Emil Zola
Die Sünde des Abbé Mouret
Emil Zola

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14

Am nächsten Tage verschloß Sergius sein Zimmer der Außenwelt. Der Duft aus dem Blumengarten brachte ihn zur Verzweiflung. Er zog die Vorhänge zu, um den Park nicht mehr sehen zu müssen, und sein Eindringen zu hindern. Vielleicht konnte er so den Frieden der Kindheit wiederfinden, fern von allem Grün, dessen Schatten er wie eine Berührung auf der Haut empfand. In den langen Stunden ihres Beisammenseins sprachen Albine und er niemals mehr von den Felsen, Wassern, Bäumen und vom Himmel. Das Paradeis war nicht mehr vorhanden, sie suchten es zu vergessen.

Doch allem zum Trotz spürten sie durch die Dünne der Vorhänge seine mächtige Weite; Laubgeruch stäubte durch Ritzen im Holzwerk; klingende Rufe ließen die Scheiben erzittern; das freie Leben da draußen lachte, flüsterte, lauerte unter den Fenstern. Erbleichend sprachen sie lauter und suchten nach Zerstreuungen, die diese Stimmen zu übertönen vermöchten.

»Hast du nicht bemerkt,« sagte eines Morgens Sergius in unruhvoller Stunde, »daß die gemalte Frau dort über der Türe dir gleicht?« Er lachte lärmend, und sie wandten sich wieder den Malereien zu, schoben den Tisch an der Wand entlang, im heißen Bemühen sich zu beschäftigen.

»Nicht doch,« meinte Albine, »sie ist doch viel dicker als ich. Außerdem kann man das wirklich kaum herausfinden; sie liegt so komisch da, mit dem Kopf nach unten!«

Sie schwiegen. In verblaßter, von der Zeit zerstörter Malerei zeigte sich ein Bild, das sie bisher noch nicht beachtet hatten. Eine Auferstehung zarten Fleisches aus dem Grau der Wand war es, wiederbelebtes Gebilde, dessen Einzelheiten in sommerlichen Hitzen mehr und mehr zum Vorschein kamen.

Die liegende Frau bot sich zurückgebogen der Umarmung eines bocksfüßigen Fauns. Deutlich waren zu erkennen die Bewegung der Arme, der sich hingebend windende Rumpf, die ganze gelöste Gestalt dieser nackt kräftigen Buhlerin, überrascht auf Blumengarben, die kleine Liebesgötter mit Sicheln in den Händen mähten. Liebesgötter, die unaufhörlich neue Rosensträuße über das Lager streuten. Man nahm auch die Anstrengung des Fauns wahr, das Keuchen seiner sich wild anpressenden Brust. Auf der anderen Seite des Bildes waren nur noch die beiden Füße der Frau erkenntlich, die wie rosige Tauben in der Luft flatterten.

»Nein,« wiederholte Albine, »ähnlich sieht sie mir nicht ... sie ist garstig.« Sergius sagte nichts. Er betrachtete die Frau, betrachtete Albine und gab sich den Anschein, als vergliche er. Albine streifte einen ihrer Ärmel bis zur Schulter auf, um zu zeigen, daß ihre Haut weißer sei. Und wieder schwiegen sie, widmeten sich dem Bild, mit Fragen auf den Lippen, die sie sich zu stellen scheuten. Einen Augenblick trafen sich ihre Augen, Albines blaue und Sergius' graue, glühend durchflammte.

»Hast du denn das ganze Zimmer neu gemalt?« rief sie und sprang herab vom Tisch. »Es ist gerade, als erwachte alles aus dem Schlaf.«

Sie mußten beide lachen, aber ein erregtes Lachen war es, bei dem verstohlene Seitenblicke die spitzbübischen Putten und die Nacktheit der fast vollständig enthüllten Körper streiften. Aus Trotz wollten sie alles wieder ansehen, jedes Wandfeld wurde verwundert betrachtet, und unter lauten Ausrufen zeigten sie sich menschliche Gliedmaßen, die sicherlich im vergangenen Monat noch nicht zu erkennen waren. Bewegliche, in nervigen Armen sich wiegende Rücken, Beine enthüllten sich bis zu den Hüften, Frauen tauchten auf, bedrängt von Männern, deren greifende Hände vor kurzem noch nur Leere umfaßten. Sogar die stuckgeformten Putten des Alkovens schienen sich größere Freiheiten zu gestatten. Albine wagte nichts mehr von spielenden Kindern zu sagen, Sergius ließ keine lauten Vermutungen mehr hören.

Ernsthaft wurden sie, verweilten lange vor den Darstellungen, und es wäre ihnen lieb gewesen, wenn die Malereien mit einem Schlage in alter Frische erstanden wären; diese letzten Nebel vor den Deutlichkeiten der Bilder waren noch erregender. Und diese Gespenster der Wollust vollendeten ihre Erziehung zur Liebe.

Aber Albine begann sich zu fürchten; sie floh aus Sergius Nähe, dessen Atem ihr heiß über den Nacken strich, und setzte sich auf das äußerste Ende des Sofas; leise sagte sie:

»Ich beginne mich vor ihnen zu ängstigen. Die Männer sehen wie Räuber aus, und die Frauen haben Augen wie Schlachtopfer.«

Sergius ließ sich in einiger Entfernung von ihr in einem Sessel nieder und redete von anderen Dingen. Sie fühlten sich beide sehr matt, wie nach langem Lauf, und ein Unbehagen überschlich sie, so, als würden sie von den Bildern beobachtet. Der Puttentrubel reigte über Wand und Deckenzierrat in Wirbeln verliebter Gliederchen, wie ausgelassene Bubenschar, die ihnen Blumen zuwarf und sie einander zu fesseln schien mit dem gleichen blauen Bandgeschlinge, das ein Liebespaar oben an der Decke dicht verstrickte. Die Paare belebten sich und erzählten die Geschichte des großen vom Faun begehrten Mädchens, ließen sie erraten vom erstmaligen Lauern des Fauns hinter Rosenhecken bis zu der Hingabe des großen Mädchens inmitten entblätternder Rosen.

Würden sie wohl von den Wänden steigen? Durchseufzten sie nicht schon das vom Wehen wollüstiger Vergangenheit durchschauerte Gemach?

»Man kann hier nicht atmen, findest du nicht auch?« sagte Albine. »Alles Lüften ist vergeblich; immer bleibt diesem Zimmer der seltsame Vergangenheitsgeruch.«

»Neulich Nacht,« erzählte Sergius, »erwachte ich von so durchdringendem Duft, daß ich deinen Namen rief, weil ich annahm, du seiest eingetreten. Lau duftete es wie dein Haar, wenn du es mit Heliotropdolden durchstichst ... In den ersten Nächten kam es von weither gezogen, wie duftende Erinnerung. Doch jetzt kann ich kein Auge mehr zutun, so hat sich der Duft verstärkt; ich ersticke fast. Zumal des Abends ist der Alkoven so duftdurchwärmt, daß ich mich zu guter Letzt gezwungen sehen werde, auf dem Sofa zu schlafen.«

Albine legte einen Finger auf die Lippen und flüsterte:

»Die Verstorbene ist es, du weißt, jene Frau, die früher hier gelebt hat.«

Sie gingen scherzend zum Alkoven, doch in Wirklichkeit war ihnen ernst zumute. Eines war sicher, niemals hatte es den Alkoven so erregend durchduftet. Die Wände schienen noch überbebt von der schmeichelnden Berührung moschusduftender Gewänder. Am Boden hin zog noch der süßbalsamische Aushauch kleiner Atlaspantoffel, die vor dem Bett gestanden hatten, und am Holzwerk des Bettes wollte Sergius den Abdruck einer kleinen Hand entdeckt haben, deren durchdringender Veilchenduft dort noch haftete. In sanften Düften schien die Tote zu dieser Stunde alle Geräte zu umgeistern.

»Zumeist ruhte sie in diesem Sessel,« rief Albine. »Am Rückenpolster kann ich's riechen.«

Und sie ließ sich selbst in den Sessel gleiten und gebot Sergius niederzuknien und ihr die Hand zu küssen.

»Weißt du noch damals, wie ich dich empfing mit den Worten: Guten Tag, mein teurer Gebieter ... Sicher blieb es aber nicht nur bei Worten! War die Türe ins Schloß gefallen, küßte er ihr die Hände ... Da hast du meine Hände. Sie sind dein.«

Dergestalt versuchten sie ihre alten Spiele wieder aufleben zu lassen, um das Paradeis zu vergessen, dessen Gelächter lauter zu ihnen drang, um die Malereien nicht mehr sehen zu müssen, dem träumerischen Duft des Alkovens nicht zu verfallen. Albine lehnte sich im Sessel zurück und zierte sich; sie mußte lachen über des knienden Sergius törichtes Gesicht.

»Du Tölpel, so umarme mich doch, sag' mir nette Dinge, wenn du schon mein Liebhaber sein willst ... Du scheinst nicht zu wissen wie?«

Als er sie aber leidenschaftlich an sich preßte, setzte sie sich zur Wehr und entzog sich ihm voller Entrüstung.

»Nein, laß mich, ich will nicht! ... Dies Zimmer bringt einen um.«

Von diesem Tag an flößte ihnen das Zimmer die gleiche Angst ein wie der Garten. Ihre letzte Zufluchtsstätte war ihnen genommen. Es war ihnen unmöglich, dort zusammen zu sein, ohne sich scheu gegenseitig zu beobachten.

Albine betrat das Zimmer fast nicht mehr; sie blieb auf der Schwelle stehen, ließ die Türe weit offen hinter sich. Wie um schnell flüchten zu können. Sergius verbrachte seine Tage allein in schmerzlicher Aufregung. Er fühlte sich noch beengter, schlief auf dem Sofa, suchte verzweifelt dem Seufzen des Gartens, dem Duft der alten Möbel zu entgehen. Die schamlosen Bilder verursachten ihm wirre Träume, von denen beim Erwachen nichts blieb als tiefe Unruhe. Er glaubte neuerdings krank zu sein. Sein Gesundheitszustand benötigte ein Letztes, um sich vollkommen zu gestalten, eine letzte höchste Erfüllung, ein gänzliches Befriedigtwerden, das er nirgends zu finden wußte. So vergingen ihm die Tage in Schweigen, seine Augen waren tief umschattet, und er raffte sich nur leise durchschauert zusammen, wenn Albine kam, um nach ihm zu sehen. Ernsten Blickes standen sie sich gegenüber und sagten sich sanfte Worte, die sie zur Verzweiflung brachten. Albines Augen waren noch eingesunkener als Sergius' Augen, und stummes Bitten sprach aus ihnen.

Nach Verlauf einer Woche dann verweilte Albine nur noch wenige Minuten; sie schien ihn zu meiden. Voller Besorgnis kam sie, blieb stehen und konnte nicht schnell genug wieder aus dem Zimmer kommen. Stellte er sie zur Rede und warf ihr vor, sie habe ihn nicht mehr lieb, drehte sie das Gesicht zur Seite, um nicht antworten zu müssen. Nie wollte sie ihm erzählen, wie sie sich in den fern von ihm verbrachten Morgenstunden beschäftigte. Verlegen schüttelte sie den Kopf und sagte, sie sei sehr faul. Wollte er sich nicht damit begnügen, war sie mit einem einzigen Satz aus dem Zimmer und rief ihm abends nur durch die Türe gute Nacht zu. Trotzdem bemerkte er, daß sie viel weinte. Er konnte in ihren Zügen ein immer wieder betrogenes Hoffen lesen, ständiges Auf und Nieder eines nie gestillten Begehrens. An manchen Tagen war sie zu Tode betrübt, Mutlosigkeit malte sich auf ihrem Gesicht; ihr Gang war stockend, als vermöchte sie nicht länger Lebensfreude zu erhoffen. Am anderen Tag hielt sie mit Mühe ihr Lachen zurück, ihr Antlitz war überglänzt von einem sieghaften Gedanken, dem sie noch nicht Worte geben wollte, kaum konnte sie stillstehen, kaum ruhig sitzen, im Drang sich eine letzte Gewißheit zu verschaffen. Am nächsten Tag fiel sie ihrer Trübseligkeit wieder anheim, um am übernächsten Tag in neuer Hoffnung aufzuleben. Nicht mehr zu verbergen aber vermochte sie bald eine grenzenlose Müdigkeit, eine Ermattung, die ihr die Glieder lähmte. Sogar in vertraulicher Stunde konnte sie sich nicht bemeistern und entschlief mit offenen Augen.

Sergius stellte ihr keine Fragen mehr, weil ihm klar wurde, daß sie keine Antwort geben wollte. Trat sie jetzt bei ihm ein, sah er sie voller Besorgnis an, fürchtete, daß sie sich eines Abends nicht mehr würde bis zu ihm hinschleppen können. Was denn ermüdete sie so? Welch allstündlicher Kampf beglückte sie, stürzte sie in Verzweiflung? Eines Morgens ließ ihn ein leichter Schritt, den er unter seinem Fenster vernahm, erzittern. Ein Reh konnte das doch nicht sein? Zu genau kannte er diesen tanzenden Schritt, der das Gras nicht versehrte. Albine durchstreifte ohne ihn das Paradeis. Aus dem Paradeis also brachte sie Enttäuschung und Hoffnung mit, das Auf und Ab der Gefühle, die sie verzehrende Ermattung. Es war ihm klar, was sie suchte. Allein, in Blättertiefen, im schweigend stummen Eigensinn einer Frau, die sich geschworen hat, zu finden. Von nun an belauschte er ihren Schritt; er wagte es nicht, den Vorhang zu heben und ihren Weg durch die Gebüsche zu verfolgen. Aber es verschaffte ihm eine eigenartige, fast schmerzliche Erregung, festzustellen, ob sie sich nach rechts oder links wendete, ob sie in den Blumengarten hinabstiege und wie weit sie ihre Gänge ausdehnte. Inmitten der Geräusche des Gartens, im Rauschen der Bäume, im Rieseln der Wasser, dem unaufhörlichen Singen der Vögel unterschied er das leise Geräusch ihrer Schritte so deutlich, daß er heraushörte, ob sie auf dem Kies der Bäche, der nadelbestreuten Walderde oder auf nacktem Felsgestein dahinschritt. Es gelang ihm sogar herauszuhören bei ihrer Rückkehr, ob sie freudig oder traurig gestimmt sei. Wenn er sie die Treppe heraufkommen hörte, ging er vom Fenster fort, und er gestand ihr mit keiner Silbe, daß er sie in Gedanken überallhin begleitet hatte. Sie aber ahnte wohl sein Mitwissen, denn von nun an gab sie ihm durch einen Blick Rechenschaft von ihrem Bemühen.

»Bleib, geh nicht mehr aus,« bat er sie eines Morgens mit gefalteten Händen, als er sah, daß sie vom vorigen Tag noch ermüdet war. »Du machst mir großen Kummer.« Argerlich lief sie fort. Der ganz von Albinens Schritten durchklungene Garten verschärfte seine Qual. Das leise Geräusch ihrer Absätze war eine rufende Stimme mehr, eine gebieterisch rufende Stimme, die lauter und lauter in ihm hallte. Er hielt sich die Ohren zu, wollte nichts hören, doch tönte der ferne Schritt wieder, im Klopfen seines Herzens. Kam sie dann am Abend zurück, brachte sie den ganzen Garten mit, Erinnerungen an ihre gemeinsamen Wege, das langsame Erwachen ihrer Zärtlichkeit inmitten der kupplerischen Natur. Sie schien gewachsen, ernster, wie gereift durch ihre einsamen Wanderungen. Nichts mehr war an ihr von spielerischer Kindlichkeit; sah er sie an, mußte er die Zähne zusammenbeißen, so begehrenswert stand sie vor ihm.

Eines Tages gegen Mittag hörte Sergius Albine in vollem Lauf zurückkommen. Er hatte sich geschworen, nicht mehr zu lauschen, als sie fortging. Für gewöhnlich kam sie erst spät zurück. Ihr wilder Lauf erstaunte ihn, der sich geradeaus, achtlos der Wege, Bahn zu brechen schien. Unter den Fenstern hörte er sie lachen. Als sie die Treppe erstieg, konnte er ihr lautes Atmen deutlich vernehmen, so daß es ihm war, als spüre er ihren heißen Atem im Gesicht. Sie riß die Türe weit auf und rief:

»Gefunden!«

Sie warf sich auf einen Stuhl und wiederholte leise mit erstickter Stimme:

»Gefunden! Gefunden!«

Aber Sergius legte ihr die Hand auf den Mund, stotterte außer sich:

»Sag' mir nichts, ich bitte dich, schweig', ich bitte dich. Ich will nichts wissen. Ich müßte sterben, wenn du auch nur ein Wort sagtest.«

Da schwieg sie mit heißen Augen, preßte die Lippen aufeinander, damit die Worte nicht gegen ihren Willen heraussprängen, und blieb bis zum Abend im Zimmer, suchte Sergius' Blick, vertraute ihm etwas von ihrem Erlebnis an, wenn sie ihn festzuhalten vermochte. Ein Leuchten lag über ihrem Gesicht. Sie duftete so gut, war so lebendurchströmt, daß er sie einatmete, daß er sie in sich aufnahm durch Augen und Ohren. Mit allen Sinnen trank er sie. Und wie ein Verzweifelnder wehrte er sich gegen diese langsame Unterjochung seines Wesens.

Am nächsten Tag, als sie heruntergekommen war, hielt sie sich ebenso in seinem Zimmer.

»Du gehst nicht aus?« fragte er; er fühlte, daß er erliegen müsse, wenn sie bliebe.

Sie ginge nicht mehr aus, antwortete sie. In dem Maße, wie sich ihre Spannung löste, fühlte er sie erstarken und siegessicherer werden. Bald würde sie nur mit dem kleinen Finger zu winken brauchen, und er würde ihr folgen zu jenem grünen Lager, von dessen Zauber ihr Schweigen so beredt erzählte.

An diesem Tag sprach sie noch nicht, sie begnügte sich damit, ihn auf ein Kissen zu ihren Füßen niederzuziehen. Erst am folgenden Tag sagte sie wie von ungefähr:

»Warum schließt du dich hier ein? Unter den Bäumen ist es so angenehm!« In flehender Bitte streckte er die Arme aus. Sie aber lachte.

»Nein, nein, wenn du nicht ausgehen willst, bleiben wir eben da ... Dieses Zimmer hat einen so seltsamen Duft! Im Garten wäre uns wohler, freier, gesicherter wären wir. Du tust unrecht, wenn du dem Garten zürnst.«

Er lag ihr wieder zu Füßen, stumm, mit gesenktem Blick. Es zuckte in seinem Gesicht.

»Wir gehen nicht, fing sie wieder an, sei nicht bös. Aber ist dir denn das Grün des Gartens nicht lieber als diese Bilder? Erinnerst du dich noch an alles, was wir zusammen sahen? Diese Bilder stimmen uns traurig. Sie stören uns, sehen uns immer zu.«

Und als er sich fester und fester an sie schmiegte, wand sie einen Arm um seinen Hals, bog seinen Kopf rückwärts auf ihre Knie; sie dämpfte die Stimme und flüsterte:

»Oh, ich weiß, wo es uns wohl wäre. Nichts störte uns dort. In der frischen Luft verginge dein Fieber.«

Sie fühlte, daß er zusammenschauerte und schwieg. Sie fürchtete, ein zu lebhaftes Wort könnte neue Ängste in ihm wecken. Ganz langsam müßte sie ihn besiegen, einzig durch die sanfte Bläue des sein Antlitz überkosenden Blickes. Er hatte die Augen aufgeschlagen und schien beruhigt sich ihr auszuliefern.

»Ach, wenn du wüßtest!« hauchte sie ihm leise ins Ohr.

Als sie sah, daß sein Lächeln nicht verging, wurde sie mutiger.

»Es ist nicht wahr, daß es verboten ist,« flüsterte sie, »du bist ein Mann und darfst dich vor nichts fürchten; wenn wir dort hingehen, und wenn mir Gefahr droht, du würdest mich doch verteidigen, nicht wahr? Du würdest mich aufnehmen und forttragen? Wenn ich bei dir bin, bin ich ganz ruhig ... Sieh doch, was du für starke Arme hast; wie kann man sich denn fürchten, wenn man stark ist wie du!«

Lange strich sie ihm mit einer Hand über das Haar, über Nacken und Schultern.

»Nein, es ist nicht verboten,« begann sie wieder. »Wer das glaubt, ist dumm. Wenn Leute das früher verbreitet haben, wußten sie wohl, warum sie im holdesten Winkel des Gartens nicht gestört sein wollten ... Sage dir das eine: vom Augenblick an, wo du auf jenem Rasenteppich ruhst, wirst du vollkommen glücklich sein. Erst dann erkennen wir alles, beherrschen wir alles ... Folge mir, komm, laß uns gehen.«

Er schüttelte den Kopf, aber ohne böse zu werden, und so, als mache ihm dieser Unsinn Freude. Dann, nach einem Schweigen, betrübt über ihr Schmollen und begierig, weiter von ihr liebkost zu werden, tat er endlich die Lippen auf und fragte:

»Wo ist es?«

Zuerst wollte sie keine Antwort geben. Ihr Blick schien in der Ferne zu suchen. »Da drüben ist's,« murmelte sie. »Beschreiben kann ich's nicht. Man muß die große Allee durchschreiten, sich dann nach links wenden und dann nochmals nach links. Wohl zwanzigmal sind wir dicht vorübergegangen ... Du würdest lange vergeblich suchen, wenn ich dir die Hand nicht reichen und dich führen wollte.

Ich finde gleich hin, wenngleich es mir nicht möglich ist, den Weg zu beschreiben.«

»Und wie hast du hingefunden?«

»Ich weiß nicht ... An jenem Morgen war es, als schoben die Pflanzen mich alle nach jener Richtung. Die langen Zweige schlugen hinter mir zusammen, die Rasen senkten sich sanft, die Wege boten sich mir von selbst. Und mir scheint, auch die Tiere nahmen Anteil, denn ich erblickte einen Hirsch, der vor mir hersprang, so, als wollte er mich auffordern, ihm zu folgen, auch stob eine Finkenschar von Baum zu Baum, um mich durch leises Gezwitscher zu warnen, wenn ich irreging.«

»Ist es sehr schön dort?«

Wieder gab sie keine Antwort ... »So tief bezaubert war ich, daß mir nichts anderes bewußt wurde als unnennbare Freude, die aus den Zweigen sank, im Gras ruhte. Und so lief ich zurück, um dich zu holen, um nicht ohne dich das Glück zu genießen, in diesen Schatten auszuruhen.«

Sie umschlang seinen Hals mit ihren Armen und sprach ganz aus der Nähe auf ihn ein, fast Mund an Mund.

»Komm, folge mir,« stammelte sie. »Bedenke, daß ich untröstlich wäre, kämest du nicht... Seit sehr lange hege ich dies Verlangen, es wuchs von Tag zu Tag, und jetzt peinigt es mich. Du kannst doch nicht wollen, daß ich leide? ... Und müßtest du auch sterben, brächte dieser Baum uns auch beide zu Tode, würdest du dich besinnen, würdest du das leiseste Bedauern spüren? Wir würden am Fuß des Baumes hinsinken. Aneinandergeschmiegt entschlummerten wir dort. Wäre das nicht schön?«

»Ja,« stammelte er vor diesem wunschbebenden Aufwallen der Leidenschaft.

»Aber wir werden gar nicht sterben,« fuhr sie fort, und in ihrer Stimme jubelte sieghaftes Frauenlachen. »Wir werden leben, um uns lieben zu können. Ein Baum des Lebens ist's, dessen Schatten stärkend, gesundend, vervollkommnend wirkt. Du wirst sehen, wie leicht sich alles gestalten wird. Du kannst so eng von mir Besitz ergreifen, wie du es dir erträumtest, so daß dein Körper mich ganz in dich aufnimmt. Himmlische Lust wird sich in uns ergießen, willst du?«

Er erbleichte, seine Augenlider bebten, als ob zu große Helligkeit ihn bedrängte.

»Willst du, willst du?« wiederholte sie, dringlicher und schon zum Gehen gewandt. Er stand auf und folgte ihr, schwankend zuerst, dann sie umschlingend; von ihr sich zu trennen vermochte er nicht. Wohin sie ging, ging auch er, hingegeben der strömenden Wärme aus ihrem Haar.

Und weil er ein weniges zurückblieb, wandte sie sich halb, ihr Antlitz leuchtete Liebe, aus Mund und Augen lockte Verführung, so mächtig, daß er ihr überallhin gefolgt wäre, wie ein getreuer Hund.


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