopf bis zu der kleinen Hand gleiten und schmiegte eine Wange an sie. Ein leises Lachen kam ihn an, er sagte: »Ah, sie ist seidenweich. Als ob sie mir Luft in die Haare bliese, ist es... Bitte, nimm sie nicht fort.« Dann entstand ein langes Schweigen. Sie sahen einander in die Augen, von tiefer Freundschaft beseelt. Albine spiegelte sich friedlich im leeren Blick des Genesenden. Sergius schien ein Unbestimmtes zu belauschen, das die kühle, kleine Hand ihm anvertraute.

»Deine Hand ist sehr lieb,« begann er wieder. »Du kannst dir gar nicht denken, wie sie mir guttut ... Es ist, als ob sie vordränge, bis in mein Innerstes, um mir die Schmerzen zu nehmen, die meine Glieder quälen. Wie Liebkosung streift es mich, Erleichterung und Heilung.«

Leise rieb er seine Wange gegen die Hand, belebte sich, wie neuem Leben geschenkt.

»Nicht wahr, du wirst mir nichts Schlechtes zu trinken geben, mich nicht quälen mit allerhand Arzneien? Sag? Deine Hand genügt mir, siehst du. Ich bin hierhergekommen, damit du sie so hinlegst unter meinen Kopf.«

»Lieber Sergius,« sagte Albine leise, »du hast sehr leiden müssen, nicht wahr?«

– »Leiden? Doch, doch; aber das ist lange her... ich habe schlecht geschlafen und schreckliche Träume gehabt. Wenn ich es fertigbrächte, spräche ich dir von alledem.«

Er schloß eine Zeitlang die Augen und durchforschte angestrengt sein Gedächtnis. »Nur Schwarzes sehe ich,« sagte er abgerissen. »Es ist sonderbar, ich kehre von einer weiten Reise zurück. Ich weiß nicht einmal mehr, woher ich komme. Ich hatte Fieber, ein Fieber, das mir durch die Adern raste wie ein Tier... Ja, so ist's! Jetzt fällt es mir ein. Immer wieder träumte ich das gleiche im Fieber, ein endloses unterirdisches Gewölbe mußte ich entlang kriechen. Manchmal, wenn ich große Schmerzen hatte, vermauerte sich das Gewölbe plötzlich: ein Regen von Steinen fiel von oben herab, die Seitenwandungen verengten sich, ich keuchte in der Raserei des Hindurchwollens, drang ein in das Hindernis und arbeitete mich ab mit Händen, Füßen und Schädel, im verzweifelnden Gefühl, nie aus diesen immer dichter stürzenden Trümmern zu kommen ... Manchmal wieder genügte ein Fingerdruck, um alles aus dem Weg zu räumen, ungehindert vermochte ich hindurchzudringen, die erweiterten Galerien zu durchwandern und nichts blieb von allem zurück, als Müdigkeit nach der Erregung.« –

Albine wollte ihm den Mund mit der Hand schließen.

»Nein, es ermüdet mich nicht, zu sprechen. Du siehst ja, ich spreche dir ins Ohr, und es ist, als ob ich denke und du mich verstehst. Das Verwunderlichste war bei meinen unterirdischen Erlebnissen, daß mir nie der Einfall gekommen wäre, umzukehren; eigensinnig hielt ich stand, wenn mir auch schien, Tausende von Jahren müßten vergehen, ehe auch nur eine einzige dieser Wände zum Stürzen gebracht werden könnte. Aber es war eine unumgängliche Aufgabe, der ich mich unterziehen mußte, um größeren Schrecknissen zu entgehen. Mit der Stirn stieß ich an Felsen, meine Knie waren zerschunden, trotzdem mußte ich in angsterfüllter Gewissenhaftigkeit all meine Kräfte daransetzen, so schnell wie möglich ans Ziel zu gelangen. An welches Ziel? Ich weiß es nicht mehr, ich weiß es nicht mehr...«

Träumerisch schloß er die Augen und dachte nach, dann schmiegte er sich wieder über Albines Hand, sagte lächelnd: »Wirklich dumm bin ich, wie ein kleines Kind.«

Das junge Mädchen aber, um zu erfahren, ob er ihr wirklich ganz gehöre, fragte ihn aus, versuchte ihn zu den wirren Erinnerungen zurückzubringen, die er heraufzubeschwören versuchte; er hatte das Gedächtnis verloren und lebte wirklich in glücklicher Kindhaftigkeit ... Er wähnte sich abends zuvor erst zur Welt gekommen.

»Oh, ich bin noch nicht kräftig,« sagte er. »Siehst du, meine früheste Erinnerung ist, daß ich im Bett lag, mein ganzer Körper brannte, mein Kopf rollte auf dem Kopfkissen umher wie auf glühendem Rost; unaufhörlich rieb sich ein Fuß an den anderen, bis die Haut platzte. Ja, ich war sehr krank gewesen! Es war, als ob mein Körper erneuert, alles herausgenommen und geflickt würde wie bei einem Uhrwerk, das zerbrochen ist.« Er mußte hierüber wieder lachen. Dann fuhr er fort: »Ganz neu werde ich sein, die Krankheit hat gründlich in mir aufgeräumt. – Was fragtest du mich gerade? Nein, niemand war da. Ganz allein quälte ich mich, tief unten in einer schwarzen Höhle. Darüber hinaus weiß ich von nichts, kann ich nichts mehr erkennen ... Willst du, daß ich dein Kind bin? Du wirst mich gehen lehren. Ich sehe jetzt nur dich. Alles ist mir gleichgültig, außer dir. Von nichts will ich mehr etwas wissen, sag ich dir. Ich bin gekommen, du hast mich aufgenommen, das genügt mir.« Dann sagte er noch befriedigt und zärtlich: »Deine Hand ist jetzt warm; sie ist lieb wie die Sonne... Wir wollen still sein, ich wärme mich.« Schweigen bebte aus der Deckenbläue nieder in das weite Zimmer. Die Spirituslampe war ausgegangen, und dem Teekessel entwich ein immer dünnerer Rauchstrahl. Den Kopf auf das gleiche Kissen gebettet, betrachteten Albine und Sergius die großen fensterverhüllenden Kattunvorhänge. Zumal Sergius' Augen wanderten dorthin wie zu der weißen Quelle allen Lichtes. Sanft ließ er sich überspülen von blassem, seinen noch schwachen Kräften angepaßtem Tagesschein.

Dort, wo die Kattunvorhänge gelblicher aufglänzten, ahnte er die Sonne, das genügte ihm, um zu gesunden. Er lauschte einem starken Blätterrauschen in der Ferne; der grünliche Schatten eines deutlich sich abzeichnenden großen Zweiges am rechten Fenster ließ ihn unruhig träumen von jenem Wald, dem er so nah sich wußte.

»Willst du, daß ich die Vorhänge aufziehe?« fragte Albine, die das beharrliche Betrachten falsch deutete.

»Nein, nein,« beeilte er sich zu erwidern.

»Es ist sehr schön draußen, du könntest Sonne und Bäume sehen.«

»Nein, um alles nicht... Nichts von draußen soll zu mir hereinkommen. Schon dieser Zweig dort ermüdet mich mit seinem zu lebhaften Auf und Nieder ... Laß mir deine Hand, ich will schlafen. Ganz weiß ist mir zumut ... so ist es gut...«

Und vertrauensvoll schlief er ein, behütet von Albine, die über sein Antlitz hauchte, um den Schlaf ihm zu erfrischen.


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